Rezension zu Die Beziehung zwischen Text und Leser

Germanisch-Romanische Monatsschrift, Band 65, Heft 2/2015

Rezension von Bernadette Grubner

Dominic Angeloch: Die Beziehung zwischen Text und Leser. Grundlagen und Methodik psychoanatytischen Lesens

Zwischen Literaturwissenschaft und Psychoanalyse spannen sich zahlreiche Verbindungslinien. Die Psychoanalyse hat eine eigene Tradition der Kunst- und Literaturbetrachtung, die sich ausgehend von Freuds kunsttheoretischen Schriften verzweigt, und die Literaturwissenschaft greift auf ganz verschiedene psychoanalytische Theoreme und Schulen in unterschiedlicher Weise zu. Dass die jeweiligen Autorlnnen in beiden Disziplinen zu Hause sind und nicht etwa die eine in den Dienst der anderen stellen, ist allerdings eher selten. So wird zwar in der Literaturwissenschaft gelegentlich psychoanalytisches Vokabular benutzt doch fehlt bis heute eine Auseinandersetzung mit der methodischen Grundlage solcher terminologischer Seitensprünge. Noch seltener findet man Überlegungen dazu, ob es zwischen den beiden Bereichen Überschneidungen gibt, die eine Verbindung rechtfertigen könnten.

Dominic Angelochs Studie sucht diese Lücke zu schließen. Mehr als die Hälfte des Buches ist der Beschäftigung mit der Frage gewidmet, wie das psychoanalytische Verfahren – verstanden als spezifische Interaktionsweise von Analytikerln und Analysandln – auf die Lektüre von Literatur übertragen werden kann. Die Gemeinsamkeit beider Disziplinen macht Angeloch im hermeneutischen Vorgehen aus. Hier wie dort handle es sich um eine (Re)Konstruktion von Sinnzusammenhängen, die stets neu zu überprüfende Deutungen hervorbringt [ 1 ]. Aufseiten der Literaturwissenschaft bezieht er sich auf die Rezeptionsästhetik, genauer: auf Wolfgang Isers Auffassung vom literarischen Werk als Aktualisierung von im Text angelegten Sinnpotenzialen im Prozess der Lektüre. Für die Psychoanalyse greift Angeloch auf Alfred Lorenzers Verständnis der Psychoanalyse als kritisch-hermeneutischem Verfahren zurück.

Wie ist nun die behauptete Übertragbarkeit der psychoanalytischen Verfahrensweise auf die Lektüre genau zu begreifen? Angeloch erläutert, dass sowohl im psychoanalytischen Gespräch als auch in der Lektüre in Analytikerln bzw. Leserln Phantasien und Gefühle ausgelöst würden, die ihrerseits zum Gegenstand der Deutung werden. In der Psychoanalyse bezeichnet man diese Dynamik als »Gegenübertragung«. Der Terminus wurde zwar bereits von Freud benutzt, setzte sich aber erst eine Analytikerlnnengeneration später im Zuge eines Paradigmenwechsels durch, der den Fokus von der Traumdeutung auf die Beziehung zwischen Analytikerln und Analysandln lenkte. [ 2 ] Gegenstand der Psychoanalyse ist seitdem die sich zwischen den Beteiligten entspinnende Beziehungsszenerie. Analog kann das literarische Werk als das aufgefasst werden, was im Verhältnis des/der Leserln zum Text entsteht. Gegenstand der psychoanalytischen Literaturbetrachtung wäre demnach die Beziehung zwischen Text und Leserln. Um Aufschluss über diese Beziehungen zu erhalten, sollen Analytikerln bzw. Leserln die Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühle, insbesondere auf irritierende und starke bzw. ungewöhnliche affektive Reaktionen lenken. Indem diese auf eigene Anteile befragt werden, lassen sich Rückschlüsse über die auslösenden Elemente gewinnen: die Psyche des/der Analysandenln bzw. die Textstruktur. An dieser Stelle kann eine Brücke zu Isers Leerstellentheorie geschlagen werden: Auch hier werden Brüche und Aussparung durch Imaginationen gefüllt und im Wechselspiel zwischen Text und Leserln für eine prozessuale Generierung von Sinn produktiv. [ 3 ]
Wie ein solcher Lektüreprozess verlaufen und welche Ergebnisse er zeitigen kann, zeigt Angeloch im zweiten, der »Éducation« gewidmeten Teil seiner Monographie. Den
Ausgangspunkt der Lektüre bildet die Szene, in der Frédéric Moreau ein unbegründetes Gefühl der Angst befällt, als er den Vornamen der angebeteten Madame Arnoux ausspricht – eine aufällige Leerstelle im Text, die starke, aber unerklärliche Affekte auf Figurenebene thematisiert und auf Leserlnnenseite Befremdlichkeit, Irritationen und Unbehagen auslösen kann, jedenfalls aber erklärungsbedürftig bleibt. Davon ausgehend untersucht Angeloch die im Roman gestalteten »Interaktionskreise«, also die Beziehungen zwischen verschiedenen Figurengruppen, und gelangt zu dem Ergebnis, dass alle »Frauengeschichten« des Helden auf Madame Arnoux zurück verweisen. Diese stelle ihrerseits eine idealisiert-entrückte Mutterfigur dar. Während psychologisch oder psychoanalytisch informierte Interpretlnnen in der Liebe Frédérics zu Madame Arnoux bislang eine ödipale Bindung erkannten, meint Angeloch, dass es sich um einen präödipalen Bindungstyp handle, der auf die Symbiose mit der Mutter abzielt, nicht aber auf Beseitigung des Vaters und phallische Inbesitznahme der Mutter. Unbehagen verursachende Leerstellen des Textes würden sich als latente Thematisierung der Angst vor der inzestuösen Verschmelzung lesen lassen, als eine Art beständig lauernde regressive Versuchung, die Figuren und Leserln gleichermaßen abwehren müssen.

