Rezension zu Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps

Zeitschrift für Sexualforschung, Heft 4, 27. Jahrgang, Dezember 2014

Rezension von Uta Kanis-Seyfried

Sebastian Winter. Geschlechter und Sexualitätsentwürfe in der SS Zeitung ›Das Schwarze Korps‹

In seiner 2013 veröffentlichten Dissertation analysiert Sebastian Winter nationalsozialistische »Geschlechter und Sexualitätsentwürfe in der SS Zeitung ›Das Schwarze Korps‹ auf der Grundlage psychoanalytisch sozialpsychologischer Forschungsansätze. Geschichtswissenschaft einmal anders: Statt wie andere Autoren ebenfalls auf dem rein deskriptiv diskursanalytischen Pfad der aktuellen Antisemitismus Forschung zu wandeln (S. 9) bzw. individuellen Produktions- und Rezeptionsformen der völkischen Weltanschauung nachzugehen (S. 27), macht es sich Winter zur Aufgabe, zwei verschiedene Fragenkomplexe zu verfolgen, um mit deren Ergebnissen »spezifische Defizite in der bisherigen Geschichtsschreibung über die völkische Bewegung zu schließen« (S. 27). Die als Primärquelle ausgewählte NS Zeitung als allgemeines Sinnstiftungsangebot wird zum einen auf einer qualitativ empirischen Ebene analysiert, wobei Fragen nach antisemitischen Stereotypen, nach Geschlechterpolarität sowie nach einer spezifischen nationalsozialistischen Sexualmoral im Zentrum dieser Untersuchungsmethode stehen. Auf einer anderen theoretischen, sozialpsychologischen bzw. psychoanalytischen Ebene werden gleichzeitig Kritiken in den klassischen Ansätzen dieser Disziplinen entwickelt (S. 27).

Im ersten Teil seiner Untersuchung steckt der Autor den Rahmen ab, in dem er »Volk, Antisemitismus und Geschlecht« untersucht. Dabei bietet er eine gründliche Aufarbeitung sämtlicher gängiger Perspektiven der einschlägigen Fachliteratur, um seine Eingangshypothese zu bestätigen, dass die »völkisch antisemitische Bewegung« eine »in sich stringente Weltanschauung, eine nationalsozialistische Moral« entwickelte, die nicht nur zur »Richtlinie» staatlicher Politik sondern auch für Alltagshandlungen wurde (S. 7). Als Quelle schien Winter das »Hausblatt der Elite , Vorbild und Terrororganisation SS« besonders geeignet, da sich in ihm »besonders ausführliche und ausgearbeitete programmatische Positionsbestimmungen finden« (S. 26), deren sinnstiftende Wirkmacht sich in erster Linie über Emotion, Glauben und Fühlen bei den Rezipienten entfaltet habe. »Der Faschismus als eine satanische Synthese von Vernunft und Natur« (Zitat Horkheimer, S. 7) trete in der Geschlechter und Sexualitätsordnung als Modell aller Dualismen besonders hervor. Letzeres sei »ein neuralgischer Punkt« gewesen, »an dessen Lösung die völkische Harmonie sich messen lassen musste« (S.8). An die Stelle »lüsternhaften Begehrens« zwischen Mann und Frau sei im nationalsozialistischen Weltbild die »kameradschaftliche Gemeinschaft« getreten (S.8), »eine Existenz ohne alle Ambivalenz und Dilemmatik – eine ›Desexualisierung des Sexus (Adorno)‹ oder ›Liebe ohne Liebe (Baumann)‹, die für Frauen und Männer gleichermaßen als ›Heil‹ verlockend sein konnte" (S. 411). Die dennoch persistierenden und als beunruhigend und störend empfundenen Spannungen durch die Geschlechterdifferenz seien dagegen nach außen projiziert und durch »den Juden«
als Feindbild repräsentiert worden. (S. 8) »Geschlechtliche Vorgänge« sollten demnach der »moralischen Bewertung entzogen werden und vollkommen unter eugenischer und rassenhygienischer Bewertung verstanden werden« (S. 402). Im Gegenzug sollte die »Ausmerzung« der »heil losen ›Gegenrasse‹« der Juden »die Welt erlösen» (S. 8).

Die SS Zeitschrift als »Leitorgan der nationalsozialistischen Weltanschauungsproduktion« (S. 26) und ihre programmatische Mobilisierung der Leserschaft fand weite Verbreitung, zwischen 1935 und 1939 vervielfachte sich ihre Auflage von 70 000 auf 1 080 000 Exemplare (S. 142). Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Geschichtswissenschaft bislang nicht eingehender mit dieser Publikation befasst hat (S. 142). Dieses Forschungsdesiderat zu bearbeiten und in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen, ist an sich bereits gerechtfertigt. Es gleichzeitig in Verbindung zu bringen mit psychodynamischen und gesellschaftlichen Fragestellungen im Hinblick auf die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus und seinem Zusammenhang mit geschlechtlichen Stereotypen und Sexualitätsentwürfen ist ein zusätzlicher Verdienst des Sozialpsychologen und Soziologen Sebastian Winter. Indem er sich von einer einseitigen deskriptiv diskursanalytischen Ausrichtung distanziert und einen transdisziplinären Ansatz bevorzugt, in dem auch psychoanalytisch sozialpsychologische Analysen zum Tragen kommen, gelingt es ihm, gemäß seiner Zielvorstellung, eine psychoanalytisch unterfütterte emotionsgeschichtliche Analyse des völkisch antisemitischen Diskurses hinsichtlich seiner Geschlechter und Sexualitätsentwürfe am Beispiel der SS Zeitschrift vorzulegen.

