Rezension zu Individualpsychologie in Berlin (PDF-E-Book)
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse Heft 55 (1/2015)
Rezension von Andrea Huppke
Bruder-Bezzel, Almuth (Hg.): Individualpsychologie in Berlin
Die Individualpsychologie nach Alfred Adler hat in Berlin eine
lange und wechselvolle Geschichte, die 1924 mit der Gründung einer
Ortsgruppe begann und heute mit dem Ausbildungsinstitut der
Alfred-Adler-Gesellschaft fortbesteht. In dem vorliegenden Band
sind Aufsätze zu einzelnen Stationen dieser Geschichte und zu
deren Protagonisten versammelt. Einigermaßen frappierend ist die
»Karriere« dieser zunächst über viele Jahre eher unorganisierten
und wenig professionalisierten Bewegung, die jedoch eine
außerordentliche Aktivität an den Tag legte, wenn es um Kurse,
Vorträge, Beratungen und Kongresse in sozialen und pädagogischen
Einrichtungen ging oder darum, Texte zu veröffentlichen.
Eine psychotherapeutische Ausbildung der Individualpsychologen
hatte es nicht gegeben, bis unter M. H. Göring, der eine
Lehranalyse bei dem Individualpsychologen Leonhard Seif gemacht
hatte und sich selbst zu dieser Richtung zählte, 1936 das Deutsche
Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie
gegründet wurde. Dort bildeten die Adler-Schüler neben den Freud-
und Jung-Schülern eine eigene Gruppe. Die Tatsache, dass nach der
Flucht und Emigration der jüdischen Kollegen die Verbliebenen (u.
a. Leonhard Seif, Fritz Künkel, Felix Scherke) sich »unter der
schützenden Hand« von Göring recht schnell auf die neuen
Bedingungen einstellten und zu ausgewiesenen Psychotherapeuten
wurden, wird zu den schmerzvolleren Aspekten der Geschichte dieser
Bewegung gehören – ebenso wie für die beiden anderen Gruppen. Da
die zuvor bereits zahlenmäßig kleine Gruppe nun noch dezimiert
worden war, dauerte es nach dem Kriegsende fast zwei Jahrzehnte,
bis die bundesweite Alfred-Adler-Gesellschaft (DGIP) ins Leben
gerufen wurde, und weitere 15 Jahre, bis sich die ersten
Ausbildungsinstitute in der Tradition der Individualpsychologie
gründeten. In Berlin begannen die Aktivitäten erst in den 80er
Jahren wieder und kulminierten 1990 in der Gründung eines eigenen
Ausbildungsinstituts.
Almuth Bruder-Bezzel hat die Abfolge der Ereignisse in ihrem
Aufsatz zusammengefasst. Zum Gründungsprozess des heutigen
Berliner Institutes enthält der Band einen Artikel von Wolfgang
Lehnert, der lange Jahre Mitglied in dessen Vorstand war. Ein
weiterer Beitrag behandelt den hochinteressanten Werdegang von
Manès Sperber, der bereits mit 19 Jahren ein von Adler
geförderter praktizierender Psychologe war und von diesem
22-jährig nach Berlin geschickt wurde, um ein Gegengewicht zum
religiös-konservativen Fritz Künkel zu bilden. Aufgrund von
Sperbers Hinwendung zum Kommunismus kam es 1931 zwischen Künkel
und ihm zur Spaltung der Gruppe. Adler gab Sperber die Schuld daran
und brach mit ihm, was Sperber zeitlebens schmerzte. Andreas Peglau
belegt in seinem Aufsatz über »Psychoanalyse und
Individualpsychologie im Nationalsozialismus«, dass beiden Schulen
in dieser Zeit ein wissenschaftlicher Charakter zugebilligt wurde
und beide als solche zunächst nicht diffamiert wurden. Die Person
Görings scheint während der NS-Zeit direkten und meist
schützenden Einfluss genommen zu haben. Sabine Siebenhüner
beschreibt in ihrem fundierten Aufsatz über »Fritz Künkels
Beitrag zur individualpsychologischen Neurosenlehre« dessen
weltanschaulich und religiös gefärbte Lehre von der Entwicklung
der Persönlichkeit und der Entstehung der Neurosen, die ihn in
Gegensatz zu Adler brachte und die schließlich zum Bruch zwischen
beiden führte.
Insgesamt gibt die Aufsatzsammlung einen guten und facettenreichen
Überblick über die anfangs konflikthafte, aber auch von viel
Engagement getragene Geschichte dieser in Berlin eher kleinen
Gruppierung.
Andrea Huppke (Berlin)