Rezension zu Sigmund Freuds erstes Land
Journal für Psychoanalyse, 34. Jahrgang, Nr. 55, 2014
Rezension von Berthold Rothschild
Anton M. Fischer: Sigmund Freuds erstes Land
Berthold Rothschild (Zürich)
Buchrezensionen sind oft ein vor ein Publikum getragenes Erzeugnis
aus sublimiertem Neid. Neid gegenüber dem Mut, dem Wissen, dem
Fleiss und dem Können eines Autors, der wir nicht selber sind. Der
hier zeichnende Rezensent hatte vor einigen Monaten Gelegenheit,
Anton Fischers imposantes Oeuvre zur Kulturgeschichte der
Psychotherapie in der Schweiz einer grösseren Öffentlichkeit
vorzustellen. Er, der Rezensent, war schon immer der Meinung, unter
Freunden und Kollegen gehöre es sich, jede Liebedienerei und jedes
Zwecklob zu vermeiden, ganz im Sinne von Fritz Morgenthalers
Devise: »praise in the face is disgrace...«. Folgerichtig also
beschrieb er zwar die Qualitäten dieses doch an Gewicht und
Volumen, aber auch an reichem Inhalt bemerkenswerten Buches, wies
aber auch auf einige Mängel und editorische Unterlassungen hin.
Dies mündete dann schliesslich im zusammenfassenden Urteil:
Fischers Buch sei zwar für seine Leser und Leserinnen in mancher
Hinsicht eine Zumutung, aber es sei eine durchaus zumutbare und
sich lohnende solche.
Manche der dort anwesenden Zuhörer fanden meine Präsentation zu
hart, wenn nicht gar ungerecht und inzwischen sind auch einige
durchaus wohlwollende und gewollt positiv würdigende Besprechungen
des Buches erschienen, u. a. diejenige von Emilio Modena im
Salzburger Werkblatt. Welche dieser Buchbesprechungen nun für die
Verkaufsziffern die bessere sei, die lobende oder die kritische,
das wird der Autor hoffentlich mit Freude feststellen können.
Erfreulich ist jedenfalls, dass Autor und Verlag inzwischen das
bisherig fehlende Personen- und Sachregister nachgeliefert haben.
Dieser Mangel nämlich war erheblich und hat mit einer der grossen
Qualitäten des Buches zu tun: Mit einer solchen Reichhaltigkeit an
Geschehnissen, an Personen und ihren Werken, dass man bei
gründlicher Lektüre immer wieder das Bedürfnis verspürt, dieser
oder jener Stelle oder Person nochmals nachzugehen.
Wer immer an der Geschichte der Psychoanalyse und ihrer wichtigen
frühen Exponenten interessiert ist, tut gut daran, das Buch von
Anton Fischer nicht nur zu erwerben, sondern sich auch die Zeit zu
nehmen, darin zu stöbern und es, wenn auch in Abständen und gemäss
den einzelnen Kapitelgruppen, gründlich zu studieren. Man kann sich
dabei wie auf einem gut geölten Vehikel in Fischers narrativem
Sprachfluxus treiben lassen. Unerlässlich ist es aber, zuvor des
Autors Einführung zu diesem Werk zu lesen, weil sich damit manche
Missverständnisse im Nachvollzug der Lektüre vermeiden lassen.
Anton Fischer begründet darin nicht nur, warum er dieses Buch
schreiben wollte und warum er es eine »Kulturgeschichte der
Psychotherapie in der Schweiz« nennt. Er lässt uns auch klar
darüber werden, dass mit dem Anspruch eine solche Geschichte über
die »Psychotherapie« zu schreiben, für ihn deren Anfang und
Definition ganz eindeutig und restriktiv auf die Entdeckungen
Breuers und Freuds und deren Nachfolger beschränkt bleibt.
Recht apodiktisch zwar, aber wenigstens die Position des Autors
klar markierend, heisst es etwa gleich zu Anfang: »Die moderne
Psychotherapie beginnt mit Sigmund Freud. Vor ihm hatte niemand
entdeckt, dass man das Leiden der psychisch Kranken beeinflussen
kann, indem man mit ihnen redet – oder vielmehr ihnen zuhört [...]«
(S.9). Auch wenn man diese Behauptung als gewagt oder engwinklig
bezeichnen möchte, so sind damit bereits zahlreiche Einwände über
Auslassungen oder nicht Erwähnung anderer psychotherapeutischer
Entwicklungen (wie sie z. B. in Ellenbergers berühmtem Klassiker
über die »Geschichte des Unbewussten« enthalten sind) vorwegnehmend
neutralisiert. Überhaupt macht sich die vom Autor deutlich betonte
»subjektive Schlagseite« des Buches im Laufe der weiteren Lektüre
oft wohltuend bemerkbar, wenn man seine persönlichen Präferenzen
und Abneigungen gegenüber gewissen Autoren oder gewissen Schulen in
unausweichbarer Deutlichkeit zu spüren bekommt. Es ist in diesem
Sinne eben nicht das wissenschaftliche Werk eines »objektiven
Historikers«. Somit liegt in der manchmal einseitig anmutenden
Auswahl und Würdigung der Quellen immer auch das mögliche
Ungleichgewicht des aus der Psychoanalyse bekannten »participating
observers«. Originalton Fischer:
»Da die Psychotherapie eine umstrittene Sache ist und der Kampf um
sie immer wieder gewaltige Leidenschaften entfacht, wie es in
anderen Disziplinen kaum je der Fall ist, muss jede Darstellung
ihrer Geschichte zu einem schönen Teil subjektiv bleiben. Daher hat
der Leser Anrecht darauf, zu erfahren, wer ihm deren Geschichte
erzählt und wie dieser zu den Gestalten steht, die sie bevölkern
[...].« (S. 12)
Man wird sich während der weiteren Lektüre des Buches mit Vorteil
an solche Leitlinien erinnern, wenn der Autor gegenüber gewissen
Protagonisten ganz offen seine Sympathien oder Antipathien spüren
lässt, oder wenn er das Verhalten gewisser Akteure einer
verspäteten wenn nicht gar wilden Deutung unterzieht.
