Rezension zu Intergeschlechtlichkeit (PDF-E-Book)
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Rezension von Monika Barz
Manuela Tillmanns: Intergeschlechtlichkeit
Thema
Intergeschlechtliche Menschen sind nicht eindeutig dem männlichen
oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen. Sie sind häufig
gesellschaftlichen Stigmatisierungen und
medizinisch-psychologischen Pathologisierungen ausgesetzt. Im
vorliegenden Buch werden anhand von Studien,
Selbsthilfeorganisationen und Expert_innen-Interviews konkrete
Impulse und Handlungsempfehlungen für eine Beratungspraxis
dargestellt. Es werden neue methodische Zugänge und Perspektiven
beschrieben, die sich an den Bedürfnissen intergeschlechtlicher
Menschen orientieren.
Autor_in
Manuela Tillmanns ist Sonderpädagog_in und Sexualwissenschaftler_in
(MA) und arbeitet als Lehrbeauftragte_r an der Universität zu Köln.
Tillmann war Sozialarbeiter_in in einem Kölner Straßenstrichprojekt
und wissenschaftiche_r Mitarbeiter_in an der Universität zu Köln.
Forschungsschwerpunkte sind: Intergeschlechtlichkeit, sexualisierte
Gewalt, sexuelle Bildung, Sexarbeit, Pornographie und hegemoniale
Männlichkeiten.
Entstehungshintergrund
Der Band ist erschienen in der Reihe »Angewandte
Sexualwissenschaften« des Instituts für Angewandte
Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg. Ziel dieser Reihe
ist der interdisziplinär angelegte Dialog und die Verbindung von
Theorie und Praxis. Der Reihe liegt ein positives Verständnis von
Sexualität zugrunde. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, wie ein
selbstbestimmter und wertschätzender Umgang mit Geschlecht und
Sexualität in der Gesellschaft gefördert werden kann.
Aufbau
In ihrem Eingangskapitel umreißt Tillmanns kurz den Forschungsstand
und die gesellschaftliche Debatte über Intergeschlechtlichkeit und
Intersexualität, um in der Folge vertieft den Beratungsbedarf zu
analysieren, Interviewergebnisse mit Expert_innen darzustellen und
Aspekte einer »gerechten« inter* Beratung zu entwickeln. Das Buch
endet mit konkreten Impulsen für die Umsetzungspraxis und einem
Ausblick auf erforderliche politische Schritte. Tillmanns betont
die Dringlichkeit die Bipolarität aufzubrechen und
pathologisierende Handhabungsversuche zu überwinden um die
Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt voranzutreiben.
Inhalt
Die Leser_innen erleben bereits im ersten Satz der Einleitung, dass
die Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit
selbstverständlich gewordene Sprachformen elementar verändern und
unsere Lesegewohnheiten herausfordern. In dem ersten Satz der
Einleitung wird unter anderem ein Gerichtsprozess »gegen den_die
Ärzt_in, der_die im Rahmen einer Blinddarmoperation (…)
Geschlechtsorgane entfernt hatte«, erwähnt. Sprache spiegelt die
Wirklichkeit wider. Die Sichtbarmachung der Existenz
intergeschlechtlicher Menschen hat eine Veränderung der Sprache zur
Folge. Durch die konsequente Verwendung des Gender-Gaps in Form des
Unterstrichs ( _ ) »sollen explizit alle jene Identitäten
angesprochen und einbezogen werden, die aus dem System der
Zwei-Geschlechter-Ordnung exkludiert werden oder sich
selbstbestimmt nicht verortnen wollen« (9).
Tillmanns stellt die bislang einflussreichsten deutschsprachigen
Studien wie die Studie des Netzwerks DSD, die Hamburger
Intersex-Studie und die Erhebung des Deutschen Ethikrates vor,
analysiert ihre Ergebnisse und erörtert kritisch ihre Verfahren.
Ausgehend von deren Mängel stellt Tillmanns das Fehlen
wissenschaftlich repräsentativer Langzeitstudien fest, die einen
Ein- und Überblick zu den Lebenslagen intergeschlechtlicher
Menschen liefern. Auf diesem Hintergrund kommt für Tillmanns den
Peers und Selbsthilfeorganisationen eine wichtige Bedeutung zu, die
sich »zu einem wissenschaftlich ernst zu nehmenden Grundpfeiler im
Umgang mit Intergeschlechtlichkeit institutionalisiert« (39) haben.
Um den Nutzen von Selbsthilfe und deren individueller Bedeutsamkeit
für die Beratung zu unterstreichen werden die Forderungen und
Haltungen vom »Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V.«, von
»Zweigeschlecht.org« und von dem »Verein intersexueller Menschen
Österreich« analysiert. »Sowohl die Stellungnahmen der
›Betroffenenverbände‹ als auch die zuvor in den Studien geäußerten
Problemlagen intergeschlechtlicher Personen deuten auf eine
Leerstelle im aktuellen Beratungsangebot hin« (54).
Diskussion
Tillmanns gelingt es in diesem Buch Impulse für die Beratung zu
setzen. Die Verbindung von wissenschaftlichen Studien mit
Erfahrungen der Selbsthilfeorganisationen und Expert_innen ihrer
eigenen Situation ermöglich eine fundierte Grundlage für
sozialpolitische Forderungen nach Veränderungen in der
Beratungslandschaft. Eine umfangreiche Literaturliste ermöglicht
Praktiker_innen und Wissenschaftler_innen Zugang zu
Grundlagentexten und bislang wenig bekannten Quellen, die hilfreich
sind für die politische oder wissenschaftliche Weiterarbeit im
Sinne der Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt.
Die Lesbarkeit des Buches wird nicht nur durch die konsequente
Anwendung des Gender-Gap herausgefordert, sondern auch durch die
teilweise penibel praktizierten Quellenquerverweise und langatmige
Zitationen, die dem Stil einer Examensarbeit zwar angemessen sind,
für die Veröffentlich eines Buches aber einer Überarbeitung wert
gewesen wären.
Insgesamt fehlt dem Band eine intensivere Bearbeitung der Fragen,
die sich daraus ergeben, dass die binäre Ordnung der Geschlechter
zudem eine patriarchale ist und für die Lebensrealität einer
intersexuellen Person innerhalb der Bipolarität konkrete
Konsequenzen hat, je nachdem ob sie als »Mann« oder »Frau«
wahrgenommen wird. Es fehlen vertiefende Verknüpfungen mit der
Frauen- und Patriarchatsforschung zur sexualisierten Gewalt und
Diskursen zu hegemonialen Männlichkeiten. Dies ist um so
bedauerlicher, da beides zu Tillmanns Forschungsschwerpunkten
zählt.
Fazit
Tillmanns ist es gelungen konkrete Impulse und
Handlungsempfehlungen für eine Beratungspraxis praxisnah und
wissenschaftlich fundiert darzustellen. Die dargestellten neuen
methodischen Zugänge und Perspektiven bieten die Grundlage für die
Entwicklung einer Beratungslandschaft, die sich an den Bedürfnissen
intergeschlechtlicher Menschen orientieren. Dieser Band wird dem
Ziel der interdisziplinär angelegten Reihe »Angewandte
Sexualwissenschaften« gerecht, einen Dialog zwischen Theorie und
Praxis zu fördern. Mit Neugier können weitere Bände dieser Reihe
erwartet werden, insbesondere im Hinblick auf die Bearbeitung
patriarchaler Zusammenhänge von Geschlecht, Pathologisierung und
Gewalt.
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