Rezension zu Lektüren eines Psychoanalytikers (PDF-E-Book)

Eppendorfer Zeitung für Psychiatrie 30. Jahrgang, Ausgabe 02/2015

Rezension von Verena Liebers

Psychoanalytiker legt seine Romanhelden auf die Couch. Analytische Literaturwissenschaft: Tilmann Moser betrachtet Protagonisten als Patienten

Tilmann Moser ist nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch Literaturwissenschaftler. Im vorliegenden Buch verknüpft er diese Professionen und legt Romane quasi auf die Couch. Unter Textinterpretation versteht man üblicherweise den Versuch, den Text in seiner Absicht und Wirkung umfassend zu erschließen. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft verwendet dafür eine spezielle Herangehensweise: Sie betrachtet entweder die Erzählungen als Träume des Autors oder ¬– so wie es Tilmann Moser im vorliegenden Band versucht – die Romanhelden als Patienten.

Diese Perspektive ist unzweifelhaft eine sehr spezielle, denn gewöhnlich besteht zum Analysanden ein verbaler oder auch begrenzt körperlicher Kon¬takt. Der Analytiker hört zu, beobachtet und nutzt seine eigenen Gefühle – die Gegenübertragung – wie Wegweiser auf einer Landkarte, um sich den Problemen des Erkrankten zu nähern. Moser verwendet diese Techniken nun auch, um zu lesen, überprüft sein eigenes Grauen und Schaudern an manchen Textstellen und erschließt sich dadurch den Charakter der Protagonisten. Der Autor sieht darin einen doppelten Gewinn: Einerseits kann er durch diese Methode Zugang zu Romanen finden, andererseits kann er durch die Protagonisten für seine Arbeit als Psychoanalytiker lernen. Er übt die Einfühlung in Personen und ihre Ausdrucksform, die ihm dank der Literatur begegnen. Auf diese Weise seziert er zwei Romane von Wilhelm Genazino, außerdem »Der Wiedergefundene Freund« von Fred Uhlman, das Theaterstück »War¬ten auf Godot« von Samuel Beckett, Philip Roths »Empörung«, »Die Klavierspielerin« von Elfriede Jelinek sowie »Feuchtgebiete« und »Schoßgebet« von Charlotte Roche. Moser beschreibt tödliche Leere, schmerzliche Einsamkeit und seelische Boden¬losigkeit, die den Protagonisten widerfährt oder auch das Absurde der Liebe. Auch psychoanalytische Be¬trachtungen anderer Autoren bindet er ein, was zwar die Interpretation erweitert, aber den Lesefluss zusätzlich erschwert. Wer die besprochenen Texte kennt, kann durch Mosers Analysen die Vorstellung von den Romanhelden vertiefen. Außerdem lernt der Leser, dass psychoanalytisches Handwerkszeug nicht nur in der Krankenbehandlung eingesetzt werden kann. Interpretation und Deutung sind wissenschaftliche Techniken, die dazu beitragen können, das Leben unter der Oberfläche zu verstehen. Diese Sezierarbeit kann also dem Leser ebenso helfen wie sonst dem Therapeuten, wenn eine Lebensgeschichte schwer zugänglich ist. Die deutende Distanz ermöglicht es laut Moser, auch dann weiter zu lesen, wenn Wortwahl oder Geschichte eher abstoßend daherkommen.

Psychoanalytische Literaturkritik scheint in diesem Sinne auch ein gewisses Kräftemessen zu sein, der Versuch eines verstörten Lesers, sich an der Macht der Erkenntnis wieder aufzurichten.

Einen wirklich umfassenden Blick auf die genannten Werke bekommt der Leser durch Mosers Analysen ebensowenig, wie ein Arzt von der Sektion des Dünndarms auf den gesamten Menschen schließen kann – auch wenn sich in jedem Organ Spuren des Ganzen entdecken lassen. Ein anspruchsvoller Roman ist eben weit mehr als der – möglicherweise pathologische – Charakter seiner Romanhelden. Die »Lektüren eines Psychoanalytikers« sind demzufolge eher als begleitender Denkanstoß für Menschen geeignet, die sich mit Literatur und Psychoanalyse befassen.

Verena Liebers

Tilmann Moser: Lektüren eines Psychoanalytikers

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