Rezension zu Sigmund Freuds erstes Land

Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse Nr. 179 1/2015

Rezension von Brigitte Spillmann

Anton M. Fischer
Sigmund Freuds erstes Land

Vor uns liegt ein großes Buch. Groß nicht nur wegen seines Inhalts, sondern allein schon wegen seines beeindruckenden Umfangs: Auf rund 600 Seiten erzählt der Autor detailliert die Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz von ihren Freud’schen Anfängen bis in die jüngste Gegenwart. Dennoch ist das Buch keine Zumutung für den Leser, seine Lektüre keine Pflichtübung. Man liest es vielmehr mit großem Interesse und wachsendem Respekt, ja mit zunehmender Bewunderung für die immense Leistung, die Anton M. Fischer mit dieser Kulturgeschichte erbracht hat.

Die moderne Psychotherapie beginnt mit Sigmund Freud in Wien, der die Schweiz vorerst mit Bleuler und dem Burghölzli, danach aber vor allem mit C. G. Jung zu seinem ersten und einzigen Land erkoren hat. Es ist ein Verdienst dieses Buches, die Geschichte der Psychotherapie nicht einfach in irgendeinem Niemandsland anzusiedeln, sondern sie sehr bewusst immer wieder in den Kontext der zeitgenössischen Ereignisse mit ihren kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Implikationen zu stellen. Und es sind vor allem zwei Männer, die wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung nahmen: Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Ihnen und ihren theoretischen Vorstellungen ist denn auch ein Großteil des vorliegenden Buches gewidmet, was der Bedeutung der beiden Gründerväter für die Psychotherapie in der Schweiz durchaus entspricht.

Bekannt sind die großen Hoffnungen, die Freud auf seinen »Kronprinzen« gesetzt und die dieser schließlich so schmählich enttäuscht hatte. Fischer sieht Freud in diesem Geschehen aber keineswegs einfach als Lichtgestalt; er nimmt wahr, wie sehr Freud, das Oberhaupt der psychoanalytischen Bewegung, »in seiner Euphorie bereit gewesen [war], die Psychoanalyse bedingungslos seinem Günstling auszuliefern, ihn sozusagen zum Diktator der Psychoanalyse zu machen«, und damit vor allem seine Wiener Anhänger brüskierte. Zürich sollte in jener Zeit gar zur »Welthauptstadt der Psychoanalyse« werden. Die Abrechnung mit dem abtrünnigen Jung erfolgte dann allerdings in ebenso »diktatorischer Pose«, wie Fischer festhält, denn, so Freud: »die Psychoanalyse ist meine Schöpfung«. Jung aber »wollte nicht Erbprinz, sondern König eines eigenen Reiches sein«, und schon damals war sein Drang deutlich, »eine eigene grosse Erzählung über die menschliche Psyche zu schreiben«. Dies sei Jung denn auch gelungen, anerkennt der Freudianer Fischer, »und nur noch in der freudianischen Mythologie bleibt er auf die Rolle des gefallenen Engels reduziert. Für alle anderen ist er der Mann, der eine eigene Tiefenpsychologie formuliert hat. Dadurch kommt auch seine Heimat, die Schweiz, endgültig zu einem selbständigen Auftritt in der Geschichte der Psychotherapie. Jung hat wie keine andere Geistesgröße das kleine Land in aller Welt bekannt gemacht.«

