Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
Berlin-Woman.de
Rezension von Sabine Kamp
Edith Jacobson war eine bedeutende Psychoanalytikerin im 20.
Jahrhundert. Nach ihrer Inhaftierung und Flucht vor den Nazis 1938
lebte und arbeitete sie in den USA, wo sie 1978 starb. Heute ist
das Thema Flucht und Vertreibung so aktuell wie damals. Auch das
zeigt das frisch erschienene Buch: Edith Jacobson,
Gefängnisaufzeichnungen! Unsere Mitbloggerin Sabeene hat es
gelesen.
Erstmals sind hier die Gefängnisaufzeichnungen von Edith Jacobson
veröffentlicht, auch geht es um die seltsame Geschichte ihres
Fundes und die biografische Einordnung. »Mittels dieser
Aufzeichnungen entfaltet sich Geschichte und ermöglicht
Perspektiven und Erkenntnisse« so Hermann Simon, Direktor der
Stiftung »Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum«.
Seit 1988 lagen im Nachlass der Mutter von Judith Kessler die
Unterlagen von Edith Jacobson, u.a. ein »Schwarzes Heft«. Judith
Kessler, die Herausgeberin, beschäftigt sich zwar schon länger mit
jüdischer Gegenwartskultur und Biografieforschung, doch erst im
Gespräch mit Roland Kaufhold, Experte in Sachen psychoanalytischer
Emigrationsforschung, erahnt sie die Bedeutung dieses Heftes und
beginnt über Edith Jacobson zu recherchieren.
In den »biografischen Notizen Edith Jacobson«, die Roland Kaufhold
verfasst hat, erfahren wir vom Leben dieser interessanten, und wie
ich finde sehr unangepassten Frau: Geboren 1897 studiert Edith
Jacobson Medizin mit Schwerpunkt Pädiatrie und macht eine
analytische Ausbildung. Von 1929 bis zu ihrer Verhaftung 1935
betreibt sie eine eigene Praxis in Berlin. Sie gehört dem linken
Flügel der Psychoanalyse an und engagiert sich in einer politischen
Widerstandsgruppe. Sie liest Hitlers »Mein Kampf« und »war
entsetzt«. Trotzdem wandert sie nicht aus. Da sie die Daten einer
verhafteten Patientin nicht weitergibt, wird sie ebenfalls
verhaftet und wegen Hochverrats verurteilt. Während einer Krankheit
gelingt ihr die Flucht aus dem Krankenhaus und über die
Tschechoslowakei ins amerikanische Exil, wo sie wieder schnell
beruflich Fuß fasst. Heute gilt sie als führende Theoretikerin und
Klinikerin der nachfreudianischen amerikanischen Psychoanalyse und
als »eine der wichtigsten Vertreterinnen der Theorie der
Objektbeziehungen und der Ich-Psychologie« (Wikipedia).
Seit den 1970er Jahren wird sie auch in Deutschland wieder
verstärkt wahrgenommen – und ihre Arbeiten werden veröffentlicht.
Darin befasst sie sich explizit mit Traumatisierungen aufgrund von
Gefängnisaufenthalten, ihre eigene Betroffenheit verschweigt sie
allerdings ihr Leben lang.
Warum lesen wir das heute? Die biografischen Notizen erhellen die
Situation fortschrittlicher PsychologInnen in den 1930er Jahren und
zeigen, dass man durchaus erkennen konnte, wohin sich das Land
politisch bewegte, welche Spielräume es gab und wie weit der
vorauseilende Gehorsam ging. E. Jacobsons Aufzeichnungen aus dem
Gefängnis spiegeln die Erschütterung der Anfangszeit als auch die
Solidarität im Verlaufe des Aufenthaltes. Sie fokussieren das
Schicksal wie durch ein Brennglas: Wahrnehmen, Verleugnen, Handeln,
Verdrängen, Aushalten, Fliehen. Beeindruckend auch ihre Gedichte,
die ebenso ihre Reflexion und Kraft zeigen.
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