Rezension zu Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus (PDF-E-Book)
www.socialnet.de
Rezension von Prof. Dr. Alexa Köhler-Offierski
Jan Lohl, Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaften des
Nationalsozialismus
Thema
Der zweite Weltkrieg endete vor 70 Jahren, damit auch die Zeit des
nationalsozialistischen Regimes. Wir wissen inzwischen, dass damit
weder die Folgen in den Personen, die die damalige Zeit erlebten,
noch in ihren Nachkommen noch gesellschaftlich endeten, sondern
weiterwirken. Der vorliegende Sammelband greift die Frage des
Weiterwirkens, des Wo und des Wie, aus verschiedenen
fachwissenschaftlichen Perspektiven auf.
Herausgeber und Herausgeberin
Beide Herausgeber sind einschlägig ausgewiesen: Jan Lohl
promovierte in Sozialwissenschaften zum Thema »Gefühlserbschaft und
aggressiver Nationalismus. Eine sozialwissenschaftliche Studie zur
Generationengeschichte des Nationalsozialismus«.
Die zweite Herausgeberin Angela Moré, habilitierte
Sozialpsychologin, hat ebenfalls seit einer Reihe von Jahren zu
transgenerationalen Prozessen aus einer psychoanalytischen
Perspektive publiziert.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Veröffentlichung wurde aus mehreren Tagungen in der
Zeit von 2004 bis 2012 an der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum
Erbe des Nationalsozialismus heraus entwickelt, ergänzt durch
weitere Beiträge. Dieser Kontext und Prozess wird in dem
einleitenden Aufsatz der damals zuständigen Referentin Heike Radeck
nachgezeichnet, die darin auch die Situation der Tagungen und die
Thematisierung in Literatur und Kunst aufnimmt.
Aufbau
Nach der Einleitung und Hinführung der beiden Herausgeber und dem
bereits erwähnten Text von Heike Radeck folgen von historischer und
sozialwissenschaftlicher Seite ein rund 120 Seiten umfassender
Essay von Hannes Heer mit dem Titel »Der Skandal als vorlauter
Bote. Deutsche Geschichtsdebatten als Generationsgespräch«, von
Wolfgang Benz »Antisemitismus und Rechtsextremismus in der
Bundesrepublik« und von Jan Lohl »›Morden für das vierte Reich‹.
Transgenerationalität und Rechtsextremismus«.
Die folgenden Artikel nehmen die individualpsychologische
Perspektive in den Fokus, ohne je den sozialwissenschaftlichen und
historischen Kontext zu übersehen. Hierzu gehören
• von Kurt Grünberg und Friedrich Markert »Emil Behr –
Briefzeugenschaft vor| aus| nach Auschwitz. Zum Szenischen Erinnern
der Shoah«,
• von Angela Moré »NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter
Schuld bei den Nachkommen«,
• von Ruth Waldeck »Spuren des Grauens. Über die Kriegserlebnisse
der Väter und ihre Schatten auf die Nachkriegsgeneration«,
• von Elke Horn »Was tun mit dem transgenerationalen Erbe? Von der
Abwehr durch Spaltung zum Dialog«,
• von Ute Althaus »Lügen – Wünsche -Wirklichkeiten. Über die Folgen
der Verleugnung der NS-Geschichte der Eltern und Großeltern für die
Nachkommen und die Notwendigkeit, diese Geschichten aufzuarbeiten«
und schließlich
• von Katharina Rothe und Oliver Decker »Gefühlserbschaften des
Nationalsozialismus und Geschlecht«.
Das Autorinnen- und Autorenverzeichnis schließt den Band ab.
Inhalt
Wie bereits aus der Darstellung des Aufbaus deutlich wird, stehen
die Zeitgeschichte und damit die Kinder- und Enkelgeneration aus
unterschiedlichen Perspektiven im Fokus. Immer geht es darum, die
Zusammenhänge zwischen »damals« und heute offen zu legen.
Hannes Heer leitet seinen Beitrag ein mit einer Aufzählung von
Bemerkungen Prominenter, Politiker und JournalistInnen der zweiten
Generation, die als Bagatellisierungen, wenn nicht mehr,
nationalsozialistischer Diffamierung zu bezeichnen sind. Daran
anschließend arbeitet er die gesellschaftlichen Einstellungen
heraus an den Beispielen, die Reaktionen auf die Rede des damaligen
Bundestagspräsidenten Philipp Jenniger, die Reaktionen auf die
Wehrmachtsausstellung, die Rede Martin Walsers anlässlich der
Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und
schließlich mehrerer Tabubrüche Günther Grass, beginnend mit dem
Geständnis, in der SS gewesen zu sein. Im zweiten Teil seines
Essays bearbeitet und belegt Heer, dass in diesen Skandalen … »das
aus der eigenen, privaten wie aus der deutschen Geschichte der
Jahre 1918 bis 1945 ›Verleugnete‹, Abgespaltene zu Wort [kommt]. Es
waren geplante und bewusste Aktionen, die in der Absicht erfolgten,
gegen ein herrschendes Geschichtsbild und dessen Sprachregelungen
Front zu machen und beides zu verändern oder eine neue, kritische
Aneignung der Geschichte zu verhindern. (…) In Skandalen überprüft
eine Gesellschaft die Gültigkeit ihrer moralischen und politischen
Normen. Das kann zur Bestätigung dieser Normen und einem neu
bekräftigten Konsens führen oder aber die Öffnung zu veränderten
Haltungen und entsprechend anderen Grenzziehungen ermöglichen. Im
letzteren Fall wirken Skandale als vorlaute Boten des Neuen.« (S.
