Rezension zu Schnittmuster des Geschlechts

Zeitschrift für Sexualforschung

Rezension von Wilhelm F. Preuss

Rainer Herrn, Mitarbeiter der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin, hat mit seiner Studie über »Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft« der deutschen Sexualforschung einen unschätzbaren Dienst erwiesen: Er hat anschaulich, quellennah und mit reichem Bildmaterial (Originalfotos, Dokumente. Briefe etc.) dargestellt, wie Magnus Hirschfeld das Phänomen des Transvestitismus 1910 als klinische Kategorie gesehen und beschrieben hat, wie er sich der Belange der »Transvestiten« als sexueller Minderheit angenommen und seine Auffassung über sie später weiterentwickelt und modifiziert hat. Damit waren die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass die »Transvestiten«, die sich von den homosexuellen Männern abgrenzen mussten, sich in den 1920/30er Jahren Anerkennung erkämpfen konnten. Bekanntlich subsumiert Hirschfeld unter den Begriff «Transvestiten« als »extreme Transvestiten« Personen, die heute klinisch als Transsexuelle diagnostiziert werden und sich vielfach selbst als Transidenten bezeichnen.

Hirschfeld hatte bereits 1923 den Begriff »seelischer Transsexualismus« benutzt, worauf 1997 schon Friedemann Pfäfflin hingewiesen hat. Bedeutsam im Sinne einer eigenständigen klinischen Kategorie wurde der Begriff des Transsexualismus allerdings erst nach der wesentlich bekannteren Arbeit von Harry Benjamin, der in den 1950er Jahren in den USA Transsexuelle mit Hormonen und geschlechtsangleichenden Operationen erfolgreich behandelte. Noch lange danach blieben die Leistungen der deutschen Pioniere der Sexualforschung wie Hirschfeld, Iwan Bloch, Albert Moll und andere verschüttet. Sie alle waren jüdische Ärzte, deren klinische und wissenschaftliche Arbeit vom deutschen Faschismus beendet und zerstört wurde. Diese kulturelle und wissenschaftliche Verwüstung wirkt bis in unsere Zeit fort. Viele haben über die Folgen geklagt, wenige haben etwas dafür getan, die Leistungen der deutschen Sexualforscher in der Zeit vor dem Faschismus in Erinnerung zu rufen, sie differenziert darzustellen und neu zu würdigen, wie z. B. Erwin J. Haeberle und Forscherinnen und Forscher aus dem Umfeld der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.

Rainer Herrn konzentriert sich – einer Anregung Sophinette Beckers und Friedemann Pfäfflins folgend – auf das Interesse der frühen Sexualforscher für Menschen, die wir heute als Cross-dresser bzw. als Transvestiten oder, von Letzteren abgegrenzt, als Transsexuelle bezeichnen. Anhand von zum großen Teil bisher unbekanntem und sehr gut ausgewähltem Quellenmaterial stellt Rainer Herrn die Irrungen und Wirrungen der damaligen Wissenschaftler und Ärzte dar, die versuchten, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentitätsgefühl, sei es analog oder konträr zum anatomischen Geschlecht, als unabhängige Parameter zu begreifen, wie wir es heute gewohnt sind. Herrn gelingt es dabei fast mühelos aufzuzeigen, wie die Auseinandersetzung in den schwulen Subkulturen (z.B. zwischen den virilen und den mehr effeminierten homosexuellen Männern) einerseits und der wissenschaftliche Streit um die männliche Homosexualität (z.B. die Diskussion um Hirschfelds Zwischenstufentheorie) andererseits aufeinander einwirkten, bis schließlich die »Transvestiten« im Hirschfeldschen Sinne einen eigenen Platz in der Gesellschaft fanden, einen Platz, den sie sich auch deshalb erkämpfen konnten, weil sie gerade in Hirschfeld eine Autorität fanden, die bereit war, von ihnen, den Betroffenen, zu lernen.

Herrn beschreibt sehr anschaulich, wie Hirschfeld seine Patienten nicht als gestörte Wesen, sondern als so seiende Mitmenschen behandelte, die er gleichwohl ärztlich unterstützte, indem er ihnen Bescheinigungen und Atteste ausstellte, um ihnen den Alltag zu erleichtern. Hirschfeld ermöglichte einigen von ihnen Anstellungen an seinem Institut und machte sie dadurch so gesellschaftsfähig, wie es bei »gewöhnlichen« Homosexuellen zu jener Zeit möglich war. In Herrns überzeugender Darstellung, wie ernst Hirschfeld seine Patienten nahm, wie er von ihnen lernte und wie er aufgrund dieser Erfahrungen seine eigenen Theorien zunächst zurückstellte, um sie dann zu relativieren und zu modifizieren, liegt aus meiner Sicht als Kliniker und Gender-Spezialist ein Hauptverdienst seines Buches.

