Rezension zu Cybersex
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Rezension von Prof. Dr. Konrad Weller
Agatha Merk (Hrsg.): Cybersex. Psychoanalytische Perspektiven
Thema
»Nachdem sich seit Freud eine Verflüchtigung der Sexualität aus der
Psychoanalyse zeigte und der Fokus in den Theorien heute mehr auf
den Beziehungen als auf den Trieben liegt, hat sich spätestens mit
dem Internet ein Comeback der Sexualität in das Analysezimmer
angekündigt.« (Erazo in diesem Band; 92).
Die Hypothese scheint gerechtfertigt, dass Menschen mit i.d.R.
schweren psychischen Problemen (PatientInnen von
PsychoanalytikerInnen) sich des Internets in einer Weise bedienen,
die zu den Modi ihrer Konfliktverwaltung passt, dass sie hier, in
der virtuellen Zwischenwelt z.B. diese einmalige Mischung der
Möglichkeit intimster Nähe bei gleichzeitig unbedrohlicher,
anonymer Distanz finden, dass sie anderen als intimate stranger
begegnen können.
Und auch wenn Berichte aus Analysezimmern nicht den
(nichtpathologischen) mainstream der Internetnutzung abbilden, kann
man Quindeau zustimmen, wenn sie schreibt: »Anders als in
sozialwissenschaftlichen Untersuchungen kann man im therapeutischen
Rahmen viel genauer sehen, was den Reiz der Internetpornografie für
den Einzelnen ausmacht und welche Funktion sie für die sexuelle
Lust und Befriedigung hat.« (42) Zumal selbst der anamnestische
psychoanalytische Blick zwar Risiken im Blick hat, aber den Medien
nicht die Schuld gibt: »Nur sind Pornografie und Cybersex niemals
die Ursache der Wirren. Die Ursache liegt im Schicksal des
Subjekts!« (Müller-Pozzi in diesem Band; 74).
Entstehungshintergrund
Die elf Beiträge des Sammelbandes basieren auf drei Arbeitstagungen
des Freud-Instituts Zürich in den Jahren 2010, 2011 und 2012.
Aufbau
In sechs Abschnitten geht es um eine Einführung in das Phänomen
Cybersex, um die psychologische Dimension der Internetsexualität,
um Falldarstellungen psychoanalytischer Behandlungen, in denen der
sexualitätsbezogene Gebrauch des Internet eine wesentliche Rolle
spielt und um die Darstellung einer ebenfalls auf klinischen Fällen
beruhenden entwicklungspsychologischen Sicht. Weitere Beiträge
widmen sich dem Thema aus sexualwissenschaftlicher, forensischer
sowie kulturwissenschaftlicher Perspektive.
Inhalt
In ihrer Einleitung fasst Merk Cybersex als Synonym für
Internetsexualität, als Überbegriff für sowohl die Rezeption von
Internetpornografie als auch interaktive Formen sexuellen Handelns,
z.B. in Chats, Foren, Dating-Plattformen (die Autorin nennt diese
Formen Cybersex im engeren Sinne/ 26).
Im Mittelpunkt der psychoanalytischen Betrachtung menschlicher
Sexualentwicklung, so Merk, steht die Entwicklung der erotischen
Fantasie. »Die zentralen Bezugsgrößen der Fantasie sind der Wunsch
oder das Begehren als treibende Kraft sowie die damit
einhergehenden Ängste und ihre Abwehr.« (30) Diese sich
entwickelnden inneren Strukturen stehen in Wechselwirkung mit
äußerer Realität, separieren sich zunehmend und bleiben durch
»intermediäre Räume« (Übergangsräume nach Winnicott) verbunden.
Gelingende Entwicklung meistert sowohl die Trennung als auch die
Verbindung zwischen innen und außen. Virtuelle Räume im Internet
werden als biografische Fortsetzung früher kindlicher
Übergangsräume konzipiert, in denen ebenso fantasiert werden kann.
Merk beschreibt die entwicklungsförderliche Nutzung sexueller
Inhalte zur Ausgestaltung und Erweiterung der Fantasie, ebenso wie
»Szenarien des Entgleisens«, wenn es nicht gelingt »…eigene
Fantasien mit einer äußeren, in bedeutungsvollen Beziehungen
gelebten Realität in Verbindung zu bringen und zugleich von dieser
getrennt zu halten« (36).
