Rezension zu Verbrecher, Bürger und das Unbewusste
Richter ohne Robe 1 2015 – 27. Jahrgang
Peter Möhring: Verbrecher, Bürger und das Unbewusste
Die Suche nach einer Erklärung für das Entstehen von
Kriminalität ist so alt wie die Kriminalität selbst. Die Palette
reicht von archaischen Vorstellungen der Loslösung von Gott über
biologische Erklärungen des »geborenen« Verbrechers bis zur
soziologischen Definition, dass der Verbrecher das Produkt seiner
Umwelt sei. Die biologistischen Theorien haben insbesondere durch
die Gen- und Hirnforschung neue Nahrung erhalten. Gleichzeitig sind
die soziologischen Forschungen über die gesellschaftlichen
Bedingungen, die einen Straftäter beeinflusst haben können
(Arbeitslosigkeit, Bildungsferne, Verlust sozialer Strukturen,
Einfluss virtueller Welten usw.), weiter fortgeschritten. Der Autor
dieses Bandes versucht, die kriminologischen Erklärungsansätze
mit der Psychoanalyse zu verbinden. Obwohl solche Versuche nicht
neu sind (der Autor verweist auf Arbeiten des Analytikers Franz
Alexander mit dem Strafverteidiger Hugo Staub aus dem Jahre 1928),
bestehen in der Forschung noch erhebliche Lücken. So hat sich die
Psychoanalyse mit der Bedeutung der Familie, insbesondere mit ihrem
Einfluss auf kriminelles Verhalten, noch nicht hinreichend befasst.
Ein ganzes Kapitel des Buches befasst sich daher mit den
Erkenntnissen, die die Psychoanalyse zum Verhältnis von
Kriminalität und Familie beitragen kann. Die kriminologische
Lerntheorie behauptet seit langem, dass Vorbild und Beispiel
prägend für kriminelles Verhalten sein können. Die Psychoanalyse
hat diese Theorie weiter ausdifferenziert. Die Rolle der
Gewaltkriminalität ist ein weiterer Indikator für eine intakte
Gesellschaft. Mit Recht weist der Autor darauf hin, dass
Wirtschafts- oder Umweltkriminalität einen höheren
gesellschaftlichen Schaden anrichten als alle Gewalttaten zusammen.
Gleichwohl besitzen Gewalttaten in der öffentlichen Aufmerksamkeit
einen viel höheren Stellenwert – und wenn man die Reaktion auf
Intelligenztaten der jüngsten Vergangenheit mit Schäden im
dreistelligen Millionenbereich betrachtet offensichtlich auch in
der Praxis der Rechtsprechung. Kriminologie und Psychoanalyse sind
gleichermaßen gefordert. Hierfür bietet der Autor ein integratives
Modell an. Damit dieses nicht nur auf einer abstrakt-theoretischen
Ebene stecken bleibt, ergänzt er den Band um vier »kriminelle
Lebensgeschichten«, bei denen psychische und soziale Faktoren in
unterschiedlicher Gewichtung zur kriminellen Entwicklung beitragen.
Die Entwicklungen der vier dargestellten Personen machen
exemplarisch deutlich, wie sehr das gesellschaftliche »Außen« im
psychischen »Innen« seinen Niederschlag findet. Forschung und
Praxis stehen auch nach 100 Jahren noch am Beginn ihrer
Erkenntnisse. Diese einem weiten Leserkreis in gedrängter
verständlicher Form zugänglich zu machen, ist das Verdienst
dieses Bandes.
(hl)