Rezension zu Bindung
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Rezension von Claudia Mehlmann
Bernhard Strauß: Bindung
Autor
Bernhard Strauß, Prof. Dr. phil, Dipl-Psych., ist Psychologischer
Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Seit 1996 leitet er als
Direktor das Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
am Universitätsklinikum Jena. Außerdem ist er Fachvertreter für
Medizinische Psychologie und Soziologie, Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie.
Thema
Die von John Bowlby konzipierte Bindungstheorie erlebt seit einigen
Jahren eine Renaissance in der klinischen Forschung und beeinflusst
zunehmend die psychotherapeutische Praxis. Die Grundlagen der
Bindungstheorie sind inzwischen gut erforscht, aber es gab bislang
noch Lücken bei den Möglichkeiten, die Erkenntnisse in der Therapie
praktisch umzusetzen.
Bernhard Strauß trägt die theoretischen Grundlagen und wesentliche
Erkenntnisse der Bindungsforschung zusammen und bereitet sie für
psychotherapeutisch Tätige anschaulich auf. Zahlreiche Beispiele
aus der therapeutischen Praxis sowie der Bindungsforschung
untermauern die Bedeutung des Bindungskonzepts für wichtige Aspekte
der Psychotherapie, wie z.B. der Qualität der therapeutischen
Beziehung, sodass die Relevanz für die therapeutische Praxis
deutlich wird.
Entstehungshintergrund
Bernhard Strauß’ Beschäftigung mit der Bindungstheorie nahm vor 25
Jahren ihren Anfang. Im Fokus standen zunächst die interpersonalen
Konstrukte im Kontext von Psychotherapie sowie Untersuchungen zur
therapeutischen Beziehung in der Einzeltherapie und zur Kohäsion in
der Gruppenpsychotherapie. Die Übersetzung und Anwendung einer
Prototypenmethodologie zur Erfassung von Bindungsmerkmalen
(Erwachsenenbindungs-Prototypen-Rating, EBPR, Strauß et al., 1999)
war dann sein konkreter Einstieg in das Thema. Eindrücklich
schildert Strauß, wie er im Lauf der Jahre KollegInnen begeistern,
Kontakte zu Vertretern anderer Disziplinen und die Thematik als
wichtigen Strang des eigenen Forschungsprogramms etablieren konnte.
So sind viele Arbeiten entstanden, die sich z.B. mit Fragen der
Bindungsmerkmale, Facetten des Bindungskonstrukts oder von
Bindungsaspekten im Kontext psychischer wie körperlicher
Erkrankungen beschäftigen. Auch der lange Zeit schwelende Konflikt
mit der Psychoanalyse war ihm ein Anliegen, dem er sich eingehender
widmet.
Aufbau und Inhalt
In seiner Einleitung skizziert Strauß den historischen Konflikt mit
der psychoanalytischen Gemeinschaft. Eingangs erläutert er die
Bindungstheorie des Engländers John Bowlby, deren Basis der Bericht
für die WHO (1951) über die psychische Gesundheit obdachloser
Kinder war. Bereits hier postulierte er eine wesentliche Annahme
der Bindungstheorie: das Kleinkind braucht eine warme, innige und
dauerhafte Beziehung zu einer Mutter (oder primären Bezugsperson).
Hierdurch geriet Bowlby ins Kreuzfeuer der psychoanalytischen
Kritik, die der Mutterfigur eine andere, nämlich geringere
Bedeutung zumaß. So kam es zur Ausklammerung der Bindungstheorie
aus der Psychoanalyse. Die Gründe dafür lagen zum einen an seiner
Herangehensweise, die der von Freud entwickelten Theorie diametral
entgegengesetzt war. Und zum anderen publizierte er seine ersten
Ideen in einer Zeit der Frontenbildung innerhalb der Britischen
Psychoanalytischen Gesellschaft – den Auseinandersetzungen zwischen
Melanie Klein und Anna Freud. Des weiteren vertrat Bowlby einen
konträren Standpunkt hinsichtlich der Auffassung von Sexualität für
die kindliche Entwicklung: so sei Sicherheit das zentrale Motiv,
womit die Bindungstheorie bis dato gültige Annahmen zur infantilen
Sexualität radikal infrage stellte. Trotz bestehender Divergenzen
stehen beide Theorien heute auf einem common ground: so die Annahme
von Bindung als Phänomen und Motiv, die weitreichenden Folgen eines
Bindungsstatus oder die Hypothesen über die Determinanten sicherer
Bindung (Strauß & Buchheim, 2002).
Das zweite Kapitel widmet sich ausführlich den Grundlagen der
Bindungstheorie. Hierbei erläutert er Gedanken und Theorien zu den
Voraussetzungen für Bindungsentwicklung, neurobiologische
Grundlagen von Bindung, dem Bindungsverhalten in den ersten
Lebensjahren, inneren Arbeitsmodellen von Bindung,
Bindungsqualitäten vom Kleinkind bis zur Adoleszenz, der Rolle des
Vaters in der Bindungsentwicklung und schließlich den vier
unterschiedlichen Bindungsrepräsentationen im erwachsenen Alter.
