Rezension zu Alfred Lorenzer (PDF-E-Book)
The other scene. Psychoanalysis and its applications April 2015
Rezension von Dr. Maria Becker
The other scene. Psychoanalysis and its applications April 2015,
Dr. Maria Becker
Ellen Reinke (Hg.): Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines
interdisziplinären Ansatzes
Das umfangreiche Werk Alfred Lorenzers gleicht in seiner
metatheoretischen wie klinischen Bedeutung vielfach einem noch
nicht gehobenen Schatz. Es umfasst und verknüpft konzeptionelle
Denkansätze der Traumaforschung, des Leib-Seele-Problems mit
Symbol- und Subjekttheorien, die therapeutische Arbeit am
subjektiven Leid des einzelnen Menschen mit einem
gesellschaftskritischen und kulturtheoretischen Verständnis. Mit
seinem Begriff des szenischen Verstehens und der bestimmten
Interaktionsformen machte Lorenzer die »unbewussten Phantasien«
Freuds einem interaktionellen wie auch dialektischen Verständnis
von Gesellschaft und Subjekt zugänglich, und er ermöglichte mit
seiner Erweiterung des Symbolbegriffs als Sprach- und präsentatives
Symbol lange, bevor dies vom Mainstream der psychoanalytischen
Gemeinschaft aufgenommen werden konnte, einen verstehenden Zugang
zu den vor- und nichtsprachlichen interaktiven Aspekten und maß
damit Kunstformen eine zentrale erkenntnistheoretische Bedeutung
zu.
So ist es sehr erfreulich, dass mit dem Buch Alfred Lorenzer. Zur
Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes, herausgegeben von
Ellen Reinke, nun eine Sammlung von Arbeiten vorliegt, die
Lorenzers Denken und seine Konzeptionen würdigen und einem
aktuellen Verständnis zugänglich machen wollen. Die Autorinnen und
Autoren sind teilweise Weggefährten und Schülerinnen und Schüler
von Lorenzer. Im Vorwort skizziert Ellen Reinke Leben und Werk
Alfred Lorenzers. Der erste Teil des Buches umfasst mit Arbeiten
zum Traumabegriff, dem Leib-Seele- Problem und dem Subjektbegriff
Grundlagentexte und darüber hinaus einen Beitrag, der sich aus
Sicht der Objektbeziehungs- und Subjektivitätstheorien Kohut/'scher
Prägung kritisch mit Lorenzers Werk auseinandersetzt. Im zweiten
Teil befinden sich Arbeiten zu gesellschaftskritischen und
kulturtheoretischen Anwendungen des Lorenzerschen Denken im
Bereich, Film, Architektur und Jungendmusikkultur.
Den Beginn machen Gottfried Fischer und Monika Becker-Fischer. In
»Zwischen Erlebnis und Geschehnis« beschäftigen sie sich mit dem
Traumabegriff bei Alfred Lorenzer. Sie zeigen, dass der Begriff des
Traumas wie der der posttraumatischen Störung die den herkömmlichen
empirischen Forschungsansätzen implizite Spaltung von Subjektivität
und Objektivität aushebeln. Erst der von Lorenzer entwickelte
dialektische Begriff der traumatischen Situation denkt das
subjektive traumatische Erleben mit den objektiven
traumatisierenden Verhältnissen zusammen. Damit wird zugleich die
Einseitigkeit des gängigen diagnostischen Manuals deutlich und die
ihnen zugrunde liegenden nomologischen Denkansätze (wenn A, dann B)
und szientistischen Erkenntnisformen kritisiert, da hier
biologische Erklärungen der Abwehr beunruhigender Einsichten
dienen.
In »Hermeneutik des Leibes. Psychoanalyse zwischen Leiblichkeit und
Vorstellungsarbeit« zeichnet Ellen Reinke Lorenzers Fundierung des
Leib- Seele-Problems anhand seines Erkenntnisweges nach. Lorenzer
bezieht sich dabei auf Freuds Aphasie-Studien, die ihren Fortgang
in seinen grundlegenden Erkenntnissen zur Hysterie genommen haben.
