Rezension zu Sexualität (PDF-E-Book)
Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse Heft 182, 4/2015
Rezension von Elisabeth Grözinger
lka Quindeau, Vorsitzende der Sigmund Freud Stiftung e.V., lehrt
Klinische Psychologie in Frankfurt. Sie ist in eigener Praxis
tätig und Lehranalytikerin. Von der Psychologie der Jung’schen
Richtung ist sie nicht geprägt. Gerade das mag die Lektüre ihres
Buchs über die Relevanz von Sexualität für die menschliche
Entwicklung, für Sigmund Freud der zentrale Faktor seines
Konzepts, so aufschlussreich machen. Ich habe den Text jedenfalls
als notwendige Ergänzung aktueller »jungianisch« orientierter
Theorieangebote gelesen. Sorgfältig führt die Autorin in die
psychosexuelle Theorie von Freud und deren Weiterentwicklung, etwa
bei Jean Laplanche, ein und zeigt an Hand von Fallgeschichten sowie
über die Diskussion aktueller Sexualitätskonzepte aus der Schule
Freuds die Bedeutung der Sexualität für die Psychoanalyse und
Psychotherapie auf. Das Buch ist insofern lehrreich. Es zeugt aber
auch von hoher Sensibilität für die Verletzungen, die
therapeutische Haltungen dann auslösen, wenn sie – bewusst oder
unbewusst – an Normen von »gesunder« und »gestörter« Sexualität
orientiert sind. Quindeau bringt am Schluss ihres Textes klar ihr
Interesse an einer ermöglichenden therapeutischen Haltung zum
Ausdruck:
»Traditionelle Geschlechterkonzepte und geschlechtsspezifische
Erwartungen schränken das sexuelle Erleben und die
Befriedigungsmöglichkeiten ein. Die psychoanalytische Theorie
bietet eine Möglichkeit, die dichotome Abgrenzung des Weiblichen
und Männlichen zu bearbeiten und die Identitätskonstruktionen
flexibler werden zu lassen, indem männliche und weibliche Anteile
nebeneinander angesiedelt und integriert werden.« (S. 134f.)
Das Zitat zeigt, dass Quindeaus Buch einen wichtigen
psychoanalytischen Beitrag für gegenwärtige Diskussionen um
Identität und Gender darstellt. Die Autorin macht im ersten
Kapitel (»Freuds Drei Abhandlungen und die Triebtheorie«) deutlich,
dass schon bei Freud ein »erweitertes Verständnis von Sexualität«
leitend war; die Sexualität sei bei ihm »weder auf das
Erwachsenenalter noch auf Genitalität zu reduzieren, sondern
umfasse ein breites Spektrum an Lust- und
Befriedigungsmöglichkeiten, das heißt, sie besitze einen
sogenannten »polymorph-perversen« Charakter und beginne schon mit
den ersten Lebensäußerungen eines Kindes, also mit dem Saugen. Die
Bezeichnung »polymorph-pervers« mag abwertend klingen, aber Freud
benutzt den Terminus »pervers« nicht in wertender Absicht, sondern
allgemein – nicht nur bei der kindlichen Sexualität, sondern auch
bei den sogenannten Perversionen Erwachsener – zur Beschreibung von
Sexualformen, »die nicht dem Ziel der Fortpflanzung dienen« (S.
12). Quindeau weist allerdings auch darauf hin, dass dieses
unkonventionelle Sexualitätskonzept von Freud wegen der
Etablierung des Primats der Genitalität nur an nichtprominenten
Stellen aufrechterhalten wird (S. 17–20). Hauptgrund für Quindeaus
in diesem Punkt kritischen Blick auf Freud ist die
Instrumentalisierung der Sexualität, zu welcher der Fokus auf
Genitalität letztlich führt (S. 13).
Quindeau lässt ihrem Anfangskapitel die Kapitel »Die Entstehung
des Sexuellen«, »Umschriften: Entwicklung und Variationen des
Sexuellen«, »Sexuelle Orientierungen und Identitäten«,
»Sexualität und Psychotherapie« sowie »Sexualität als Seismograph
– Schlussbemerkung« folgen. Kritisch Laplanche rezipierend,
formuliert sie in ihrer Darstellung der Genese menschlicher
Sexualität nahezu nebenbei ihr eigenes anthropologisches
Konzept:
»Das Begehren des Erwachsenen richtet sich als Anspruch auf den
Säugling. Auf diesen Anspruch antwortet das Kind mit der
Entstehung seines eigenen, infantil-sexuellen Begehrens. Der
Konstitutionsprozess der Sexualität und darüber hinaus der
gesamten psychischen Struktur könnte in Abwandlung der berühmten
kartesianischen Wendung ›cogito ergo sum‹ pointiert formuliert
werden mit: ›desideratus ergo sum‹ – ›ich werde begehrt, also bin
ich‹.« (S. 28)
Informativ ist jedes Kapitel. Da für den therapeutischen Prozess
besonders das vorletzte relevant ist, sei hier nur Quindeaus Sicht
des Umgangs mit Sexualität im psychoanalytischen Prozess
skizziert. Die Autorin wendet sich gegen die Relativierung des
Themas in der Psychoanalyse, denn:
»Wie in den vergangenen Kapiteln beschrieben, erhalten die
lebensgeschichtlich erworbenen und in den Körper eingeschriebenen
Muster des Umgangs mit Lust und Befriedigung im sexuellen Erleben
eine Ausdrucksgestalt. Dies gilt für das sexuelle Verhalten und
insbesondere für die sexuellen Phantasien. Aus diesem Grund ist es
sehr wichtig, die konkreten sexuellen Aktivitäten zu
thematisieren, denn nur darüber lässt sich ein Zugang zu den
begleitenden Phantasien gewinnen [...] Die phantasmatischen Szenen
des sexuellen Erlebens verarbeiten Beziehungsmuster mit den
frühkindlichen Bezugspersonen. Da sich dieselben Muster in der
Übertragung niederschlagen, ergibt sich für die Patientinnen und
Patienten ein hoch bedeutsames Evidenzerleben.« (S. 103f.)
Quindeau reflektiert in diesem Kontext die Problematik des
Abstinenzgebots. Sie plädiert für den therapeutischen Raum als
»Übergangsraum«. Dazu erläutert sie:
»Die Verbindung von Übertragung und Gegenübertragung bildet
diesen Übergangsraum, in dem sinnlich-körperliche Erfahrungen
zwischen PatientIn und TherapeutIn gemacht werden, ohne dass es zu
konkreten körperlichen Berührungen kommt. Diesen Übergangsraum
zur Verfügung zu stellen und zu halten, stellt eine wichtige
therapeutische Aufgabe dar. Die Angst vor einer Abstinenzverletzung
kann diesen Raum ebenso zerstören wie eine Abstinenzverletzung
selbst. Vielmehr ermöglich der Übertragungsraum, verdrängte
sexuelle Wünsche zuzulassen, zu spüren und zu thematisieren, ohne
sie umsetzen zu müssen.« (S. 117)
Wo Ilka Quindeaus Abhandlung zur Sexualität in
tiefenpsychologischen Ausbildungen und Praxen rezipiert wird, wird
die Arbeit sicher noch herausfordernder; führt aber – so meine
Hoffnung – zu mehr Bewusstheit und lebensfreundlichem Handeln.