Müller-Pozzi beschreibt die kindlichen ödipalen
Besetzungsfantasien, die im Verlaufe der Entwicklung abgewehrt und
durch Gegenbesetzungen ersetzt werden müssen. Bei nicht hinlänglich
stabiler (Gegen-)Besetzung, also gestalteter adulter
Partnerbeziehung, die angstfreie sexuelle Lust zulässt, bedarf es
anhaltender Besetzungsabwehr und entsprechender Fantasien. Aus
dieser Perspektive bezeichnet er Pornografie als »ausgelagerte,
externalisierte Besetzungsabwehrfantasie« und als »Teil der
Sexualkultur mit möglichst großer momentaner Triebbesetzung und
minimaler Objektbesetzung« (70). Die ausschließliche Nutzung von
Pornografie und damit verbundene Masturbation wäre so ein
pathologisches, entwicklungshemmendes Verharren in
Besetzungsabwehr. Gerade in der Pubertät, so Müller-Pozzi, stehen
die Heranwachsenden »im Kampf von Besetzungsabwehr und
Gegenbesetzung« (73), was die Affinität für Pornografie in dieser
Lebensphase aus psychoanalytischer Sicht erklärt. In der Pubertät
finden genitales Luststreben und Objektbesetzung zusammen, wobei
Pornografie bei der Fantasieentwicklung ebenso hilfreich wie
behindernd sein kann. Unverständlich an den Ansichten Müller-Pozzis
ist allerdings, dass er die Genese genitalen und orgastischen
Lusterlebens erst in der Pubertät verortet: »Die Pubertät fordert
aber vor allem die Integration des absolut Neuen, des Orgasmus.«
(73) »Die Fähigkeit, zum Orgasmus zu kommen, ist organisch mit dem
Erreichen der sogenannten sexuellen Reife gegeben.« (75) Zumal er
selbst in seinem Beitrag das Beispiel eines masturbierenden
6-jährigen Mädchens schildert (66). Hier, so scheint es, werden
lustvoll-sinnliche sensomotorische Primärprozesse der Kindheit als
präsexuell ausgeblendet.
Diese Ansicht findet sich auch bei Quindeau in ihrem Beitrag »Lust
und Fantasie im Internet«: »Mir scheint es ein zentrales Kriterium
menschlicher Sexualität, dass die sexuelle Erregung prinzipiell
unabhängig ist von der konkreten Stimulierung der erogenen Zonen
und durchaus auch von Fantasien und Erinnerungen ausgelöst werden
kann. Pointiert könnte man sagen: Die Lust entsteht im Kopf und
nicht durch Reibung der Genitalien.« (46) Aus Sicht des Rezensenten
wird hier übersehen, dass auch umgekehrt genitale, sensomotorisch
erzeugte sexuelle Lust unabhängig von Fantasien entstehen kann, und
in der Kindheit auch entsteht. Dass diese körperlichen Sensationen
und damit verbundene Handlungen im Lebenslauf zunehmend mit
erotischer (Besetzungs-)Fantasie und überhaupt mit Bedeutung
aufgeladen und ausgestaltet werden, und dass damit »die
eigentliche« Sexualität Erwachsener entsteht, steht außer Frage.
Quindeau erläutert in diesem Zusammenhang das Konzept der
»zentralen Onaniefantasie« (nach Laufer 1976) und formuliert die
These »dass die Faszination von Pornografie darin besteht, dass sie
unterschiedlichste Ausgestaltungen der zentralen Onaniefantasie
anbietet« (49).
Drei Fünftel des Sammelbandes bestehen aus »rein«
psychoanalytischen Texten. Neben den bereits erwähnten sind das auf
Falldarstellungen fußenden Beiträge, die unterschiedliche Facetten
der Erkenntnis liefern, dass die Modi cybersexuellen Handelns
lebensgeschichtlich angelegte Konflikte widerspiegeln und ihre
konkrete Analyse dem klinischen Verstehen dient und darüber hinaus
psychoanalytische Theoriebildung befördert (siehe die einleitenden
Zitate zu dieser Rezension).
