Rezension zu Allgemeine psychoanalytische Neurosenlehre, Psychosomatik und Sozialpsychologie
Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 21.Jg. Heft 4/2006
Rezension von Philipp Soldt
Die Neuauflage eines Buches eigens zu besprechen, ist nicht
unbedingt üblich, erwartet man doch in der Regel von Neuauflagen
kleinere Erweiterungen, aktuelle Anpassungen und natürlich
Korrekturen. Beim Lehrbuch von Siegfried Zepf, 2000 in erster
Auflage erschienen, verhält es sich anders: Aus einem Band sind
drei geworden, und der Textumfang ist bald auf das Doppelte
angewachsen. Nicht nur daß durch die Aktualisierungen für fast alle
wichtigen psychoanalytischen Konzepte (wieder) ein jeweils
aktueller und kritischer Stand der Forschung vorliegt. Vor allem
sind durch viele hinzugekommene Kapitel Lücken geschlossen
worden.
Zepf geht es um eine kritische Konzeptforschung der Psychoanalyse,
die das Ziel verfolgt, ihre theoretischen und
behandlungstechnischen Begriffe sowie ihre Konzepte der
Psychosomatik und Sozialpsychologie in einen systematischen
Zusammenhang zu stellen. Dabei geht er aus von der Theorie der
Interaktionsformen von Alfred Lorenzer, die er jedoch mittlerweile
zu einer umfassenden Theorie der psychischen Repräsentanzwelt
ausgebaut hat – ihrem Anspruch nach wohl nur vergleichbar mit dem
Vorhaben Joseph Sandlers, auf den ja auch das Konzept der
psychischen Repräsentanzwelt eigentlich zurückgeht. Die Theorie der
Interaktionsformen stellt insofern ein Phänomen
theoriegeschichtlicher Amnesie dar, als sie jene intersubjektive
Wende und Relationalität, die heute unter den verschiedensten
Markenzeichen der derzeitigen Psychoanalyse in aller Munde ist,
vorausdachte – ohne dabei freilich dieselben Ausflüchte ins
Metaphorische und Ungefähre zu machen.
Oberhaupt kann einem bei der Lektüre des Buches von Zepf klar
werden, wie voll das psychoanalytische Schrifttum von ›Konzepten‹
ist, die in Wirklichkeit Metaphernstatus haben. Metaphern helfen
ungemein bei der Beschreibung und Veranschaulichung, auch:
Kommunikation komplexer Sachverhalte, wie sie die Psychoanalyse in
ihren Behandlungen zu bewältigen hat. Das Problem ist nur, daß man
mit Metaphern aufgrund ihrer jeweils singulären Passung nicht recht
weiterdenken kann: Sie werfen ein hilfreiches Schlaglicht auf ein
Phänomen, aber sie erklären es nicht, d.h. fügen es nicht ein in
ein Gefüge von theoretischen Aussagen, mit denen es begriffen
werden könnte und dann wiederum hilft, andere Phänomene zu
begreifen. So kommt es, daß in der Psychoanalyse immer wieder neue
›Konzepte‹ ihre Aufwartung machen, die gut als ›Container‹ für die
Erfahrungen und Fantasien der Psychoanalytiker taugen – dies aber
um den Preis, immer wieder neu erfunden werden zu müssen.