Indem Freud den körperlichen Ausdruck gewissermaßen »beim Wort«
nahm und ihn mit der Sprache ins Verhältnis setzte, wies er den Weg
zum »missing link«, den Lorenzer mit seiner Konzeption des
szenischen Verstehens, der bestimmten Interaktionsformen sowie der
sprachsymbolischen und präsentativen Symbole konsequent fort- und
ausgeführt hat. Reinke arbeitet den zentralen Stellenwert
sinnlich-symbolischer Interaktionsformen sowie präsentativer
Symbole heraus, indem sie als Schalterfunktion für die
Subjektkonstituierung wie als Koppelungsstelle des Individuums mit
dem umgebenden gesellschaftlichen Gesamt fungieren. Heribert Wahl
setzt sich in »Das Symbol bei Alfred Lorenzer. Rezeption und
Weitung einer innovativen Konzeption« kritisch mit dem
Symbolbegriff Lorenzer auseinander. Insbesondere hält er auch in
»Würdigung des Konzeptes präsentativer Symbolik« die Bindung des
Symbolischen an die Sprache bei Lorenzer für zu eng. In Anerkennung
der innovativen Kraft des Lorenzerschen Ansatzes bringt er den
Klischee- Begriff in Verbindung mit seinem Konzept der
Diabolisierung. Er versteht damit Desymbolisierung nicht nur als
Negierung/Ausblendung eines Zusammenhanges, sondern als eine
spezifische Form der Verwischung und Mythologisierung von etwas
Unerträglichem – ein Konzept, das m.E. Ähnlichkeiten zum Begriff
des Phantasmas bei Erdheim aufweist.
In »Über die Widerständigkeit des Subjekts. Alfred Lorenzers
Auslegung der Freud/'schen Erkenntnis des Unbewussten« zeigt
Bernard Görlich, dass die Widerständigkeit des Subjekts bei
Lorenzer in der »begrifflichen Trias von Soma, Psyche und
Kulturprozess« wurzelt. Er führt aus, wie das je spezifische
Subjekt-Sein des einzelnen Menschen aus der konkreten Einmaligkeit
des Mutter-Kind-Paares hervorgeht, die sich als dynamisches
Ineinander des leiblich-organismisch wie kulturell-gesellschaftlich
organisierten Prozesses bildet. Wesentlich dabei ist das Konzept
präsentativer Symbolik wie der sinnlich-symbolischen
Interaktionsformen als jene Tiefenschicht der Persönlichkeit, in
der Görlich den Stachel des Widerständigen verortet.
Der Text von Alfred Lorenzer & Bernard Görlich: »Lebensgeschichte
und Persönlichkeitsentwicklung im Spannungsfeld von Sinnlichkeit
und Bewusstsein« ist eine »neu kommentierte Einführung in Lorenzers
Subjekttheorie«, in eben die Bedeutung und Entstehung sinnlich-
symbolischer wie sprachsymbolischer Interaktionsformen für die
Subjektentwicklung noch einmal expliziert wird.
Es folgen im zweiten Teil sieben sehr unterschiedliche Arbeiten,
die Lorenzers Konzept der tiefenhermeneutischen
Kulturinterpretation auf Literatur, Film, Architektur sowie
Jugendmusikkultur anwenden. Achim Würker beschreibt in
Literaturinterpretation als psychoanalytische Hermeneutik die
methodische Vorgehensweise Lorenzers in seinen Literaturseminaren.
In dem von ihm moderierten Gruppenprozess wurden die durch den Text
ausgelösten Irritationen in Auseinandersetzung mit dem Inhalt
aufgegriffen und reflektiert, um den latenten Sinn des Textes in
Hinsicht auf »sozial relevante Problempanoramen« herauszuarbeiten.
