Rezension zu Die Borderlinestörung gesprächs- und erzählanalytisch betrachtet
Journal für Psychoanalyse, 35. Jahrgang, Nr. 56, 2015
Rezension von Hanspeter Mathys
L. Arboleda & V. Zschokke: Die Borderlinestörung gesprächs- und
erzählanalytisch betrachtet
In klinischen Fallbesprechungen fällt auf, dass bei PatientInnen
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) deutlich öfter
auf die sogenannte Gegenübertragung Bezug genommen wird als bei
anderen PatientInnen. Formulierungen wie «Die Patientin macht dies
und jenes mit mir … Sie bringt mich immer wieder dazu … Sie agiert,
spaltet, etc. …» gehören bereits bei jungen PsychiatriepflegerInnen
in Ausbildung zum Standardvokabular. Offenbar ist also das, was
diese PatientInnen tun, wichtiger als das, was sie sagen. Haben
Borderline-PatientInnen einem denn überhaupt etwas zu sagen? Hören
wir ihnen zu oder behandeln wir sie, weil sie uns behandeln?
Lina Arboleda und Vania Zschokke haben sich im Rahmen ihrer
Dissertationsschrift genau mit dieser Frage auseinandergesetzt: Wie
äußern sich Borderline-PatientInnen in therapeutischen Gesprächen?
Oder genauer: »Welche Charakteristika weist die Sprache von
PatientInnen mit einer BPS in ihrer narrativen und
interaktiv-konversationellen Funktion auf?« (S. 67). Im Rahmen
ihrer linguistisch-empirischen Studie haben sie 15 PatientInnen mit
der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgewählt und
deren Therapiesitzungen im Rahmen einer stationären Behandlung
videografiert. Das so entstandene Datenmaterial wurde anschließend
einer qualitativen Analyse unterzogen. Arboleda untersuchte die von
den PatientInnen mitgeteilten Erzählpassagen anhand der
Erzählanalyse JAKOB (nach Boothe), Zschokke setzte den Schwerpunkt
auf die Interaktion zwischen PatientIn und TherapeutIn anhand der
Gesprächsanalyse (nach Deppermann). Im Buch erscheinen drei
ausgewählte exemplarische Fallanalysen, die restlichen zwölf sind
online zugänglich.
Als Leserin wird man eingeladen, die beiden Forscherinnen bei der
Arbeit in ihrem sprachanalytischen Atelier zu erleben, was einem
(wie immer bei qualitativen Untersuchungen) einiges an Ausdauer
verlangt, man wird aber eben auch belohnt durch eine
Sensibilisierung für die feinen Details der Sprachgestaltung.
Besonders erhellend sind dann die Befunde, die durch den Vergleich
und die Integration beider Zugänge zustande kommen.
Die Autorinnen arbeiten aufgrund ihrer Analyse drei
unterschiedliche Typen von PatientInnen heraus, welche einerseits
durch sprachlich-interaktive, anderseits durch
beziehungs-respektive psychodynamische Aspekte charakterisiert
werden. Die Gruppe 1 zeichnet sich durch eine »prekäre
Verständigung« aus, was sich eindrücklich auf rein formaler Ebene
zeigt, beispielsweise in Gestalt von beschleunigtem Sprechtempo,
Wortauslassungen, häufigen Schnalzlauten und überhaupt einer
deutlich hörbaren motorischen Unruhe. Psychodynamisch imponiert die
Übergabe des eigenen brüchigen Redeangebots an das therapeutische
Gegenüber als Vollender. Dies ist besonders interessant, weil auf
sprachlich-interaktiver Ebene nachvollziehbar aufgezeigt werden
kann, wie Containment-Vorgänge interaktiv gestaltet werden. Die 2.
Gruppe wird mit dem Titel »Unaussprechliches« bezeichnet. Knappe
Ein-Wort-Äußerungen, viele Pausen, häufiges Lachen sowie ganz
allgemein eine Rhetorik des Rätselhaften charakterisieren den
Sprechstil dieser PatientInnengruppe. Psychodynamisch unterscheidet
sich diese Gruppe u. a. durch eine andere Art von
Abwehrmechanismen: Während bei Gruppe 1 Verleugnung, Spaltung und
Projektion vorherrschen, dominieren in dieser Gruppe 2
Verschiebung, Vermeidung und Identifikation. In der Gruppe 3
schließlich, die mit dem Stichwort »Mitteilungsversuch« umschrieben
wird, wechselt sich gehemmte Sprechweise mit flüssigen Passagen ab,
die Dialoggestaltung ist deutlich reibungsloser. Aus
beziehungsdynamischer Sicht besonders interessant ist, dass sich
die Stimmung gegen Ende der Stunde verändert, die PatientInnen zu
weinen beginnen, sich also im Gegensatz zu den ersten zwei Gruppen
emotional berühren lassen. Vermehrt tauchen in dieser Gruppe
Abwehrmechanismen wie Rationalisierung und Sublimierung auf.
Wer diese hier sehr verkürzt wiedergegebene Charakterisierung der
drei Gruppen liest, kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob damit
nicht auch Ansätze für eine mögliche strukturelle Diagnostik bereit
liegen. Die Autorinnen beantworten diese Frage unter anderem
mithilfe der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD)
und ordnen die drei Gruppen unterschiedlichen Strukturniveaus zu –
Gruppe 1: gering bis desintegriert, Gruppe 2: gering bis massig,
Gruppe 3: massig bis gut integriert (S. 270). Gerade die letzte
Aussage verblüfft insofern, als sich diese strukturdiagnostische
Einschätzung nicht so ganz reibungslos vereinbaren lässt mit der
Diagnose der BPS. Damit wird auch das Anliegen der Studie nochmals
verdeutlicht: Den beiden Autorinnen geht es in ihrer Studie darum,
eine Differenzierung innerhalb des breiten diagnostischen Spektrums
der BPS herauszuarbeiten und sie stellen ein Instrumentarium
bereit, wie diese aussehen könnte.