78-79) Unter dieser Prämisse bearbeitet Heer nun erneut die
vorgenannten Skandale.
Im Mittelpunkt des Aufsatzes von Wolfgang Benz steht die
Entwicklung eines zunächst von ihm als »neu« bezeichneten
Antisemitismus nach Auschwitz. Er skizziert dazu unterschiedliche
Skandale, die durch den demagogischen Einsatz von Vorurteilen im
Sinne von Stigmatisierungen gekennzeichnet sind und deren Muster
sich wiederholen. Antizionismus, insbesondere in der DDR, und
Rechtsextremismus in der BRD stellen weitere Formen des
Antisemitismus dar. Seine Ausführungen enden mit der Feststellung:
»Von einem ›neuen Antisemitismus‹ kann man nicht sprechen, weil
neue Inhalte ebenso wie neue Methoden nicht erkennbar sind, wohl
aber von einer Judenfeindschaft, die sich traditioneller
Stereotypen bedient, sie aber offener und intensiver propagiert,
als dies in der Vergangenheit der Fall war.« (S. 165)
Ausgehend von einer Reihe von Morden, die von Neonazis begangen
wurden, fragt Jan Lohl danach, warum eigentlich die Öffentlichkeit
– Behörden, JournalistInnen – angesichts des bekannten
Gewaltpotentials von Neo-Nazis nicht auf den Gedanken gekommen ist,
dass diese auch hinter diesen Taten stehen könnten. Hierzu
untersucht er »das Verhältnis von historischem Nationalsozialismus
und aktuellem Neonazismus…und zwar aus einer transgenerationalen
Perspektive.«(S. 172) Hierzu fragt Lohl zuerst »nach dem
psychischen Erbe des Nationalsozialismus« (S. 172) der beiden
folgenden Generationen von ›NS-Volksgenossen‹, danach nach der
Bedeutung dieses psychischen Erbes für die Entwicklung
neonazistischer Orientierungen. Bezogen auf das psychische Erbe
arbeitet Lohl die narzisstische Selbstrepräsentanz heraus, die sich
als Folge der »arischen« Überlegenheit und Degradierung anderer als
»unwert« definierten Personen ergab, die trotz der Niederlage
psychisch weiterwirk(t)en. Die Ambivalenz der Generation der Kinder
der TäterInnen, MitläuferInnen und ZuschauerInnen wirke sich nun so
aus, dass ihre eigenen Kinder ein gutes Verhältnis zu den
Großeltern aufbauen unter Aussparung der Frage nach deren
Täterschaft. Im zweiten Teil ändert Lohl die Blickrichtung: er
greift Untersuchungen zur Häufigkeit bestimmter Formen des
Antisemitismus auf und die Bedeutung von neonazistischer
Gruppenkontakte, in denen u.a. die Großeltern idealisiert werden
(»Opi weiß, wie’s wirklich war« S. 188) mit der weiteren Folge
einer Wirklichkeitsverkennung, in der das »dritte Reich« »erneut
zum Ideal einer Zukunft erhoben wird«. (S. 192)
Kurt Grünberg und Friedrich Markert erforschen die
transgenerationale Tradierung des extremen Traumas der Shoah in
Deutschland mit dem Konzept des szenischen Erinnerns. Dabei geht es
»um die unbewusst-szenische, non-verbale Vermittlung von
Verfolgungserfahrungen einer Generation an die nächsten.« (S. 198)
In ihrem Aufsatz wenden sie dieses Konzept auf Briefe von Emil Behr
an, einem jüdischen Deutschen, Jahrgang 1900, der Auschwitz
überlebte und zu seiner Familie zurückkehrte. Ergänzend berichten
sie von einem Gespräch mit der Enkelin. Es sind Auslassungen, die
kenntnisreich aufgedeckt werden, und subtile Zeichen wie z.B.
Blickwechsel zwischen Emil Behr und seinem Sohn, in denen das
Traumatische eingeschlossen ist.
