Rezension zu Transgender-Gesundheitsversorgung (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Uwe Helmert
Hertha Richter-Appelt, Timo O. Nieder (Hrsg.):
Transgender-Gesundheitsversorgung
Thema
Seit 1979 gibt die World Professional Association for Transgender
Health (WPATH) Empfehlungen für die gesundheitliche Behandlung und
Versorgung transsexueller, transgender und
geschlechtsnichtkonformer Menschen heraus, um ihre gesundheitliche
Situation zu verbessern. Die 7. Version dieser »Standards of Care«
liegt mit diesem Buch – in der Übersetzung der HerausgeberInnen –
erstmals in deutscher Sprache vor. Ein weiteres Thema des Buches
ist die aktuelle nationale und internationale Diagnostik und
Versorgung von Menschen mit Transsexualität oder
Geschlechtsdysphorie. Die Geschlechtsdysphorie ist ein Leiden, das
durch die Diskrepanz zwischen der Geschlechtsidentität eines
Menschen und dem ihm bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht
verursacht wird.
HerausgeberInnen
Prof. Dr. phil. Hertha Richter-Appelt ist Psychologische
Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und stellvertretende
Direktorin am Institut für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), und
Prof. Dr. phil. Timo O. Nieder ist Psychologischer Psychotherapeut
und arbeitet am Institut für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie des UKE.
Aufbau
Das Buch ist folgendermaßen gegliedert:
1.) Hertha Richter-Appelt und Timo O. Nieder: Die Entwicklung der
Versorgungsempfehlungen im Kontext von Transsexualität seit 1979 (6
Seiten)
2.) Timo O. Nieder, Susanne Cerwenka und Hertha Richter-Appelt:
Nationale und internationale Diagnostik und Versorgung von Menschen
mit Transsexualität oder Geschlechtsdysphorie (28 Seiten)
3.) World Professional Association for Transgender Health (WPATH):
Standards of Care (SOC) in der Übersetzung von Hertha
Richter-Appelt und Timo O. Nieder (108 Seiten)
4.) Literatur und Anhang (40 Seiten)
Zu Kapitel 1
Die 1. Version der Versorgungsempfehlungen aus dem Jahr 1979 trug
den Titel »Behandlungsstandards für die hormonelle und chirurgische
Geschlechtsanpassung für Personen mit Geschlechtsdysphorie«
[Standards of Care (SOC) for the Hormonal and Surgical Sex
Reassignment of Gender Disphoric Persons]. Sie wurde vor allem
veröffentlicht, um den Fachkräften, die Hormonpräparate
verschreiben oder geschlechtsanpassende chirurgische Eingriffe
durchführen, vor rechtlichen, ethischen und moralischen Bedenken
und insbesondere vor Haftbarkeit zu schützen. In der Folge erfuhren
die SOC ihre radikalsten Änderungen mit der 5. Version, die unter
der Präsidentschaft von Friedemann Pfäfflin, einem in Deutschland
tätigen Sexualforscher und Psychoanalytiker, erarbeitet wurden. Die
SOC wurden umbenannt und in Anlehnung an die Nomenklatur des
US-amerikanischen Diagnosesystems DSM unter dem Titel
„Behandlungsstandards für Störungen der Geschlechtsidentität“ im
Jahr 1998 publiziert. Ein wichtiger Aspekt war außerdem die Rolle
der Psychotherapie. Während früher eine Psychotherapie mit dem Ziel
durchgeführt wurde, die jeweilige Person von ihrem Wunsch zu
befreien, in der anderen Geschlechtsrolle zu leben und sich
»umwandeln« zu lassen, wurde nun das Ziel formuliert, mit der
Psychotherapie das allgemeine Lebensgefühl der betreffenden Person
zu verbessern. Erstmals wurde in der 5. Version der SOC auch auf
die Behandlung von Kindern und Jugendlichen eingegangen. Mit der 7.
Version der SOC (2011) will man wegkommen von der bisherigen
Systematik der Begutachtung und Auswahl geeigneter transsexueller
Menschen und hinkommen zur Etablierung einer Gesundheitsversorgung
für transsexuelle, transgender und geschlechtsnichtkonformer
Menschen mit dem Anspruch, im Kontext individueller
Geschlechtsdysphorie und (Trans-)Identität nachhaltiges
Wohlbefinden zu ermöglichen.
Zu Kapitel 2
Mit dem Begriff Transsexualität werden Personen beschrieben, die
sich im falschen Körper erleben. Gemeint ist damit jedoch nicht der
gesamte Körper, sondern nur die geschlechtsspezifischen Merkmale,
die nicht mit dem Erleben der eigenen Geschlechtszugehörigkeit in
Einklang zu bringen sind: Brust- und Genitalbereich, Körper- und
Gesichtsbehaarung und Stimmhöhe. Wenn die geschlechtsbezogenen
Ausprägungen des Körpers nicht mit dem Erleben und/oder Verhalten
in Einklang gebracht werden können, spricht man von
Geschlechtsinkongruenz. Der aus der Geschlechtsinkongruenz
resultierende Leidensdruck wird als Geschlechtsdysphorie (engl.:
Gender Dysphoria) bezeichnet.
Epidemiologie: Angaben zur Anzahl transsexueller Frauen sind je
nach dem zugrunde gelegten Außenkriterium sehr unterschiedlich. Für
Deutschland werden nur die Daten aus einer unveröffentlichten
medizinischen Doktorarbeit von Meyer zu Hoberge (2009) präsentiert.
Demnach beträgt die Anzahl transsexueller Frauen 5,5 auf 100000.