Beispielsweise: »Jung hat, indem er vordergründig ihre [der Miss
Miller, B. R.] Fantasien analysierte, indirekt seine eigenen
analysiert und sich in einer Art mit ihr identifiziert, dass er
geradezu mit ihr verschmilzt [...]« (S. 110).
Vieles aus Fischers Buch mag als Dokument oder als edierte
Briefwechsel da und dort schon bekannt sein – aber nirgendwo waren
bisher solche Quellen sozusagen »gleichzeitig« einander
gegenübergestellt, parallel zueinander entwickelt und damit auf
personenübergreifende Tendenzen hin illustriert, woraus – so ist
anzunehmen – der Autor ein Stück weit zu Recht den Begriff der
Kulturgeschichte beansprucht, allerdings eng auf die Ereignisse und
Entwicklungen in der Geschichte der Psychoanalyse bezogen. Es ist
dies in diesem Sinne wohl eher eine Art »Familiengeschichte«, eine
Mischpochologie ganz eigener Art mit all den dazugehörigen
Hasslieben, Rivalitäten, Verratsszenarien und Enttäuschungen.
Und tatsächlich, es beginnt, nach der zeitgeschichtlichen
Einführung, schon ab Seite 37 mit einer imponierenden Fülle an
Begegnungen und Beziehungen, an Forschungsgeist und gegenseitigen
Vereinnahmungen – alle mehr oder weniger auf dem offenbar
inspirierenden Territorium Helvetiens lokalisiert. Und es mangelt
nicht an dramatischen Konstellationen und Ereignissen, deren
Protagonisten auf Grund ihrer Charaktere wohl ebenso wie aufgrund
ihres Könnens bald umarmend, bald den Dolch im Gewande aneinander
geraten: Eugen Bleuler, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Otto
Gross, Karl Abraham, Ludwig Binswanger, Pfarrer Pfister und gar
viele andere mehr – stets vom Autor mit guten textlichen Quellen
aus Briefen und Werken versehen und belegt. Nicht anders als
zeitgemäss zu erwarten sind die meisten Hauptakteure Männer, die
Damen, wenn schon, sind meistens Patientinnen und entsprechend
meint man im Hintergrund auch das Gegockel zu hören. Um die vielen
– oft auch dem Rezensenten bisher nicht bekannten Nebenfiguren aus
der Schweizer Psychotherapieszene ranken sich immer wieder
genüsslich servierte Anekdoten und Schmankerl und wohltuend stellt
man fest, dass schliesslich alle, auch die grossen Titanen,
charakterlich nur mit Wasser kochen. Da und dort gibt es auch
genüssliche Schilderungen an der Grenze zum social gossip
(Sozialklatsch), gewürzt mit vermuteten Übertragungseffekten. Die
dramatischen Phasen der äusseren Geschichte (erster und zweiter
Weltkrieg, Faschismus, kalter Krieg usw.) hinterlassen auch in der
Psychotherapie und ihren Vertretern ihre Spuren, äusserst peinlich
gelegentlich und weltfremd immer wieder.
In den allermeisten Episoden allerdings gelingt es dem Autor, die
Divergenzen und Spannungen nicht nur an den jeweiligen Personen und
ihren Marotten festzumachen, sondern auch an den theoretischen
Inhalten und ihren grundsätzlichen ideologischen Differenzen.
Der Text insgesamt erleidet an Spannung und Gewichtigkeit ein
deutliches Decrescendo, was aber mehr mit der geschichtlichen
Chronologie und ihrer abnehmenden Bedeutsamkeit zu tun hat, als
etwa mit der Ermüdung des Autors oder des Lesers. Wie in einer mit
der ablaufenden Zeit sich verengenden Spirale wird die vom Autor im
Titel hervorgehobene Schweizer Szenerie auch in
psychotherapeutischen Belangen immer banaler und spiessiger, ganz
analog Fischers These, wie sehr doch nach ihrem furiosen Anfang die
Psychotherapieszene der Schweiz ihrer Bedeutungslosigkeit entgegen
drifte. Sind wir, die Nachgeborenen, ein Teil davon?