Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
www.socialnet.de
Rezension von Sabine Kamp
Thema
Edith Jacobson war eine der wichtigsten Psychoanalytikerinnen des
20. Jahrhunderts. Sie studierte Medizin, arbeitete als
Kinderärztin, machte eine Ausbildung in Psychoanalyse. Nach der
Flucht vor den Nazis lebte und arbeitete sie ab 1938 in den USA, wo
sie 1978 starb.
Das Buch veröffentlicht erstmals ihre Gefängnisaufzeichnungen und
die seltsame Geschichte ihres Fundes und ordnet diese biografisch
ein.
Aufbau
Das Buch besteht aus drei Teilen:
Einem Bericht von Judith Kessler, wie diese Unterlagen unerkannt
bei ihr lagerten und sie endlich den Zugang fand. Sodann folgen
»Biografische Notizen Edith Jacobson« von Roland Kaufhold, einem
Experten in Sachen psychoanalytischer Emigrationsforschung.
Im zweiten Teil sind die Abschriften der Gefängnisaufzeichnungen
von Edith Jacobson abgedruckt, überwiegend sind es
Gedicht(-entwürf-)e und ein Aufsatz »Zur Technik der Analyse
Paranoider«.
Im dritten, letzten Teil sind diese Abschriften als Faksimile
nochmals zu sehen.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis rundet die Veröffentlichung
ab.
Inhalt
Im Vorwort bedankt sich Hermann Simon, Direktor der Stiftung »Neue
Synagoge Berlin-Centrum Judaicum«, für diesen Mosaikstein, der im
Original zur Verfügung gestellt wird, um Zeugnis über eine starke
Persönlichkeit abzugeben. »So entfaltet sich Geschichte und
ermöglicht Perspektiven und Erkenntnisse.«
Zu 1.
Seit 1988 befanden sich auf dem Dachboden der Herausgeberin, die
sich als Redakteurin mit jüdischer Gegenwartskultur sowie
Biografieforschung beschäftigt, Kartons aus dem Nachlass ihrer
Mutter, die sie 1995 zum ersten Mal durchschaut. Erst 2005 erkennt
sie bei einem Besuch der »Topografie des Terrors«-Ausstellung: mit
eben diesem Namen »Edith Jacobson«, war ein schwarzes Heft in den
Unterlagen beschriftet. Doch erst weitere 10 Jahre später im
Gespräch mit Roland Kaufhold erkennt sie die mögliche Bedeutung
dieses Heftes. Ihre Recherche zu Edith Jacobson beginnt.
Bis zu ihrer Verhaftung 1936 wohnte Edith Jacobson in der Emser
Str. 39 in Berlin-Wilmersdorf. Hier wohnt auch der Vater der
Autorin. Ob das nur Zufall ist, oder mit dem Weg der Unterlagen zu
tun hat, bleibt letztlich offen, es ist jedenfalls der
Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Person Edith Jacobsons,
die seit den 70er Jahren auch in Deutschland wieder wahrgenommen –
und veröffentlicht wurde.
Judith Kessler liest das »Schwarze Heft« und entschließt sich es zu
veröffentlichen. Da E. Jacobson eine der wenigen
Psychoanalytikerinnen ist, die sich politisch im Widerstand
betätigt haben, gibt die Auseinandersetzung mit ihrer Person auch
wichtige Hinweise zum Verhalten der Psychoanalytischen Gesellschaft
damals bis hin zu heute.
Zu II.
In den »Biografischen Notizen Edith Jacobson« von Roland Kaufhold
erfahren wir auf knapp 40 Seiten einiges über das Leben dieser
interessanten, und wie ich finde unangepassten Frau. Von Kollegen
wird sie z.B. als sehr liebe, sehr warmherzige, aber militante
Psychoanalytikerin bezeichnet. Schon früh hat sie sich gegen Freuds
Weiblichkeitstheorie geäußert.
Aus einem Arzthaushalt kommend studiert sie ebenfalls Medizin, mit
Schwerpunkt Pädiatrie. Inspiriert von der Lektüre Sigmund Freuds
und Wilhelm Reichs macht sie eine analytische Ausbildung in Berlin
und nimmt an den Kinderanalytischen Seminaren bei Anna Freud teil.
Von 1929 bis zu ihrer Verhaftung betreibt sie eine eigene
Praxis.
Besonders interessant fand ich die Beleuchtung der Haltung der
seinerzeitigen Psychoanalytischen Vereinigung zu angeblicher
Neutralität. Der vermeintlichen Ideologiefreiheit von Wissenschaft
folgend verbot das Berliner Psychoanalytische Institut 1936 seinen
Mitgliedern sich politisch zu betätigen, um »die Psychoanalyse in
Deutschland zu retten« !!