Das erste Kapitel bietet eine kompakte Einführung in die Geschichte der Sichtweisen und Theorien von Hirschfelds Vorgängern. Insbesondere werden die Beiträge der Sexualforscher Albert Moll und Iwan Bloch sowie der an Sexualpathologie und -forensik interessierten Psychiater Carl Westphal und Paul Näcke berücksichtigt.

Im Zentrum des zweiten Kapitels steht Hirschfelds Studie »Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb« (1910). Herrn zeichnet nach, welche Folgen sie im Ersten Weltkrieg und dann besonders in den 1920er- und 1930er Jahren hatte. Biografische Skizzen jener 16 männlichen Transvestiten und jener einen weiblichen Transvestitin, die Hirschfelds kasuistischer Studie zugrunde liegen, zeigen die Probleme der Betroffenen auf eindringliche Weise. Hingewiesen wird auch auf einen illustrierten Begleitband, den Hirschfeld zusammen mit Max Tilke herausgegeben hat, einem Transvestiten, dessen Geschichte sich höchstwahrscheinlich hinter einer der Kasuistiken verbirgt.

War Hirschfeld zunächst noch davon ausgegangen, dass »Transvestitismus« der männlichen Homosexualität und damit den von ihm beschriebenen sexuellen Zwischenstufen zuzurechnen sei, so ließ er sich von seinen »Transvestiten«, von denen nur der kleinere Teil homosexuell war, überzeugen, dass sie eine eigene Gruppe waren, die sich über ihr anderes geschlechtliches Zugehörigkeitsgefühl definierte.

Das vierte und das siebte Kapitel widmen sich den Folgen von Hirschfelds Transvestiten-Arbeit, u.a. auch ihren Auswirkungen auf die beginnende tierexperimentelle Hormonforschung. Die Rezeption von Hirschfelds Arbeit im In- und Ausland, z.B. durch Havelock Ellis, wird kritisch beleuchtet. Rainer Herrn versäumt es nicht, auch Hirschfelds Kritiker zu Wort kommen zu lassen wie beispielsweise Max Marcuse, der weiterhin von einer »psychopathischen Konstitution« der Transvestiten überzeugt war, sowie psychoanalytische Kritiker (z.B. Stekel, Sadger), die an der »latenten Homosexualität« der Transvestiten festhielten, obwohl alle 16 von Hirschfeld beschriebenen Transvestiten tatsächlich gynäphil und damit heterosexuell waren, jedenfalls wenn man ihre sexuelle Orientierung ausgehend von ihrem biologischen Geschlecht beschreibt.

Das fünfte Kapitel schildert, welche Bedeutung das Berliner Institut für Sexualwissenschaft für die »Transvestiten« als Anlaufstelle und Heimat hatte. Das Institut war nicht nur Beratungsstelle, sondern ein Hort der Anerkennung und Kristallisationspunkt für einen ›Zusammenschluss‹ der Transvestiten. Ein interessanter Exkurs über die Transvestiten in der NS-Zeit zeigt die widersprüchlichen Praktiken der Behörden und der Machthabenden im Umgang mit dem Phänomen.

Das sechste Kapitel behandelt ausführlich die ersten Versuche somatischer Eingriffe zur Linderung körperlicher Geschlechtsdysphorie. Spätestens bei der Lektüre dieses Kapitels erinnert man sich an den scheinbar sarkastischen Titel des Buches: »Schnittmuster des Geschlechts.« Die/der aufmerksame Leserin/Leser dürfte jedoch in den vorausgegangenen Kapiteln bemerkt haben, dass die unterschiedlichen »Schnittmuster des Geschlechts« in den Köpfen von Ärzten und Therapeuten genauso verletzend – oder auch heilsam – für geschlechtsatypische Menschen sein können wie die Messer der Chirurgen bei den geschlechtsangleichenden Operationen.