Würker zeigt dies beispielhaft in der Bearbeitung vom Roman »Der
Vorleser« von Bernhard Schink und führt aus, wie in der
Geschlossenheit des Romans zugleich die Zerrissenheit einer
Mutterimago gefasst ist. Der Text eröffnet Zugangsweisen zu
Literatur gerade auch, wenn die Reaktion als Leserin in Langeweile
oder gar Abscheu besteht. Die folgende Arbeit »Tiefenhermeneutische
Literaturinterpretation« von Alfred Lorenzer & Achim Würker – ein
historischer Text – ist eine nicht überarbeitete Vorlage für einen
in englischer Sprache veröffentlichten Text, der in sehr
komprimierter Form die Besonderheiten der Lorenzerschen
Tiefenhermeneutik in der Bearbeitung von literarischen Texten
herausarbeitet. Er nimmt Abgrenzungen zur Rezeptionsästhetik wie
auch traditionellen Literaturinterpretationen vor und ist insofern
eine historische wie aktuelle Standortbestimmung. Es wird
einsichtig, dass entgegen der Tendenz der Pathologisierung
analysierter Figuren oder Autoren der zu analysierende Sinn sich
auf kollektive Brüche bezieht, die im Text eine Fassung finden.
In »Nach der Stille« oder »Intimität und soziales Leid in Israel
und Palästina« von Sigrid Scheifele geht es um einen Film, der die
sehr ergreifende Begegnung zwischen der israelischen Mutter eines
bei einem Selbstmordattentat ermordeten Sohnes und der
palästinensischen Mutter des Attentäters nachzeichnet. Mit der
Beschreibung ihrer heftigen Reaktionen auf den Film und deren
Analyse im Kontext des Filmes und seiner Entstehungsgeschichte wird
die latente Aussage des Filmes nachvollziehbar: das »Leben mit dem
Unerträglichen« – die »nahe Ferne«, die der
Israel-Palästina-Konflikt den Betroffenen zumutet.
»Diva-Vorstellungen. Von der Vorstellung des geraubten Objekts zur
inneren Objektbeziehung« von Timo Storck und Ellen Reinke stellt
den französischen Film »Diva« von 1981 vor, in dem mit dem Einbruch
des postmodernen Stils auch die Ästhetisierung eine veränderte
Bedeutung einnimmt. Storck und Reinke bestimmen diese veränderte
Bedeutung anhand des spezifischen Ineinanders von Diskursivität und
Präsentativität und darüber als Ineinander des inneren und äußeren
Blickes. Die AutorInnen bestimmen als latenten Sinn der filmischen
Erzählung die Entwicklungsgeschichte der Protagonisten hin zu einem
reifen Selbst im Kontext einer durch Oberflächenästhetik geprägten
Postmoderne.
Klaus Köberer arbeitet in »Learning from Lorenzer. Architektur
zwischen symbolischem Raum und visueller Symbolik« anhand der
Auseinandersetzung mit einem Lorenzertext und einer Abhandlung von
Venturi, Brown und Izenour von 1977 Unterschiede im
Symbolverständnis bezogen auf Architektur und öffentlicher Raum
heraus. Auch hier wird wie im Text zuvor die spezifische Verbindung
von diskursiver und präsentativer Symbolik eingeführt. Erst
hierdurch werde das Symbol vollständig, zu etwas Vorgefundenen wie
auch Geschaffenen. Architektur und Städtebau kann die in der
Moderne erforderlichen Sublimierungsleistungen des individuellen
Subjektes so unterstützen oder unterminieren, ebenso wie sie durch
spezifische Raumerfahrungen die Möglichkeiten des Verweilens
schaffen wie auch verhindern kann. Hierin wird die Funktion
präsentativer Symbolik als Scharnier zwischen Individuum und
umgebende Kultur erfahrbar.
Ellen Reinke untersucht in »Im Spiegel der Jugendmusikkultur.