Um sich ein Bild von der Fülle des theoretischen Materials zu
machen, das nie lehrbuchartig bloß ausgebreitet, sondern jedes Mal
einer Klärung zugeführt wird, kommt man nicht umhin, die
behandelten Konzepte schlicht aufzählen: Nacheinander werden die
Trieb- und Libidotheorie, die Narzissmus-, Affekt- und
Emotionstheorie, die Lehre von der Entwicklung des vorsprachlichen
Erlebens, der Abwehr mit ihrer einzelnen Mechanismen,
einschließlich des speziellen Problems der vorsprachlichen Abwehr,
der Mechanismen der Neurose, Regression und Fixierung, Primär- und
Sekundärprozeß, die strukturtheoretischen Begriffe ›Ich‹,
›Ich-Ideale und ›Über-Ich‹, die Funktionsstörungen des Ich, Trauma
und traumatische Neurose, Verführungstheorie, Odipuskomplex und
Wiederholungszwang regelrecht durchgearbeitet. Überall entstehen
ausgehend von Freuds Schriften und den Ansätzen seiner Nachfolger
Konzeptualisierungen, die alle auf dem Boden des Grundmodells von
psychischer Repräsentanz miteinander verknüpft sind und so eine
stringente Theorie des bewußten und unbewußten Subjekts entstehen
lassen. Es ist dieser besondere Gegenstand der Psychoanalyse, der
vom modischen Science-Paradigma der Neurowissenschaften niemals
auflösbar, d.h. erkennbar ist. Da zeigt die folgende stupende
Auseinandersetzung mit dem besonderen wissenschaftstheoretischen
Status der Psychoanalyse, ihrem eigentlichen Gegenstand, der
psychischen Realität, dem psychoanalytischen Erkenntnisprozeß sowie
dem Status und der Funktion der Metapsychologie. Von
Übertragung/Übertragungsneurose, Gegenübertragung über die
psychoanalytische Grundregel und die gleichschwebende
Aufmerksamkeit, Abstinenz und Neutralität bis hin zum
Durcharbeiten, dem Widerstand, dem Agieren und dem
Behandlungsbündnis wird dann die psychoanalytische Behandlung von
ihren Konzepten her erforscht. Im Abschnitt über die Struktur des
psychoanalytischen Therapieverfahrens findet sich ein langer
kritischer Exkurs zur (externen) empirischen Prüfung der
Wirksamkeit des psychoanalytischen Therapieverfahrens, an den sich
der Abschnitt über Wahrheit und Wahrheitsprüfung in der
Psychoanalyse anschließt, sowie eine Untersuchung über den
eigentlichen Gegenspieler der Wahrheit des psychoanalytischen
Verfahrens, den sogenannten »neurotischen Resterscheinungen« des
Psychoanalytikers. Angefangen von den Konzepten Alexanders über
Engel und Schmale, Mitscherlich, Marty und v. Uexküll bis hin zu
Bucci wird die psychoanalytische Psychosomatik vorgestellt und in
einem eigenen Kapitel innerhalb der Theorie der Interaktionsformen
rekonzeptualisiert. Den Abschluß dieser langen Reise bildet der
Abschnitt zur Analytischen Sozialpsychologie, der den Zusammenhang
zwischen Gesellschafts- und Kulturtheorie und Psychoanalyse
aufgreift sowie das Problem des gesellschaftlichen Unbewußten.
Die schiere Aufzählung zeigt vielleicht die Quantität, aber nicht
die Qualität des Zepfschen Vorgehens. Wo etwa in den vielen
Facetten des psychoanalytischen Intersubjektivismus, die von der
Bindungstheorie (der in der neuen Ausgabe nun ein langer kritischer
Exkurs gewidmet ist) über postkleinianische Theoriebildungen bis
hin zur Schulenrichtung der relationalen Psychoanalyse reichen,
immer wieder vom menschlichen Subjekt als a priori Beziehungswesen
die Rede ist, kann Zepf in seiner Rekonstruktion des Triebbegriffs
zeigen, daß Beziehung und Bezogenheit mitnichten vom Himmel oder
aus der DNA in den Säugling kommt, sondern in interaktioneller
Arbeit in jeder Sozialisation eigens hergestellt werden muß.
Nach einer systematisch-kritischen Sichtung der verschiedenen
Narzißmuskonzepte von Freud über Balint und Grunberger bis zu Kohut
und Kernberg, entwirrt Zepf diesen vielleicht inflationärsten
psychoanalytischen Begriff als dialektischen Widerpart des Triebs
und reformuliert so die konstitutive Dynamik des Seelenlebens als
eine Dualität von Trieb und Narzißmus. Während die Triebbedürfnisse
im Streben nach erogener Befriedigung das Lustprinzip vertreten,
geht es dem Subjekt in seiner narzißtischen Bedürftigkeit nicht um
die Wiedererlangung einer ursprünglichen All-Einheit (Balint) oder
um die Erfüllung irgend genuiner Bedürfnisse seines Selbst
(Kohut),sondern schlicht um die Vermeidung von Unlust. Überzeugend
klärt Zepf das Konzept der Funktionslust, jenen von Freud anhand
des berühmten Garnrollenbeispiels erläuterten «andersartigen, aber
direkten Lustgewinn«, als genau jene narzißtische Lust, die der
gelungenen Vermeidung von Unlust entspringt. Im Fall der Neurose,
den Zepf im ausführlichen Kapitel »Abwehrmechanismen und
Ersatzbildung« entfaltet, zerbricht die Dialektik von Trieb und
Narzißmus: Die Strebungen nach Lust und Unlustvermeidung können
einander unter der Bedingung unlösbarer Konflikte nicht länger zur
Voraussetzung nehmen, sondern werden unerbittliche Opponenten.