Die Darstellung verschiedener sozialphilosophischer, ideologiekritischer und psychoanalytischer Ansätze der Antisemitismusforschung orientiert sich im ersten Kapitel am Mainstream klassischer subjekttheoretischer Ansätze, die »den völkisch antisemitischen Diskursen korrespondierende Psychodynamiken erfassen« (S. 28). Adorno, Horkheimer, Baumann, Freud, Theweleit, Mitscherlich und Grunberger verstünden, so das Resümee Winters, Antisemitismus als kulturell vermitteltes Muster der psychodynamischen Bewältigung von Konflikterlebnissen, die im Zusammenhang der männlichen Geschlechtsidentitätsgenese verortet werden. Eine zweite Gemeinsamkeit dieser klassischen Theorien sei, dass »dieses Muster aus einer Kombination der Abwehrmechanismen der Spaltung, der Projektion und der Verschiebung« bestehe (S. 135). Darüber hinaus fokussierten alle in ihrer Forschung die Androzentrik: nach Antisemitinnen werde in ihren Darlegungen erst gar nicht gefragt.

Das zweite Kapitel der Arbeit widmet sich ausführlich der textlichen Analyse und ihrer Interpretation sowie den Rezipienten/innen von »Der schwarze Korps« und orientiert sich dabei an der Methodik der kritischen Diskursanalyse (S. 144). Extrahiert werden in diesem Zusammenhang unter anderem eine Synthese von Religion und Wissenschaft als zentrales Element der völkischen Weltanschauung (Verwirklichung, S. 173), die Vorstellung einer Synthese von Persönlichkeit und Volksinteressen (Das Ich in der Gemeinschaft, S. 188) sowie die in der Zeitschrift propagierten Geschlechterentwürfe als Ausdruck »volksgebundener Instinkte« (Polarer Gegensatz, S. 208). Als Zwischenergebnisse dieser empirischen Analyse hält der Autor fest, dass in den Texten ein harmonisch fröhlicher Dualismus der Geschlechter unter dem Vorzeichen allumfassender Volksgemeinschaft artikuliert wurde, dass Homosexualität scharfer Bekämpfung unterlag und eine Abgrenzung von einer individuell lüsternen Sexualität hin zu einer kollektiv verantwortungsvollen erfolgte (S. 325¬-328).

Das eingangs formulierte Ziel der Studie, am Beispiel der Zeitung den völkisch antisemitischen Diskurs im Hinblick auf seine Geschlechter und Sexualitätsentwürfe psychoanalytisch und emotionsgeschichtlich zu analysieren, wird im dritten Kapitel der vorliegenden Forschungsarbeit erreicht. Hier werden die in den ersten beiden Teilen aufgearbeiteten Grundlagen der bisherigen Geschlechter , Sexualitäts und Antisemitismusforschung zusammengeführt. In Unterkapiteln wie »Charakter und Aneignung«, »Leib und Sprache« oder »Weiblichkeits- und Männlichkeitsdilemma« kommt die anvisierte symbol , interaktions und differenztheoretische Reformulierung der psychoanalytischen Sozialpsychologie zur Anwendung.

Sebastian Winter hat bereits mit der Auswahl der SS Zeitung »Das schwarze Korps« für seine Forschungsarbeit eine Lücke in der Antisemitismus und Geschlechteridentitätsforschung geschlossen. Darüber hinaus scheint der von ihm gewählte interdisziplinäre Untersuchungsansatz durchaus erweiterungsfähig zu sein. Künftig wissenschaftlich Forschenden bietet das Buch nicht nur einen gut recherchierten und klar strukturierten Überblick über die gängigen psychoanalytisch sozialpsychologischen Theorien und Grundlagen, sondern auch eine differenzierte, kritische Auseinandersetzung und Überprüfung ihrer Brauchbarkeit und Anschlussfähigkeit im Hinblick auf die von Winter formulierten Fragestellungen. »Leichte Kost« sind die Ausführungen des Autors jedoch nicht, kulturwissenschaftlich orientierten Forschern mögen sie zu theorielastig sein, zu wenig an gesellschaftlichen und individuellen Gegebenheiten, Erfahrungen, Gefühlen und Sichtweisen orientiert. Doch dies war seitens des Autors auch nicht intendiert.

Uta Kanis-Seyfried

www.thieme.de

zurück zum Titel