Rezension zu Sexualität und Familie (PDF-E-Book)
querelles-net
Rezension von Marie Springborn
Sexuelle Bildung in der pädagogischen Praxis
Abstract: Im ersten Band der Reihe »Angewandte Sexualwissenschaft«
führt Torsten Linke in theoretische Grundlagen und Termini der
sexuellen Bildung in der Sozialen Arbeit ein, analysiert Ergebnisse
der Studie »PARTNER 4 - Jugendsexualität 2013« und liefert Ansätze
für die praktische Arbeit im Bereich der sexuellen Bildung und
Beratung. Der analytische Fokus liegt dabei auf der
Sozialisationsinstanz Familie, die in der psychosexuellen
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen westlicher Gesellschaften,
bei zunehmender Digitalisierung und ausgedehnter Postadoleszenz,
eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Sexualkultur einnimmt
und in der, aus Sicht des Autors, unterschiedliche Wissenszugänge
sowie Einstellungen auf Grund von Geschlecht(-erverhältnissen),
sozioökonomischem Status und Migrationserfahrungen vorhanden
seien.
Im ersten Band der interdisziplinären Reihe »Angewandte
Sexualwissenschaft« wird der Fokus auf die pädagogische Praxis der
sexuellen Bildung und Beratung gerichtet.
Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge Torsten Linke lehrt mit dem
Forschungsschwerpunkt »Sexuelle Bildung in Kinder- und Jugendhilfe«
an der Hochschule Merseburg. Diese ist auch Mitherausgeberin des
Bandes sowie der darin behandelten Studie.
Der einleitenden Verortung der Begriffe Sexualkultur, Sozialisation
und Familie sowie weiterer Sozialisationsinstanzen in den ersten
zwei Kapiteln, die auf theoretische und empirische Zugänge
zurückgreifen, folgt eine Skizze der sexuellen Entwicklung
Heranwachsender im Kontext der Familie. Daran schließt sich eine
Analyse der empirischen Untersuchung PARTNER 4 ─ Jugendsexualität
2013 an ─ eine historische Vergleichsstudie unter der Leitung
Konrad Wellers, in der ostdeutsche Jugendliche zwischen 15 und 19
Jahren zu den Themen Partnerschaft und Sexualität befragt wurden.
Sowohl Veränderungen sexuellen Erlebens im Vergleich zu den Studien
PARTNER III (1990), II (1980) und I (1972) als auch
Gewalterfahrungen und das Nutzen neuer Medien sowie Pornographie
stehen im Fokus der Untersuchung (vgl. Weller 2013, S. 1). Die
Absicht Linkes, der sich ebenfalls in der PARTNER-Studie engagierte
(vgl. Weller 2013, S. 11), auf Basis dieser Studie Zielgruppen für
den Bereich der sexuellen Bildung herauszustellen, schließt im
letzten Kapitel mit einem inhaltlichen Blick auf die Praxis der
Erziehungs- und Familienberatung.
Sexualkultur, Sozialisation und die sexuelle Entwicklung
Den Auftrag der Sozialen Arbeit, Menschen ein autonomes Leben zu
ermöglichen, weitet der Autor einerseits auf die sexuelle Autonomie
und andererseits auf den Bereich der Beratung aus. Er verdeutlicht
den hohen Stellenwert der Familie sowie anderer
Sozialisationsinstanzen, vor allem der Schule, in der
psychosexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie als
Zielgruppe für sexuelle Bildung (vgl. S. 9). Die Sexualkultur
beinhalte Praktiken, Haltungen und Normen einer Gesellschaft, die
fundamental in der Familie vermittelt würden (vgl. S. 13 f.).
Anstatt statische und dichotome Konzepte von Kultur zu
reproduzieren, legt Linke jener ein dynamisches Verständnis
zugrunde, in welchem Individuen potentiell als aktiv handelnd
innerhalb dieser betrachtet werden. Der Sozialen Arbeit und der
Sexualpädagogik komme daher eine Orientierungsfunktion zu, um
Heranwachsenden nicht nur ein autonomes Zurechtfinden zwischen
Möglichkeiten, Wünschen und Grenzen zu ermöglichen, sondern
ebenfalls zur produktiven Mitgestaltung zu befähigen (vgl. S. 13).
