Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
Literaturkritik.de 10/2015
Rezension von Bernd Schneid
Verdichtung und Wahrheit
Das »schwarze Heft« von Edith Jacobson als Dokument der
Psychoanalyse und des Widerstands
In den »Gefängnisaufzeichnungen« und dem darin enthaltenen
»schwarzen Heft« der renommierten Psychoanalytikerin Edith Jacobson
(1897–1978) findet sich ein wichtiges Puzzlestück der
deutsch-jüdischen und psychoanalytischen Geschichte, das nach fast
80 Jahren von der Sozialwissenschaftlerin Judith Kessler als
Mitherausgeberin und Finderin der Aufzeichnungen dem Vergessen
entrissen wird. Dieses zwar knappe, aber dicht ausgestattete Buch
erscheint mit einem Geleitwort von Hermann Simon (dem ehemaligen
Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum) und
einem spannenden Essay von Kessler zur Auffindung des Dokuments. In
die historisch-biografischen Zusammenhänge zu Jacobsons Leben und
Wirken wird es vom Erziehungswissenschaftler Roland Kaufhold
eingebettet, dessen Forschungsschwerpunkt – Emigrationsforschung in
Verbindung mit Psychoanalyse – auch vieles an Unbekanntem zu Tage
bringt. Der aus dem »schwarzen Heft« aufbereitete Text und das
anschließend komplett gedruckte Faksimile bieten die Möglichkeit,
einen minutiösen Blick auf dieses psychoanalytische und
jüdisch-deutsche Dokument einer engagierten jungen Frau zu werfen,
welche die Emigration für ihre Patienten zu lange hinausgezögert
und sich damit selbst in Lebensgefahr gebracht hat.
Edith Jacobson wurde 1897 in Schlesien geboren. Ihr Vater war Arzt
und wurde im Ersten Weltkrieg schwer traumatisiert, was seine
Tochter nachhaltig prägte. Sie selbst wurde Kinderärztin und begann
1925 ihre analytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen
Institut. 1930 wurde sie Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen
Gesellschaft (DPG). Ihr Lehranalytiker war Otto Fenichel, der mit
seinen »Geheimen Rundbriefen« (1934–1945) eines der heute zentralen
Zeugnisse des Widerstands der Psychoanalyse im
nationalsozialistischen Regime schuf. Jacobsons Rolle zwischen
NS-Regime und Psychoanalytischer Gesellschaft sah nun
folgendermaßen aus: Unter der Bezeichnung
»Unvereinbarkeitsbeschluss« wurde von der DPG den damaligen
Ausbildungskandidaten die Abstinenzregel für die Behandlung von
politischen Gegnern verboten. Jacobson allerdings, die sich der
marxistischen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« um Walter Löwenheim
anschloss, hinterging diese analytische »Regel« in ihrer eigenen
Praxis. Sie behandelte trotz des Verbots Dissidenten und war
politisch aktiv. Die genauen Umstände von Jacobsons Verhaftung
durch die Gestapo können zwar nicht mehr eindeutig geklärt werden,
hängen aber aller Wahrscheinlichkeit mit der Einhaltung ihrer
Schweigepflicht gegenüber »verdächtigen« Patienten und
Regimegegnern zusammen und mit einer Anklageschrift, die sie mit
einer Patientin in Verbindung brachte, die auf der Flucht entweder
Selbstmord beging oder ermordet wurde. Die genauen Umstände hierzu
lassen sich nicht mehr klären. Im Oktober 1935 kam Jacobson
schließlich 11 Monate in Untersuchungshaft und dann über 2 Jahre
ins Gefängnis, wo sie erst aufgrund schwerer Krankheit und durch
die daraus folgende Verlegung in ein Krankenhaus über die
Tschechoslowakei in die USA fliehen konnte. Dort wurde sie
schließlich zu einer der wichtigen, doch in Deutschland lange Zeit
vernachlässigten Schlüsselfiguren der Nachkriegspsychoanalyse.
Diese zeitgeschichtlichen Verstrickungen sind mit der biografischen
Verbindung Kesslers zum Dokument, das sie aus dem Nachlass ihrer
Mutter hat, und den von Kaufhold dargestellten komplexen
Zusammenhängen von der über lange Zeit verdrängten Rolle der
psychoanalytischen Gesellschaften während des Nationalsozialismus
anschaulich und nachvollziehbar aufgearbeitet. Der zentrale Teil
des »schwarzen Heftes« bietet dann vor allem Jacobsons Gedichte und
im Mittelteil die Selbstbeschreibung »Einige Betrachtungen über
physische u. psychische Hafteinwirkung«, in der sie mit klarer
Prosa vom »narzißtischen Trauma« des Gefangenseins und
Freiheitsentzugs spricht, das sie zwischen Widerständen, Ängsten,
Qualen und Selbstverlust zu überstehen versucht:
»Depersonalitätserscheinungen: Unwirklichkeitsgefühle; unmöglich,
daß man das hier ist, traumartiges Empfinden!«
Am eindringlichsten sind allerdings Jacobsons Gedichte, die
zwischen Naturbeobachtungen, Erinnerungen, Metaphern und Parabeln
oszillieren und von ihr folgendermaßen betitelt sind: »Inhalt:
Galgenlieder, heiter und traurig. pathetische und unpathetische
Sonette. Nachdenkliche Verse. Abgeschriebene Verse.« Diese sind
zwar Laiendichtung, aber gerade deswegen ein Zeugnis für das
überlebensnotwendige Vademecum der Poesie und Sprache in einer
Umgebung wie dem Gefängnis, in dem sie – wie Jacobson selbst
bemerkt – mit »Dichtwut« gegen Suizidgedanken und Depressionen
ankämpft. In Verbindung mit ihrer Biografie und ihrem Werk lassen
sich in den »Gefängnisaufzeichnungen« viele wertvolle Verdichtungen
finden. Diese zunächst vielleicht vage erscheinenden Verbindungen –
auch zu einer Mitinsassin – bieten den Grundstein für weitere
Anknüpfungspunkte zur Geschichte der Psychoanalyse und Emigration,
die hier ein Referenzwerk finden. Abschließend zeigt die im
»schwarzen Heft« als Loseblattsammlung aufgefundene Arbeitsskizze
»Zur Technik der Analyse Paranoider« ein frühes Kernstück ihrer
späteren Publikationen zur Objektbeziehungstheorie und damit
Jacobsons analytische Beobachtungsgabe und Feinfühligkeit.
In diesem Sinn ist das Buch jedem historisch Interessierten zur
verwickelten Geschichte der Psychoanalyse und des Widerstands gegen
den Nationalsozialismus als wichtiges Dokument zu empfehlen, denn
darin wird das Leben und Denken einer widerständigen jungen Frau in
den 1930er-Jahren im nationalsozialistischen Deutschland spür- und
nachvollziehbar.
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