Die vorliegende Untersuchung ist aber nicht allein inhaltsorientiert, sondern geht auch insofern über eine am Modell der Pathographie orientierte Tradition psychoanalytischen Lesens hinaus, als sie der literarischen Form einen zentralen Platz einräumt. In die psychoanalytische Interpretation der »Éducation« müssen auch ihre narrativen Verfahren einfließen.

Konkret handelt es sich dabei um die Einschränkung des Mitgeteilten auf die Figurenwahrnehmung (interne Fokalisierung, style indirect libre) bei gleichzeitger Aussparung eines expliziten Gefühlsausdrucks und deutlicher Motivierungen. Obwohl wir die beschriebene Welt meist durch Frédérics Augen sehen, erschließt sich uns seine Gefühlswelt in der Regel nur indirekt (über Landschaftsbeschreibungen, Metaphern, Syntax, ... ) und bleiben viele seiner Handlungen und Gefühle ohne explizite Begründung. Angeloch zeigt, dass die Form in dieser Weise zur Entstehung von irritierenden, Affekte auslösenden Leerstellen beiträgt. Und so sei auch Flauberts berühmter Satz über »tout le travail psychologique caché sous la forme« zu verstehen: nämlich im Sinne einer Reduktion von Gefühlsmotivierungen, wodurch die Affekte im Text unbenannt bleiben und in die Leserlnnenpsyche verlagert werden.

Angelochs Monographie ist ein sowohl kluges als auch gut lesbares Kompendium der gegenübertragungsanalytischen Literaturinterpretation. Speziell die griffïge Darstellung fä̈llt auf, die auftretende Fragen und eventuelle Probleme geschickt integriert und die im Nachvollzug der Konfliktlinien der »Éducation« sogar einige Spannung aufzubauen versteht – trotz relativ strenger Systematik im Aufbau. Neben einer die Flaubert-Forschung aufgreifenden und anreichernden Lektüre der »Éducation« wird en passant die Geschichte der Psychoanalyse in ihren themenrelevanten Aspekten mitgeliefert. Zu kritisieren wäre allenfalls ein etwas inflationärer Gebrauch populärer Flaubert-Zitate sowie der Umstand, dass nicht an jeder Stelle ganz deutlich wird, welche theoretischen Überlegungen bereits in der zitierten Literatur formuliert sind.

Obwohl das Buch im Psychosozial-Verlag publiziert wurde, in dem sonst primär psychologische und sozialwissenschaftliche Schriften erscheinen, ist seine Rezeption durch die Literaturwissenschaft unbedingt zu wünschen. Es schließt wenigstens teilweise eine Lücke, die im Zugriff der Philologien auf psychoanalytische Theorien im deutschen Sprachraum bis heute besteht.



[ 1 ] Es geht also weder darum, einen eindeutigen, von vornherein festgelegten Textsinn aufzudecken, noch darum, jede verbindliche Sinndimension abzustreiten. Angeloch greift hier eine Theorierichtung psychoanalytischer Literaturbetrachtung auf, die sich grundlegend von der Überblendung psychischer und sprachlicher Prozesse in der Lacan’schen Psychoanalyse unterscheidet. Dementsprechend wird anstelle des (post-) strukturalistischen Begriffs der Literaturanalyse ganz bewusst der hermeneutische Terminus der Interpretation benutzt.

[ 2 ]Der Begriff der ,»Gegenübertragung« ist seit Paula Heimanns 1950 gehaltenem Vortrag »On countertransference« in der psychoanalytischen Theorie und Praxis etabliert.

[ 3 ] Angeloch reflektiert freilich auch den Unterschied zwischen der psychoanalytischen Therapiesituation und der Lektüre, insbesondere in Hinblick auf die Überprüfbarkeit der so gewonnenen Deutungen (der/die Patientln kann befragt, der Text nur mehrfach gelesen werden).

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