Diesem Verbot folgte E. Jacobson, die seit 1932 in der linken
Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« aktiv war, nicht. Sie arbeitete
mit Patienten aus dem Widerstand. Auch politisch engagiert sie
sich, publiziert in KPD-nahen Schriften, arbeitet für die Fürsorge
und eine Sexualberatungsstelle.
Sie liest Hitlers »Mein Kampf« und »war entsetzt«. Trotzdem wandert
sie nicht aus; R. Kaufhold interpretiert das als Solidarität mit
ihren Patienten. (S. 54) Da sie die Daten einer verhafteten
Patientin nicht weitergibt, wird sie ebenfalls verhaftet und wg.
Hochverrats verurteilt.
Daraufhin verbringt sie insgesamt 28 Monate im Gefängnis. Die
faksimilierten Gedichte geben ihren Zustand zu dieser Zeit
eindrücklich wieder und werden auch von R. Kaufhold sehr behutsam
in die »marginale Rezeptionsgeschichte« eingeordnet.
»Eine Arbeit über das weibliche Über-Ich entstand im Gefängnis,
wurde herausgeschmuggelt und 1936 – anonym – auf dem
Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Marienbad verlesen.
In diesem Text kritisierte sie Sigmund Freuds Weiblichkeitstheorie.
Ihrer Ansicht nach muss eine Frau, um ein stabiles Ich und
selbständiges Über-Ich zu entwickeln, statt das Über-Ich des Mannes
zu übernehmen, ihr weibliches Genital als wertvoll akzeptieren
lernen und einen Weg zurück zu mütterlichen Ich- und
Über-Ich-Identifizierungen finden.« (Zitat aus
https://de.wikipedia.org/wiki/Edith_Jacobson)
Während einer Krankheit gelingt ihr die Flucht aus dem Krankenhaus
und über die Tschechoslowakei ins amerikanische Exil, wo sie recht
schnell wieder beruflich Fuß fasst.
Von 1954 bis 1956 ist sie Vorsitzende der New York Psychoanalytic
Society. Heute gilt sie als führende Theoretikerin und Klinikerin
der nachfreudianischen amerikanischen Psychoanalyse und als »eine
der wichtigsten Vertreterinnen der Theorie der Objektbeziehungen
und der Ich-Psychologie«. (wikipedia)
Einige ihrer Arbeiten befassen sich explizit mit Traumatisierungen
aufgrund von Gefängnisaufenthalten, ihre eigene Betroffenheit
verschweigt sie allerdings ihr Leben lang. Auch politisch wird sie
nicht mehr aktiv, sieht man davon ab, dass sie relativ bescheidene
Honorare verlangt, was zumindest für eine bestimmte Haltung
spricht.
Fazit. Oder: Warum lesen wir das heute?
Die biografischen Notizen erhellen die Situation fortschrittlicher
PsychologInnen in den 30er Jahren, zeigen auch wieder einmal, dass
man durchaus erkennen konnte, wohin sich das Land politisch
bewegte, welche Spielräume genutzt werden konnten und wie weit der
vorauseilende Gehorsam ging.
E. Jacobsons Aufzeichnungen aus dem Gefängnis sind sehr persönlich,
sowohl die Erschütterung der Anfangszeit als auch die Solidarität
im Verlaufe spiegelnd. Beeindruckend auch ihre Weiterarbeit an
wissenschaftlichen Themen (s.o.) im Gefängnis und der Umgang damit.
Die Gedichte stehen für Reflexion und Kraftquelle
gleichermaßen.
Die ganze Bandbreite der Geschichte des dritten Reiches wird an
diesem persönlichen Schicksal wie mit einem Brennglas fokussiert:
Wahrnehmen, Verleugnen, Handeln, Verdrängen, Aushalten, Fliehen und
das von psychologisch professioneller Seite aus.
Auch wenn ich als Pädagogin E. Jacobsons Fachlichkeit nicht
beurteilen möchte, so habe ich das Buch mit Neugier gelesen und
fand es spannend. Eine kleine Kritik wäre, warum die Aufzeichnungen
vollständig faksimiliert wurden, dies macht immerhin 90 Seiten aus,
da hätten mir ein paar Beispiele genügt, da ja die Abschriften
komplett sind.
Gleichwohl: Heute ist das Thema Flucht und Vertreibung so aktuell
wie seinerzeit, konfrontieren wir uns damit!
socialnet.de