Rezension zu Geschlechtersensible Beratung
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Rezension von Bettina Zehetner
Beratung und Geschlecht: Politik statt Pathologisierung
»Die Maskulinisierung des männlichen und die Feminisierung des
weiblichen Körpers sind gewaltige und in einem bestimmten Sinn
unendliche Aufgaben, die, heute wohl mehr denn je, einen
beträchtlichen Aufwand an Zeit und Anstrengung erfordern und eine
Somatisierung des Herrschaftsverhältnisses zu Folge haben, das auf
diese Weise naturalisiert wird.« (Pierre Bourdieu: Die männliche
Herrschaft)
Die Beiträge zeichnen die wechselseitigen Einflüsse von
feministischer Forschung, Frauenbewegung und
beratungswissenschaftlichen Entwicklungen nach und verstehen sich
einerseits als Sammlung bisheriger und aktueller Positionen in der
geschlechtersensiblen Beratung, andererseits als Grundlage für
weitere Diskussionen und Schärfung von Konzepten. Das Buch hat
somit »Werkstattcharakter«. Eine Stärke des Bandes ist die
kritische Haltung gegenüber der aktuellen Individualisierung
sozialer Problemlagen. Es ist notwendig, in jeder Beratung die
gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sich individuelle
Probleme vollziehen, mitzuberücksichtigen. Ein konstruktivistischer
Ansatz muss immer auch ökonomische Verteilungsverhältnisse sowie
die gesellschaftlich gewährte oder verweigerte Anerkennung
unterschiedlicher Lebensverhältnisse miteinbeziehen. Als
Berater_innen müssen wir Veränderbarkeit und beschränkende
Bedingungen zusammendenken. Geschlechterreflexive Beratung muss die
politischen und ökonomischen Strukturen sehen, die die Konstrukte
von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« immer wieder reproduzieren
und die individuellen Erzählungen der Ratsuchenden formen und
einschränkend festschreiben. Ein Ziel geschlechterreflexiver
Beratung ist es, diese festgefahrenen Konstrukte fragwürdig zu
machen und in Bewegung zu bringen. Eine Haltung des »offenen
Gender« (Angelika Grubner) kann Ratsuchende dabei unterstützen,
ihre Handlungsfreiheit zu erweitern und neue Lebensmöglichkeiten
für sich zu entwickeln.
Die theoretische Basis der Autor_innen bildet vor allem Pierre
Bourdieus Werk. Mit seinem Habitus-Konzept können Verkörperungen
von Machtverhältnissen, symbolischer Gewalt und Geschlechternormen
sichtbar gemacht werden. Seine Thesen zur Maskulinisierung des
männlichen und Feminisierung des weiblichen Körpers können für die
patriarchatskritische Beratung genützt werden. Judith Butlers
Konzept des performativen un/doing gender bietet hier allerdings
noch produktiveres Analyse- und Veränderungspotenzial. Leider wird
auf ihr differenziertes Theoriegebäude nicht eingegangen. Ein
Mangel des Werks ist auch die fehlende Berücksichtigung aktueller
Forschungsliteratur zur feministischen Beratung, etwa der vom
Verein Frauen beraten Frauen 2010 herausgegebene Sammelband »In
Anerkennung der Differenz. Feministische Beratung und
Psychotherapie« oder »Krankheit und Geschlecht. Feministische
Philosophie und psychosoziale Beratung« (2012) von Bettina
Zehetner, in der die Autorin Judith Butlers Theorie – unter anderem
ihr Konzept der Geschlechterparodie – für die Beratung fruchtbar
macht.
Feministische Theorie ist gesellschaftskritisch und hat die
Intention, ungerechte Verhältnisse zu verändern und Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts zu beenden. Diese emanzipatorische Haltung
soll auch in Beratung und Psychotherapie wirksam werden.
Begrifflich sinnvoller als die weiche »geschlechtersensible«
Beratung erscheint mir darum der Ausdruck »geschlechterreflexive«
Beratung. Das feministische Konzept der Parteilichkeit wurde von
einigen Autor_innen missverstanden: Längst ist im feministischen
Diskurs die differenzierte Parteilichkeit Standard, also ein
kritisches Gegenüber und kein blindes, bedingungsloses sich an die
Seite der Ratsuchenden stellen.
Das spannungsreiche Verhältnis von Theorie und Praxis wird in den
einzelnen Texten zu den Feldern Familie, Beruf, Gewalt sowie
Krankheit und Pflegebedürftigkeit lebendig. Im Sinne von Foucaults
Aufruf, Theorie als Werkzeugkasten zu nützen: ein anregendes Werk
für Berater_innen aller Professionen, Themen und Zielgruppen.
Bettina Zehetner
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