Zur Anzahl transsexueller Männer in Deutschland geben die
AutorInnen keine Auskunft. In Belgien und den Niederlande beträgt
die Anzahl transsexueller Männer etwa 3 auf 100000.
Im Hinblick auf die medizinische und rechtliche Bewertung der
Transsexualität hat sich in den letzten fünfzig Jahren ein
Paradigmenwechsel vollzogen:
1.) Früher: Transsexualität ist eine psychiatrische Erkrankung.
Heute: Transsexualität wird nicht mehr als eine psychiatrische
Erkrankung angesehen.
2.) Früher: Ein Mensch ist entweder transsexuell oder nicht. Heute:
Transsexualität ist ebenso wenig ein distinktes Merkmal wie
Geschlechtlichkeit. Es wird die Existenz von mehr als zwei
eindeutig männlichen oder weiblichen körperlichen
Erscheinungsbildern akzeptiert. Nicht alle Menschen erleben sich
entweder als Mann oder Frau.
3.) Früher: »Echte Transsexuelle« sind homosexuell orientiert.
Heute: Die sexuelle Orientierung stellt kein
differentialdiagnostisches Kriterium dar.
4.) Früher: »Echte Transsexuelle« wollen sowohl eine Behandlung mit
Sexualhormonen als auch genital- und brustchirurgische Maßnahmen.
Heute: Die Art und das Ausmaß der gewünschten Behandlungen lassen
keinen Rückschluss auf das Vorliegen einer Geschlechtsinkongruenz
oder Geschlechtsdysphorie zu.
5.) Früher: Die Psychotherapeutin bzw. der Psychotherapeut muss
feststellen, ob »wirklich« eine Transsexualität vorliegt. Heute:
Die Psychotherapeutin bzw. der Psychotherapeut sollte jene Faktoren
erfassen, aus denen sich das Erleben der Geschlechtsdysphorie
speist. Weder ist es Aufgabe der Diagnostik zu prüfen, ob es sich
um eine früher sogenannte wahre Transsexualität handelt, noch, ob
die oder der Betreffende wirklich das andere Geschlecht hat bzw.
schon einmal hatte.
6.) Früher: Die Aufgabe der Psychotherapie ist es, die
Hilfesuchenden möglichst von ihrer Transsexualität zu heilen, das
heißt, den Wunsch nach somatischen Behandlungen zu beseitigen.
Heute: Die Aufgabe der multimodalen Therapie ist es, die
Geschlechtsdysphorie signifikant und nachhaltig zu reduzieren.
7.) Früher: Nur wenn die Psychotherapie dieses Ziel nicht erreicht
(s.o.), dürfen somatische Behandlungen im Sinne einer ultima ratio
genehmigt werden. Heute: Das Ziel der multimodalen Therapie liegt
in dem Erreichen einer bestmöglichen Lebensqualität unabhängig von
der gelebten Geschlechtsform. Es wird empfohlen, die somatischen
Behandlungen im Verlauf einer transsexuellen Entwicklung und bei
Bedarf auch darüber hinaus psychotherapeutisch zu begleiten.
8.) Früher: Verheiratete Personen müssen sich scheiden lassen,
bevor ein juristischer Geschlechtswechsel vollzogen werden kann.
Heute: eine bestehende Ehe stellt kein Hindernis für eine
Personenstandsänderung dar.
9.) Früher: Behandlungsmaßnahmen zur Veränderung des
Genitalbereichs und zur Etablierung von Infertilität sind
Voraussetzungen für die Personenstandsänderung. Heute: Weder
chirurgische Veränderungen des Brust- und Genitalbereichs noch die
Etablierung von Infertilität sind Voraussetzungen für die
Personenstandsänderung.
Zu Kapitel 3
Inhaltsverzeichnis der Standards of Care:
1.) Anliegen und Anwendung der Standards of Care
2.) Globale Anwendung der Standards of Care
3.) Der Unterschied zwischen Geschlechtsnichtkonformität und
Geschlechtsdysphorie
4.) Epidemiologische Überlegungen
5.) Überblick über therapeutische Ansätze zur Behandlung der
Geschlechtsdysphorie
6.) Diagnostische Einschätzung der Geschlechtsdysphorie bei Kindern
und Jugendlichen
7.) Psychische Gesundheit
8.) Hormontherapie
9.) Reproduktive Gesundheit
10.) Stimm- und Kommunikationstherapie
11.) Operationen
12.) Postoperative Nachsorge und Nachuntersuchungen
13.) Lebenslange Prävention und hausärztliche Versorgung
14.) Übertragbarkeit der Standards of Care auf Menschen, die in
Institutionen leben
15.) Übertragbarkeit der Standards of Care auf Menschen mit einer
Störung der Geschlechtsentwicklung
Zielgruppen
Zielgruppen für das Buch sind sowohl psychotherapeutische und
ärztliche Fachkräfte aus den Bereichen Endokrinologie, Gynäkologie,
Urologie und plastischer Chirurgie als auch interessierten
Laien.
Fazit
Das Buch gibt einen sehr guten anwendungsorientierten Überblick zur
Thematik der aktuellen Transgender-Gesundheitsforschung. Es soll
aber ausdrücklich nicht ein Lehrbuch ersetzen, das auf den
deutschsprachigen Raum abgestimmt ist.
Rezensent
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 25.03.2015 zu: Hertha Richter-Appelt,
Timo O. Nieder (Hrsg.): Transgender-Gesundheitsversorgung.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 203 Seiten. ISBN
978-3-8379-2424-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17673.php.
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