Angela Moré stellt in ihrem Beitrag zunächst das
sozialpsychiologisch-psychoanalytische Verständnis der Folgen
verleugneter Täterschaft als Gefühlserbschaften dar und
konkretisiert dies am Beispiel von Monika Göth, dabei auch die
familiären Umgangsweisen insgesamt in den Blick nehmend. Sie weitet
diesen Blick dann aus auf die Folgen dieser »tatenlos erworbenen
Schuld« (S.222) für die Kinder.
Ruth Waldeck konkretisiert aus eigenem Erleben wie der eines
Freundes das Schweigen der Väter nach Rückkehr aus dem Krieg und
möglicher Hintergründe damals wie Auswirkungen in der aktuellen
Verständigung und verbindet es so mit den Strängen der
Gefühlserbschaften und szenischem Erleben.
Elke Horn formuliert folgende Hypothese: »Das Gefühl der
tiefsitzenden Beschämung aufgrund der mit dem Verbrechen des
NS-Regimes verbundenen Dehumanisierung ist eine reale Scham
aufgrund der Zugehörigkeit zu unserer Großgruppe, gleichzeitig aber
auch ein psychisch ererbtes, transgenerational vermitteltes Gefühl,
das schwer thematisierbar ist. Der Schulddiskurs wurde immer wieder
auch in der Öffentlichkeit geführt – die dazugehörige Scham blieb
dabei verdeckt.« (S. 251) Nach einer theoretischen Fundierung
beschreibt und analysiert Horn vier Beispiele aus deutsch-jüdischen
Dialogen, um Wege zu einem gelingenden Dialog aufzuzeigen.
Ute Althaus leitet ihren Beitrag mit einem Zitat des Historikers
Raul Hilberg ein: »In Deutschland ist der Holocaust
Familiengeschichte.« (S. 271). Sie geht im folgenden von ihrer
eigenen Geschichte aus, betrachtet die Abwehrreaktionen genauer und
zeigt damit, warum es notwendig ist, den Holocaust auch als
Familiengeschichte der TäterInnen aufzuarbeiten.
Der letzte Beitrag von Katharina Rothe und Oliver Decker wendet
sich der Geschlechterrolle im Nationalsozialismus und ihre
Tradierung zu, indem sie unterschiedliche themenzentrierte
Gruppendiskussionen heranziehen, die auf die »kollektiven …
Bedingungen für die Genese rechtsextremer Einstellungen« (S. 289)
zielten. Für die Auswertung setzen sie insbesondere auch das
szenische Verstehen ein und greifen zurück »auf verschiedene Modi
der Fantasieebenen sowie der Konflikt- und Abwehrformationen« (S.
291). Die Ergebnisse zeigen, dass die von Horn bereits dargestellte
Spaltung sich auch in allerdings komplexer und teils auch quer
zueinander laufenden Tradierungsebenen niederschlagen.
Diskussion
Während der Zeit, in der sich die Rezensentin mit dem vorliegenden
Sammelband beschäftigte, bekamen die angeschnittenen Themen
ungeahnte (?) Aktualität durch die Auftritte von »Pegida«,
Aufklärungen u.a. im Rahmen des hessischen
NSU-Untersuchungsausschuss und ausführliche Berichte über eine
weitere Diskussion zwischen Martin Walser und Michel Friedman, die
Bezug auf die inzwischen 17 Jahre zurückliegende Rede Walsers nahm.
Nein, die Fragen nach den unbewussten Erbschaften des
Nationalsozialismus sind nicht überholt, schon gar nicht erledigt,
sondern wirken in den folgenden Generationen nach und zwar, wie die
unterschiedlichen Beiträge eindrücklich zeigen, besonders auch da,
wo die Taten und Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus
verschwiegen wurden.
Fazit
Lohl und Moré legen mit ihrem Sammelband gut aufeinander
abgestimmte Beiträge vor, die in verschiedenen Zugängen
facettenreich die Frage an die Leserin, den Leser aufwerfen, wo in
unserem je individuellen Leben sich die unbewussten Erbschaften
auswirken. Das macht die Lektüre über die Fülle des Materials
hinaus – die allein schon die Anschaffung rechtfertigt würde –
aufregend und unter Umständen auch anstrengend, aber in jedem Fall
lohnend. Daher ist dieser Veröffentlichung eine große Leserschaft
zu wünschen.
Rezensentin
Prof. Dr. Alexa Köhler-Offierski
Berufen für Sozialmedizin, Schwerpunkt Sozialpsychiatrie im
Fachbereich Sozialarbeit/Sozialpädagogik der Evangelische
Hochschule Darmstadt
Zitiervorschlag
Alexa Köhler-Offierski. Rezension vom 10.03.2015 zu: Jan Lohl,
Angela Moré (Hrsg.): Unbewusste Erbschaften des
Nationalsozialismus. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 313 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2242-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17398.php
www.socialnet.de