Rezension zu Quantenphysik, Neurowissenschaften und die Zukunft der Psychoanalyse

Rezension von Ellen Reinke

Herbert Stein: Quantenphysik, Neurowissenschaften und die Zukunft der Psychoanlyse. Auf dem Weg zu einem neuen Menschenbild. Vorwort von Michael B. Buchholz. Gießen, Psychosozial-Verlag, 2006

Dies ist ein wichtiges Buch für jeden Leser, der ein Unbehagen an unserer gegenwärtigen technisch-rationalistischen Zivilisation empfindet. Ein berechtigtes Unbehagen, das Hannah Arendt in Zwischen Vergangenheit und Zukunft auf einen Traditionsbruch zurückführt: auf das Verschwinden von Religion und Kultur als geteilte, über den Partikularinteressen stehende Grundüberzeugungen. Nach Arendt ist dieser Verlust endgültig, und diesem Urteil widerspricht das Buch, indem es religiöse Fragen erneut ins Zentrum rückt. Insofern wäre es passender gewesen, den Untertitel Auf dem Weg zu einem neuen Menschenbild als Haupttitel zu wählen, denn Quantenphysik, Neurowissenschaften, Psychoanalyse, die monotheistischen Religionen, die europäische Geistesgeschichte und die nichteuropäischen philosophischen Religionen bzw. religiösen Philosophien, deren Kulturgeschichten, dienen dem Autor als Grundlagen für seine Überlegungen eben auf dem Weg zu einem neuen Menschenbild. Das alles ist sehr kenntnisreich und gut lesbar vermittelt und regt zum eigenen Denken an. Auch dann, wenn der Leser dem Autor nicht auf dem Weg zu einer neuen Religiosität folgen möchte, und folglich auch nicht zu einem neuen Menschenbild, das uns die Quantenphysik anbieten könnte. Als besonders positiv wird der Leser es empfinden, daß der Autor zwar für seinen Weg plädiert – Proligio; für ihn ist Religion jedoch eine Frage der Evolution des Bewußtseins – ohne Abweisung derjenigen, die ihre Fragen, Zweifel und ihr Suchen in der »herkömmlichen Religiosität« verankern. Das ist »besser als ein Zusammenbruch jeder spirituellen Orientierung, der ja die westliche Welt mehr und mehr prägt«.

Eine Kritik, sozusagen in eigener Sache, möchte ich an der eher auf eine selektive Rezeption als auf Freud zurückgehende »Kurzfassung« der psychoanalytischen Religionskritik formulieren. Freud kritisiert nicht »die« Religion, sondern eine ihrer möglichen Perversion durch den Verlust symbolischen Denkens und den daraus folgenden Leerlauf religiöser Rituale, in dem aus zeremoniellen Handlungen stereotype Riten werden. In diesem Zusammenhang hält er fest, daß der Mensch gleichermaßen zur individuellen wie zur kollektiven Neurose fähig ist: »Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen,« schreibt Freud, »die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen« (GW VII, S. 138f.). Wie man sieht, ist diese Formel in beide Richtungen zu verstehen: die Religion kann im neurotischen Zeremoniell karikiert werden: »Die Zwangsneurose liefert hier ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion« (GW VII, S. 132). Neben dieser Desymbolisierung fragt Freud in Totem und Tabu, (GW IX, S. 122) nach den Ursprüngen der religiösen Bildungen und anerkennt gleichzeitig die Grenzen der Psychoanalyse in dieser Beziehung: »Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufgedeckt hat, braucht man nicht zu besorgen, daß sie versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzuleiten. Wenn sie in notgedrungener, eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen dieser Institutionen zur Anerkennung bringen will, so beansprucht sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie den ersten Rang unter den zusammenwirkenden Momenten. Erst eine Synthese aus verschiedenen Gebieten der Forschung kann entscheiden, welche relative Bedeutung dem hier zu erörternden Mechanismus in der Genese der Religion zuzuteilen ist; eine solche Arbeit überschreitet aber sowohl die Mittel als auch die Absicht des Psychoanalytikers«. Es lohnt sich, wie immer, der Sekundärliteratur zu misstrauen und selbst zu lesen und zu denken: Sapere aude!

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