Unterlegt werden seine Ausführungen von Beispielen aus der
Forschungspraxis, so durch die Methoden zur Erhebung von
Bindungsmerkmalen bei Erwachsenen: dem Adult Attachment Interview,
das zwischen einer autonomen (sicheren), einer abweisenden
(vermeidenden) und einer verstrickten (ambivalenten)
Bindungsrepräsentation unterscheidet; dem
Fremdeinschätzungsverfahren (projektive und Interviewverfahren),
dem selbsteinschätzungsbasierten Fragebogenverfahren (vor allem in
der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie). Auch hier rekurriert
er auf KollegInnen verschiedener Disziplinen.
Sein Exkurs ins Klinische Feld dürfte insbesondere für
TherapeutInnen von einigem Interesse sein. Hier behandelt er vor
allem die im therapeutischen Setting relevanten Themen
Bindungsunsicherheit und psychische Störungen, Veränderungen von
Bindungsmerkmalen in der Psychotherapie, Therapeutische Beziehung
und Bindungsbeziehung, Beziehungsangebote, Beziehungserwartungen,
Übertragung und Gegenübertragung, Bindungsstile von
Therapeuten.
Im anschließenden Kapitel über innere Arbeitsmodelle fasst Strauß
noch einmal die Erkenntnisse für die Psychotherapie zusammen. Dafür
zieht er auch die Erfahrungswerte diverser KollegInnen (Fonagy,
Holmes, Ehrenthal) aus dem stationären Bereich heran: so fußt
psychische Gesundheit auf Empathiefähigkeit, prosozialen
Verhaltensweisen, guter Selbstregulation, der Mobilisierung von
Hilfe, dem Zurechtkommen mit Intimität und auch Alleinsein sowie
Mentalisierung. Ein Ergebnis ist bspw., dass Eltern mit einer hohen
Mentalisierungsfähigkeit mit einer deutlich erhöhten
Wahrscheinlichkeit sicher gebundene Kinder haben. Weiterhin konnte
nachgewiesen werden, dass das Bindungssystem eine Basis für
psychotherapeutische Veränderungen darstellt. Starke Parallelen
zwischen Entwicklungsprozessen und therapeutischen Prozessen, bei
denen vor allem die Verarbeitung von Affekten und die
Selbstregulation bedeutsam hervortreten, ließen diese Schlüsse zu.
Aber es gibt keine eindeutigen Rezepte – die Bindungstheorie könne
allenfalls zu einer differenzierten Reflexion der therapeutischen
Haltung beitragen.
Die Schlussbemerkung dient einem kurzen Abriss der Entwicklung der
Bindungstheorie von den 1980er Jahren bis heute und mündet in eine
Kritik: so treffe er häufig auf einen Mangel an fundiertem Wissen
und präzisen Kenntnissen über die Bindungstheorie im klinischen
Bereich. Der Begriff »Bindung« werde oft schnell hinzugezogen und
undifferenziert verwendet im Sinne der Beschreibung interpersonaler
Phänomene, die mit dem bei Bowlby angelegten Motiv wenig gemeinsam
haben. Das Bindungsmotiv sei eben nicht omnipräsent. So könne durch
Übergeneralisierung des Konstrukts auf die relevanten
Beziehungsepisoden in der Psychotherapie mehr Schaden angerichtet
als geholfen werden. Hier empfiehlt Strauß gezielte Aus-, Fort- und
Weiterbildungen, um die Bedeutung von Bindung und daraus ableitbare
klinische Konsequenzen zu klären und zu verbreiten.
Zielgruppe
Als weiterer Meilenstein auf dem Weg der Bindungstheorie dürfte das
Buch für Kliniker eine wahre Fundgrube sein, das die praktische
Arbeit sicherlich bereichert und verändern kann. Für alle am Thema
Interessierte Menschen ist es ein äußerst erhellender Beitrag zur
Bindungsthematik.
Fazit
Die vielen Hin- und Querverweise auf klinische Studien,
Forschungsgruppen, KollegInnen, weiterführende Literatur sowie das
Format (es verdient den Namen Taschenbuch wirklich!) machen es zu
einer äußerst anregenden, inspirierenden, interessanten
Fachlektüre.
Rezensentin
Claudia Mehlmann
Anglistin und Germanistin, arbeitet als freie Texterin, Lektorin,
Webdesignerin und Übersetzerin in Berlin
Zitiervorschlag
Claudia Mehlmann. Rezension vom 23.03.2015 zu: Bernhard Strauß:
Bindung. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 140 Seiten. ISBN
978-3-8379-2277-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17854.php
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