Vorwiegend wird in diesem Kapitel die Problematik von Mann-zu-Frau-Transsexuellen behandelt, angefangen von den Möglichkeiten der Bartentfernung über Paraffininjektionen zum Brustaufbau bis hin zu der ersten genitalen Angleichungsoperation im Jahr 1920 durch Richard Mühsam, die sich zunächst auf die Entfernung der abgelehnten Geschlechtsteile beschränkte. (Unter diesem Gesichtspunkt hatten es Frau-zu-Mann-Transsexuelle leichter. Bereits 1912 hatte Richard Mühsam eine Angleichung durch Brust- und Gebärmutterentfernung vorgenommen.) Nach Angaben von Levy Lenz haben er selbst und andere Mitte und Ende der l920er Jahre schließlich künstliche Scheiden angelegt. Ende der 1920er Jahre konnte von einer beginnenden »Routine« gesprochen werden, die auch rechtlich einigermaßen abgesichert war. Für einige dieser Fälle beschreibt Rainer Herrn den weiteren biografischen Verlauf.

Eindrucksvoll stellt Rainer Herrn das Spektrum der Motivationen der beteiligten Ärzte und die Dilemmata dar, in denen sie sich befanden. Sie reagierten durchweg auf den starken Leidensdruck der Patienten und handelten in nicht wenigen Fällen, um suizidal gewordene Patienten zu entlasten. In einem bemerkenswerten Fall bemühte sich der Chirurg um eine reversible Lösung, indem der störende Penis »nur« unter die Bauchhaut verlagert wurde und schließlich wieder mobilisiert werden konnte: eine Konstellation, die es durch sorgfältige Diagnostik heute zu vermeiden gilt. Die medizinischen und juristischen Hürden, die genommen werden mussten, werden ausführlich dargestellt. Auch die verzweifelten Eingriffe am eigenen Körper, die Betroffene auch heute vereinzelt noch vornehmen, werden von Rainer Herrn thematisiert.

Im Abschlusskapitel fasst Herrn zusammen, dass Hirschfeld mit seiner Praxis am Institut für Sexualwissenschaft in der Behandlung Transsexueller bereits den Weg beschritten hat, den nach dem Krieg Harry Benjamin in den USA nur konsequent weitergegangen ist. Herrn stellt noch einmal heraus, dass Hirschfelds Verdienste, insbesondere die »Institutspraxis der Geschlechtsumwandlungen«, von Harry Benjamin als »undankbarem Erben« nicht genügend gewürdigt wurden, obwohl beide einen intensiven Kontakt zueinander hatten.

In seinem Geleitwort würdigt Volkmar Sigusch die Leistung Rainer Herrns. Als Gegenstück zu Herrns kultur- und medizinarchäologischer Arbeit stellt Sigusch die aktuelle Situation transsexueller Menschen in ihrer weiterhin bestehenden Abhängigkeit vom Medizinbetrieb und von den für sie zuständigen Spezialisten ins Zentrum. Volkmar Sigusch, der als Kliniker die Größe hatte, von transsexuellen Männern und Frauen zu lernen und seine Leitlinien zur Transsexuellenbehandlung aus dem Jahr 1979 im Sinne einer Entpathologisierung zu revidieren, bleibt dabei ein Mahner, die Betroffenen nicht allzu schnell und unbesehen der »Genochirurgie«, die sich seither immer weiter perfektioniert hat, zu überlassen. Dennoch plädiert gerade er dafür, den nosomorphen Blick auf die Transsexuellen aufzugeben, und hebt seinerseits den Mut Magnus Hirschfelds hervor, dessen Leistungen und Verdienste für die transidentischen Frauen und Männer von Rainer Herrn so überzeugend dargestellt werden.

Das klar und verständlich geschriebene Buch kann allen interessierten Leserinnen und Lesern empfohlen werden. Meiner Einschätzung nach könnten auch transidentische Frauen und Männer und ihre Angehörigen von der differenzierten Darstellung der Geschichte der Behandlung transidentischer Patienten profitieren. Geradezu als Pflichtlektüre betrachte ich Rainer Herrns Buch für GeschlechterforscherInnen, Queer-Theory-WissenschaftlerInnen, SexualwissenschaftlerInnen und besonders für alle Kolleginnen und Kollegen, die sich in sexualtherapeutischer Ausbildung befinden. Kritisch möchte ich lediglich anmerken, dass ich bei diesem Werk zur Geschichte der frühen Sexualwissenschaft mit ihren verzweigten Wurzeln und zahlreichen Protagonisten ein Personen- und Sachregister vermisst habe und ich mir wünschen würde, dass diese Lücke in einer zukünftigen Ausgabe geschlossen werden kann.

Im wiedervereinigten Deutschland mit seiner neuen alten Hauptstadt Berlin, wo »alles begann«, kämpfen die Sexualwissenschaft und die Sexualforschung um ihre Selbstbehauptung. Für eine Zukunft brauchen sie dringend ihre Vergangenheit. Zu deren Rekonstruktion hat Rainer Herrn mit seinem Buch wesentlich beigetragen.

zurück zum Titel