Der große Bekanntheitsgrad Jungs war allerdings in nationalsozialistischer Zeit von höchst zweifelhaftem Ruf. Und Fischer erzählt die Rolle von Jung, der sich »im Sturm« verrennt und »im bräunlichen Sumpf« versinkt, minutiös und getreu der bekannten Quellen – das Bild, das er so von Jung entwirft, kann aus Jung’scher Sicht leider nur schamvoll bestätigt werden. Er weist zu Recht auch darauf hin, dass Jung schon lange vor der Machtübernahme durch die Nazis für eine Blut-und-Boden-Psychologie Partei genommen hat und führt dies u. a. auf seine »ebenso intensiven wie ambivalenten Gefühle gegenüber den zwei Juden« zurück, »die für sein Leben so bestimmend waren: Freud und Spielrein«.
Aber auch auf psychoanalytischer Seite wurde die Feuerprobe im Umgang mit dem Nationalsozialismus nicht bestanden. Davon zeugt nicht zuletzt die weitgehend verweigerte Solidarität der internationalen Psychoanalyse mit den verfolgten jüdischen und antifaschistischen Analytikern. Eine »ver- kehrte Welt« sei das gewesen, stellt Fischer fest, »in der diejenigen, die eine unmenschliche Diktatur klaglos hinnehmen, als vernünftig gelten, und diejenigen, die sie bekämpfen, als verrückt.« Freud selbst aber hatte da seinen Anteil daran. Und Fischer bemerkt dazu kritisch: »Die unübersehbare Parallele im Verhalten stimmt nachdenklich; sowohl der Rassist und Antisemit Jung als auch das Opfer seiner üblen Polemik, der Jude Freud, bewerten ihre geistigen Kinder, die Psychoanalyse und die Analytische Psychologie, jeweils so hoch, dass sie – jeder auf seine Art – bereit waren, für deren Erfolg sehr viel in Kauf zu nehmen.« Und so gehen denn Wien, Berlin, vor allem aber auch das von Freud anfänglich so favorisierte Zürich während des Zweiten Weltkriegs als Zentren der Psychoanalyse und der Psychotherapie unter. Letzteres war als Hort der deutschsprachigen Psychoanalyse völlig überfordert. Und schließlich waren es die Angelsachsen und die Amerikaner, welche die Psychoanalyse retteten – um den Preis des Sprachwechsels und in den USA der Subsumption der Psychoanalyse unter die Psychiatrie.

Aber das alles sei doch gar nicht neu, mag jetzt so manch einer denken. Wohl wahr, aber: Die bekannten Geschehnisse werden von Fischer zum ersten Mal unter sorgfältiger Beachtung der Quellen in einen großen Gesamtzusammenhang gebracht. Er hat sie zu einem Kompendium zusammengefasst, das so noch nicht existiert hat. Und er scheut sich nicht, auch immer wieder persönliche Deutungen anzubringen, um die Dinge aus seiner Sicht analytisch zu deuten. So etwa, wenn er Jungs Einbezug von Bildern, »die Visualisierung unbewusster Fantasien«, in den therapeutischen Prozess kommentiert: »Der Protestant Jung ist sozusagen der Katholik der Psychoanalyse, während Freud sich wie die Protestanten allein an das Wort hält.« Der Autor ist sich aber auch bewusst, dass im Kampf um die (richtige) Psychotherapie immer wieder leidenschaftlich Position bezogen wird. Nachdem sich die deutsche Katastrophe so verheerend auf die schweizerische Psychotherapeutenszene ausgewirkt hatte, kündigte sich mit der 68er-Generation ein ungeahnter Psychoboom an, der allen psychotherapeutischen Schulen und erst recht dem C. G. Jung-Institut Zürich wie auch dem Psychoanalytischen Institut Zürich »goldene Jahre« bescherte.

Den Preis für die rasante Entwicklung bezahlen die führenden Institute in Zürich mit neuen Spaltungen. Das letzte große Kapitel beschreibt einen weiteren Preis des Psychobooms, der heute allerdings schon längst abgeflaut ist: Der Staat greift ein. Der lange Kampf um die nichtärztliche Psychotherapie ist noch vor der Drucklegung dieses Buches entschieden: Das Ärztemonopol ist durch das Psychologenmonopol abgelöst worden – zum Leidwesen aller, die wie einst Freud und Jung die »Laienanalyse« hochgehalten haben.

Es ist Anton M. Fischer gelungen, eine Fülle der wesentlichen Geschichten innerhalb der Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz parallel zu erzählen, immer einem chronologischen Ablauf folgend, und sie in einer Gesamtschau kritisch analysierend zu einer vorbildlichen Kulturgeschichte zusammenzufassen. Möge das Buch viele Leser finden.

Brigitte Spillmann, Zürich

www.brandes-apsel-verlag.de

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