LeserInnen, die weniger an psychoanalytischer Theorie denn an
allgemeiner wissenschaftlicher Reflexion des Phänomens
Internetsexualität interessiert sind, seien die Beiträge im
hinteren Teil des Buches empfohlen. Hier geht Dannecker auf »Die
Generierung sexueller Wünsche beim Chatten im Internet« ein. Die
Darstellung und Diskussion empirischer Befunde zum Chat-Verhalten
homo- und bisexueller Männer führen den Autoren zur »These einer
weitgehenden Entkoppelung von sexueller Erregung und sexueller
Befriedigung beim Chatten …« (169). Dannecker nennt das »Ausdruck
der kulturellen Durchsetzung prägenitaler Lust« (ebd.). Man könnte
die im Internet möglichen niederschwelligen Praktiken der
Verschränkung sexueller Phantasien und der Beziehungsanbahnung auch
als Ausdruck zeitgemäßer Verhandlungsmoral bezeichnen.
Der Beitrag von drei Schweizer Forensikern untersucht den
Zusammenhang zwischen Pornografiekonsum und sexueller Aggression.
Empirische Basis hierfür ist die sog. Züricher
Kinderpornografiestudie aus dem Jahr 2002, in der im Zusammenhang
mit polizeilichen Ermittlungen 231 Personen, die im Verdacht des
Konsums von Kinderpornografie standen, befragt wurden. Ein
Zusammenhang zwischen Pornografiekonsum und offline agierten
Fantasien konnte nicht festgestellt werden. Was allerdings gar
nicht diskutiert wird, ist, ob sich die als überdurchschnittlich
medienkompetent beschriebene Zielgruppe unter den Bedingungen des
Web 2.0 nicht andere Möglichkeiten i.S. des interaktiven Cybersex
erschließt, was dann auf realen – wenngleich internet-vermittelten
– sexuellen Missbrauch hinausliefe.
Den Abschluss des Bandes bilden zwei Essays. Reiches Ausführungen
zur »Figuration der sexuellen Grenze« gehen der Frage nach, was
denn nun neu ist bzw. neu sein soll an der internetbasierten
Sexualität? Was verändert sich hinsichtlich der Ich- oder der
Geschlechtsidentität, was ist neu an virtuellen Räumen, gibt es
neue Suchtmodi? Seine Befunde sind dialektisch widersprüchlich,
z.B.: einerseits verändert sich unsere Raumwahrnehmung durch
elektronische Speichermedien radikal, andererseits sind die
virtuellen Räume den qua Romanrezeption seit Jahrhunderten
konstruierbaren imaginären Räumen wesensgleich: Es bleibt alles
ganz anders.
Pfisters literaturwissenschaftliche Abhandlung zur »Pornosophie des
Marquis de Sade …« erkundet die Beziehung zwischen
gesellschaftlicher Wirklichkeit und Fantasie. Er kritisiert den
cruden Naturalismus, dem sowohl die Kritiker und Gegner der
Pornografie als auch die Produzenten von mainstream-Pornografie
anhängen, eine »Auffassung, die davon ausgeht, dass so etwas wie
Wirklichkeit direkt und adäquat abgebildet werden kann« (248). »Nur
wenn Pornografie als naturgetreue Darstellung eines natürlichen
Trieblebens oder sogar als naturgetreue Manifestation einer
sexuellen Norm und nicht als Fiktion, Inszenierung und Spiel mit
individuellen Fantasien gelesen wird, besteht nämlich die Gefahr,
dass Pornografie die sexuelle Wirklichkeit ihrer Rezipienten
maßgeblich beeinflusst und allenfalls schädigt.« (ebd.) »Was man
von Sade (…) lernen kann: die Distanz zwischen Wirklichkeit und
Fantasie offenzuhalten, aber durchaus zuzulassen, dass sich die
beiden Bereiche anstecken, beeinflussen.« (ebd.)
Fazit
Das Buch spiegelt das Bemühen der Psychoanalyse, digitale Medien
als Instanz psychosexueller Entwicklung und sexueller
Verhaltensregulation zu fassen. Manche Erörterungen sind (zumindest
für Nichtanalytiker) zu »linientreu« der reinen Lehre verpflichtet
(und dann auch von den verwendeten Begrifflichkeiten her »schwere
Kost«), aber die Beiträge sind insgesamt vielschichtig, so dass der
oder die an Cybersex Interessierte auf jeden Fall etwas findet.
Rezensent
Prof. Dr. Konrad Weller
Zitiervorschlag
Konrad Weller. Rezension vom 30.03.2015 zu: Agatha Merk (Hrsg.):
Cybersex. Psychoanalytische Perspektiven. Psychosozial-Verlag
(Gießen) 2014. 257 Seiten. ISBN 978-3-8379-2252-3. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
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