Neben vielen anderen Konzepten verdient vor allem die Zepfsche
Affekttheorie Beachtung, die die Affekte radikal als psychische
Phänomene begreift, die nur als solche ja einer psychoanalytischen
Exploration überhaupt zugänglich sind. Die Affekte stellen noch vor
der Sprache ein Symbolsystem dar, heißen deshalb auch
Affektsymbole, mit deren Hilfe das Kleinkind ein vorsprachliches
Bewußtsein der Situationen erlangen kann, die es in Ermangelung von
Begriffen noch nicht einzeln aufgliedern kann. Diesen Vorgang der
präverbalen Abstraktion in aufeinanderfolgenden
Entwicklungsschritten zu entfalten, ohne den Bewußtsein, das immer
ein Bewußtsein von etwas ist, nicht sein kann, ist das große
Verdienst in einer Debatte, wo z.B. mit dem prominenten Konzept von
D. N. Stern ein ›Kernselbst‹ im Alter von 2 Monaten postuliert
wird, ohne auch nur entfernt sagen zu können, unter welchen
Voraussetzungen dies eigentlich möglich sein soll. Im Kapitel »Die
Bildung der Repräsentanzwelt und die Entwicklung des Erlebens«
führt Zepf hingegen aus, wie sich die Affekte vom Anfang des
individuellen Lebens an bilden, wie diese Strukturen des Erlebens
im Laufe der Sozialisation nach und nach hergestellt und
ausdifferenziert werden. Konsequent wird die innere Entwicklung
dabei entlang der Notwendigkeit des Lust-Unlustvermeidungsprinzip
entfaltet und jeglichem Mythos von angeborenen Affekten eine klare
Absage erteilt. Auch die Affekte sind radikal
Beziehungsresultat.
Wieso aber Affektsymbole? Die vielfältigen Korrelate des
vegetativen Nervensystems, die mit dem Fühlen einhergehen, faßt
Zepf nun in eleganter Wendung als Zeichen auf. So wie die Worte der
Sprache auf Begriffe verweisen, so verweisen die Körperempfindungen
auf die Affekte – sie sind ihre »körperliche Existenzform«. Das
physiologische Geschehen ist nicht der Affekt, und es verläuft auch
nicht unabhängig von diesem; Körperliches und Psychisches stehen
vielmehr in symbolischer Relation zueinander. Dies gilt zumindest
für das vorsprachliche Kind, denn mit dem Erwerb von Sprache
überformt diese das System der Affekte und transformiert sie in
ungleich differenziertere Emotionen. Vorher aber erfährt das kleine
Kind die Welt und sich selbst unmittelbar anhand der eigenen
Befindlichkeit in den körperlich bezeichneten Affekten.
Das neben den neu hinzugekommenen Kapiteln nicht nur die vielen
Druckfehler der ersten Ausgabe ausgemerzt sind und auch das
Register wesentlich verbessert wurde, macht aus dem Buch ein
Lehrbuch auf höchstem Niveau und eine Fundgrube für den Leser. Für
die Psychoanalyse aber ist dieses Denken ein (noch weitgehend
ungehobener) Schatz, mit dessen Hilfe es möglich wird, die
Psychoanalyse wieder als das zu befragen, als was sie einst
angetreten war: als kritische Wissenschaft von der Genese, der
Deformation und Heilung des Subjekts. Einziges Manko, das der
Rezensent feststellen konnte, ist das Fehlen eines vierten Bandes:
der speziellen Neurosenlehre.