Kriegskinder und der Transfer zwischen den Generationen« in
Anlehnung an Lorenzers Methode die Jugendmusikkultur der
Nachkriegsgeneration. Im Mittelpunkt steht der Song »Nobody knows
the trouble I/'ve seen« in den Interpretationen von Louis Armstrong
und Elvis Presleys aus dem Jahr 1958. Hierbei wurden über die
offensichtliche Bedeutung im Rahmen eines besonderen
zeitgeschichtlichen Generationskonfliktes – die Identifikation mit
den Siegern als bessere Väter, sowie später dann deren
Entidealisierung – die im Protest überlagerte Trauer um das und
Sehnsucht nach dem Verlorenen vorstellbar, nicht nur durch den
verlorenen Krieg und die Erfahrung Hitlerdeutschlands, sondern den
darin verwobenen Generationenkonflikt und die sich vollziehenden
gesellschaftlichen Veränderungen.
Den Abschluss bildet Subjektivität der Hoffnung und Hoffnung der
Subjektivität von Anas Nashef. Auch Nashev setzt sich mittels des
szenischen Verstehens mit dem Israel-Palästina-Konflikt
auseinander. Er verfolgt die These von Zimmermann (2010), der die
»Angst vor dem Frieden« als ein zentrales Moment in diesem Konflikt
sieht. Nashev möchte eine Vorstellung für das dynamische Ineinander
des individuellen wie kollektiven Subjektes in diesem Konflikt
entwickeln. Als konkretes Material dienen ihm Begegnungen mit dem
israelischen Künstler Alon, dem 22-jährigen palästinensischen
Studenten Naji wie mit dem 40- jährigen Israeli Igal, dessen Eltern
Holocaust-Überlebende sind. In allen Gesprächen zeigen sich Spuren
dieses Konfliktes als das subjektive Ringen darum, inmitten des
Soges zur Dichotomisierung mit der eigenen geschichtlichen
Gewordenheit und traumatischen Verletzlichkeit gesehen zu
werden.
Insbesondere die Arbeiten des zweiten Teils fußen explizit auf dem
Konzept präsentativer Symbolik und dem der sinnlich-symbolischen
Interaktionsformen. Eben diese werden in den Texten jedoch oft sehr
unterschiedliche gefasst, sogar innerhalb einer Arbeit werden die
Begriffe sinnlich-unmittelbare Interaktionsformen,
sinnlich-symbolische Interaktionsformen oft nicht klar beschrieben
und auch die Komplettierung des Symbols durch den präsentativen und
diskursiven Bezug bleibt schwammig. Das von Lorenzer selbst
(anscheinend) methodisch uneindeutig ausgeführte Konzept muss zur
Verwirrung führen, wenn wie hier historisch und theoretisch eng am
usprünglichen Lorenzer gearbeitet wird. Dem Anliegen, seine
Aktualität deutlich zu machen, wäre mehr gedient gewesen, wenn die
auf der Theorie von Lorenzer fußenden Weiterentwicklungen wie
beispielsweise von Zepf zur Affekttheorie oder von Niedecken zum
Zusammenhang diskursiver und präsentativer Symbolik sowie deren
Anwendung auf die Musik einbezogen worden wären. Dennoch ist das
Buch eine Bereicherung für jeden, der sich dem
tiefenhermeneutischen Konzept Lorenzers annähern will. Dies
beinhaltet, darauf weist Reinke im Vorwort hin, die systematische
Auseinandersetzung und Reflexion in einer Gruppe, aber auch – das
zeigt eben die Anwendung des tiefenhermeneutischen Konzeptes auf
psychoanalytische musiktherapeutische Theorie und Praxis – eine
Auseinandersetzung mit den strukturellen Eigenschaften des
jeweiligen Mediums in seiner gesellschaftlich-historischen
Erscheinung. Dessen Einbeziehung kann die beklagten Unklarheiten
des Buches klären helfen.
www.otherscene.org