Sexualität als gesellschaftlich wandelbar und
sozialisationsimmanent müsse Teil der Aus- sowie Weiterbildung
pädagogischer Fachkräfte sein und dürfe das familiäre Umfeld nicht
ausklammern (vgl. S. 9 f.). Damit widmet sich der Autor einem
wichtigen Thema jüngster bildungspolitischer Diskurse. Prinzipiell
legt Linke der Definition von Sexualkultur eine Sichtweise
zugrunde, die die »Behinderung und Verhinderung des Sexuellen« (S.
14) streift, ohne dass jedoch ihre Relevanz im Kontext
struktureller Diskriminierung, z. B. von lesbischen, schwulen,
bisexuellen, trans*, inter* und queeren Jugendlichen, und für
Maßnahmen, wie der Akzeptanz sexueller Vielfalt, explizit verortet
wird.
Die Sozialisation als interaktiver Prozess in einer Gesellschaft,
der zur Persönlichkeitsentwicklung sowie zur Aneignung von Regeln,
Normen und Werten, auch in Bezug auf das gelebte Geschlecht und die
Sexualität, führe, wird am Beispiel der männlichen Entwicklung im
zweiten Kapitel spezifischer beschrieben (vgl. S. 17−23). Die Frage
des Autors »Gibt es eigentlich noch eine geschlechtsspezifische
Sozialisation?« (S. 19) ist rhetorisch zu verstehen, denn
Vorstellungen von Geschlecht, so auch Linke, sind binär,
hierarchisch, kurz: heteronormativ. Trotz allem wirken die
anschließenden Ausführungen sprachlich zum Teil erneut
essentialisierend: »Für Jungen, die späteren Männer, ist die Phase
der primären Sozialisation immer noch stark durch die Mütter und
meist durch Erzieherinnen geprägt.« (S. 20) Und: »Durch abwesende
Väter oder männliche Personen im Sozialisationsprozess fehlt den
Jungen eine reelle männliche Bezugsperson« (S. 22). Das führe im
Verlauf der Sozialisation zur Abwertung von Weiblichkeit.
Aggressive männliche Peer-Groups entsprächen einer kapitalistischen
Logik, die Leistung, Konkurrenz sowie Dominanz belohne und
männliche Gewalt reproduziere (vgl. S. 23). Diese These deutet
eindrücklich an, weshalb hegemoniale Konzepte von Geschlecht so
wirkmächtig sind. Dennoch kommt sie nicht umhin, statische Ideen zu
reproduzieren, die letztendlich Konzepte jenseits dieser Binarität
nicht mitdenken. Was kennzeichnet z. B. reelle Männlichkeit?
Zu bemerken ist der offene Familienbegriff, den der Autor
anschließend forciert und der dem historischen Wandel sowie der
Vielfalt von Familienformen in Deutschland Rechnung trägt. Linkes
Definition birgt als grundlegende Voraussetzung lediglich das
Teilen eines Haushalt sowie die Sorge für biologische, adoptierte
und/oder Pflegekinder (vgl. S. 23 f.). Die Familie als erste
Sozialisationsinstanz sei wichtigste Ansprechpartner_in in Bezug
auf Fragen zur Sexualität, gefolgt von der Schule, die ihren Fokus
auf die Themen Fortpflanzung und Verhütung lege, sowie von diversen
Medien, die häufig unbegleitet genutzt würden (vgl. S. 23−32). Als
weitere Anlaufstellen agierten Freund_innen, Partner_innen sowie
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die inhaltlich, so
Linke, neben der Prävention von Gewalt die Förderung
selbstbestimmter Sexualität stärker mitdenken könnten (vgl. S.
32−37).
Ausführlicher beschreibt der Autor im dritten Kapitel zum einen die
Entwicklung kindlicher Sexualität und zum anderen sexualisierte
Gewalterfahrungen, um die Bedeutung der Familie sowie
sozioökonomische Faktoren und Geschlechterverhältnisse in dieser
hervorzuheben (vgl. S. 51). Geschickt integriert Linke abschließend
die These der Familiarisierung von Jugendsexualität in
gesellschaftliche Entwicklungen des 20./21. Jahrhunderts, wie die
Aufhebung der Geschlechtertrennung, zunehmende Digitalisierung und
verlängerte Postadoleszenz. All diese korrelierten mit den
wirtschaftlichen Möglichkeiten der Familie (vgl. S. 58).
Mehr Zärtlichkeit und mehr Tabus − zur Studie und zum
Praxisausblick
Den Ausführungen der ersten Kapitel folgt die Analyse einer
sozialwissenschaftlich-jugendsexuologischen Untersuchung mit dem
Auftrag, mögliche Zielgruppen sexueller Bildung zu identifizieren.
In der in Sachsen-Anhalt und Sachsen durchgeführten Studie PARTNER
4 wurden zwischen 2012 und 2013 insgesamt 862 Heranwachsende an
etwa 40 allgemeinbildenden Berufsschulen befragt (vgl. Weller 2013,
S. 1). Weller vergleicht in dieser Untersuchung aktuelle
Forschungsergebnisse mit den vorangegangenen PARTNER-Studien,
bezieht jedoch auch andere Forschungsergebnisse ein, beispielsweise
die Jugendsexualitätsstudie, Studien der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung sowie der BRAVO (zu den Ausgangspunkten
vgl. Institut für Angewandte Sexualwissenschaften). Im vorliegenden
Band werden die Ergebnisse der Interviews im vierten Kapitel unter
den thematischen Schwerpunkten »Familiäre Herkunftsbedingungen«,
»Einstellungen zur Sexualität», »Sexuelles Verhalten«, »Wissen über
Sexualität und Mediennutzung« sowie »Sexuelle Belästigungen,
Übergriffe und sexualisierte Gewalt« beschrieben. Die Aussagen von
Schüler_innen im Berufsvorbereitenden Jahr sowie von Schüler_innen
mit sogenanntem »Migrationshintergrund« hebt Linke in der
Auswertung hervor, da hier statistisch gesehen Problemlagen wie
Konflikte, Krankheiten, Misshandlungen oder Missbrauch besonders
hoch seien (vgl. S. 67 f.). Der Begriff »Migrationshintergrund«
bezeichnet in der Untersuchung nur Befragte mit einer tatsächlichen
Migrationserfahrung (vgl. S. 67), was ihn als Fremdbezeichnung
nicht zwangsläufig weniger problematisch macht, da er komplexe
Identitäten, aber auch unterschiedliche Erfahrungen unmöglich
differenziert erfassen kann (vgl. u. a. Güven 2010).
Grundsätzlich sei die Zahl der Befragten gestiegen, die sich von
ihren Eltern liebevoll behandelt fühlen. Gleichzeitig sei eine
Zunahme der Tabuisierung von Nacktheit und ein Sinken der
Kommunikation über Sexualität innerhalb der Familie, vor allem bei
den hervorgehobenen Gruppen, zu bemerken (vgl. S. 75−78). Bei einer
generell gestiegenen Akzeptanz von Homosexualität bemerkt Linke
jedoch eine Korrelation zwischen diesbezüglicher Aufgeschlossenheit
und dem sozio-ökonomischen Status der Befragten. Jugendliche im
Berufsvorbereitungsjahr, die häufiger aus Familien ohne
Bildungsabschluss kommen (vgl. S. 73), können sich nur zu 47 %
vorstellen, mit Schwulen und Lesben befreundet zu sein.
Demgegenüber stehen Jugendliche mit »Migrationshintergrund«, die im
statistischen Durchschnitt höhere Bildungsabschlüsse aufweisen und
sich zu 79 % eine Freundschaft vorstellen können (vgl. S. 80).
Unklar bleiben die Erfahrungswelten queerer, trans* oder inter*
Schüler_innen, da die Studie diese konzeptionell nicht erfasst zu
haben scheint. Auffällig sei des Weiteren die leicht
unterdurchschnittliche Akzeptanz von Verhütungsmitteln und die hohe
Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen der Jugendlichen im
Berufsvorbereitungsjahr (vgl. S.81 f.). Linke bemerkt: »Im
Gegensatz zu den Jugendlichen mit Migrationshintergrund scheinen
sie sich nicht von der familiären Moral und ihren Werten und Normen
zu emanzipieren.« (S. 91). Die Werte und Normen der Eltern scheint
die Studie jedoch nicht zu berücksichtigen, weshalb die
gruppenspezifische Zuschreibung eines Emanzipationsbedarfs hier
recht normativ erscheint.
Die abschließenden Praxishinweise, die »Eltern, Familien,
Fachkräfte und Institutionen« betreffen, zielen sowohl auf
fachliche Kompetenzen als auch auf einen präventiven Effekt ab. Sie
umfassen u. a. inhaltliche Aspekte, wie die Sensibilisierung und
Wissens- sowie Kompetenzvermittlung in Bezug auf Fragen der
Erziehung, des sozialen Handelns, der Sexualität und sexuellen
Vielfalt sowie der Medien (vgl. S. 96). Des Weiteren seien das
Schaffen eines positiven Sozialisationsumfeldes, der Ausbau von
Unterstützungsnetzwerken und der Abbau von Tabus Maßnahmen, bei
denen auch berücksichtigt werden müsste, dass sich
Beratungsangebote momentan strukturell noch hauptsächlich an weiße
deutsche Jugendliche richteten (vgl. S. 97).
Fazit
Linke führt in diesem knappen und eingängigen Werk in grundlegende
Begriffe der Sozialen Arbeit ein und wertet erstmals die Ergebnisse
der neuesten PARTNER-Studie aus, um mit inhaltlichen Empfehlungen
für die Praxis abzuschließen. Die theoretischen Ausführungen zu
Beginn werden kritisch kontextualisiert und immer wieder mit der
übersichtlichen Ergebnisauswertung der Studie verknüpft. Zusätzlich
präzisiert der Autor wissenschaftliche Termini in Fußnoten und
verweist durchgehend auf weiterführende Literatur. Komplexe
Sachverhalte, wie die Sexualkultur oder Sozialisation, sind in Form
von Schemata zusammengefasst. Somit eignet sich das Werk sehr gut
für Student_innen sozialer und pädagogischer Arbeitsfelder. Für
Fachkräfte, die in der Praxis tätig sind, eröffnet der Band
möglicherweise eine neue Sicht auf den Bereich der sexuellen
Bildung sowie ein zeitgemäßes Verständnis von Familie. Aktuelle
Tendenzen und Fragestellungen in der Entwicklung und dem Erfahren
jugendlicher Sexualität, wobei Formen jenseits heterosexuellen
Begehrens konzeptionell leider ausgeklammert sind, werden in der
Studienauswertung ausführlich behandelt. Auch wenn der Praxisbezug
deutlich hervorgehoben wird, widmet Linke sich diesem lediglich im
letzten Kapitel, welches als programmatische Anregung, nicht als
methodischer Leitfaden verstanden werden sollte.
Literatur
Institut für Angewandte Sexualwissenschaften. PARTNER IV.
Sexualität und Partnerschaft 16-18jähriger Jugendlicher.
http://ifas-home.de/forschung/projekte/partner4/ (Download:
30.08.15)
Güven, Gülçimen. (2010): Bezeichnungsproblematik in Deutschland.
MiGAZIN.
http://www.migazin.de/2010/01/06/bezeichnungsproblematik-in-deutschland/
(Download: 03.10.15)
Weller, Konrad. (2013): Studie PARTNER 4. Sexualität und
Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich.
Handout zum Symposium Jugendsexualität 2013. Merseburg. Institut
für Angewandte Sexualwissenschaft Hochschule Merseburg.
http://www.ifas-home.de/downloads/PARTNER4_Handout_06%2006.pdf
(Download: 30.08.15)
www.querelles-net.de