Rezension zu Masochismus - Die Lust an der Last? (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Sexualforschung, Heft 4, 27. Jahrgang, Dezember 2014
Rezension von Vivian Jückstock
Cora C. Steinbach. Masochismus – Die Lust an der Last? Über
Alltagsmasochismus, Selbstsabotage und SM.
In ihrer Dissertationsschrift widmet sich die Autorin Cora C.
Steinbach der Thematik des Masochismus. Dabei gelingt es ihr, die
vielfältigen Erscheinungsformen von alltäglich zu beobachtenden
masochistischen Denk- und Verhaltensweisen bis hin zur malignen
sexuell masochistischen Perversion im ersten Teil ihres Buches
differenziert darzustellen. Im zweiten, empirischen Teil ihrer
Arbeit stellt die Autorin Ablauf und Ergebnisse der von ihr
durchgeführten qualitativen Untersuchung zum sexuellen Masochismus
vor.
Bereits der Untertitel Ȇber Alltagsmasochismus, Selbstsabotage und
SM« deutet den Facettenreichtum masochistischer Phänomene an. Die
Autorin grenzt diese im theoretischen Teil ihrer Arbeit voneinander
ab und trägt so einem ihrer Anliegen Rechnung, masochistische
Erscheinungsformen nicht per se zu pathologisieren, sondern
sorgfältig zwischen Masochismus mit und ohne Krankheitswert zu
differenzieren.
Zunächst fasst sie die Vielzahl an Definitionen zu vier
Hauptkategorien zusammen: 1. Masochismus als alltägliches, normales
Phänomen in Form eines ubiquitären moralischen Masochismus oder
sexuell sadomasochistischer Spielarten im »normalen« Liebesspiel;
2. Masochismus als Bestandteil klinischer Störungsbilder in der
Manifestation selbstschädigender Einstellungen und
Verhaltensweisen; 3. Masochismus als ein eigenständiges
Störungsbild im Sinne eines moralischen Masochismus mit dem
Ausprägungsgrad einer Persönlichkeitsstörung sowie Masochismus als
Perversion bzw. Paraphilie. Für die vierte Kategorie führt die
Autorin den Begriff der »Allo¬sexualität« (S. 38) ein. Sie
beschreibt damit sexuellen Masochismus als eine zwar nicht den
Normalfall darstellende, aber gleichsam gesunde Variante gelebter
Sexualität, welche bspw. im BDSM (Bondage Dominance Sado-Masochism)
subsumiert werden könne.
Nach einem Exkurs über die Auswirkungen kultureller Normen auf die
Wahrnehmung und Bewertung von Masochismus, die sich u. a. in der
Kulturabhängigkeit sexueller Ver und Gebote zeigen, aber ihren
Niederschlag auch in den Werten unserer Leistungsgesellschaft
finden, wendet sich die Autorin verschiedenen psychoanalytischen
Erklärungsansätzen zur Psychogenese und psychodynamischen Funktion
des Masochismus zu. Die Theorien der unterschiedlichen
psychoanalytischen Schulrichtungen reichen dabei von Freuds Trieb
und Strukturpsychologie mit der Betonung von polymorph perversen
Partialtrieben, Todestrieb und Kastrationskomplex über Ich
psychologische Konzeptionen der Abwehrfunktion masochistischer
Handlungen. Des Weiteren werden die für den Masochismus
konstituierenden präödipalen Entwicklungsprozesse, wie sie in den
Objektbeziehungstheorien vertreten werden, dargelegt und von den
Konzepten der Selbstpsychologie abgegrenzt, die den
Erklärungsschwerpunkt auf unempathische, da narzisstisch gestörte
Selbstobjekte legt. Schließlich stellt die Autorin noch neuere
relationale und intersubjektive Ansätze vor, bei denen das Phänomen
Masochismus als Ausdruck eines Ringens um Anerkennung beschrieben
wird.
Im nächsten Kapitel geht Steinbach auf zentrale Themen und
Charakteristika des Masochismus ein. Allen voran stehe ein realer
oder imaginierter Anderer, »ohne einen Anderen kann es keine
Unterwerfung unter irgendetwas geben – sei es eine Unterwerfung
unter abstrakt gesellschaftlich vorhandene, nunmehr verinnerlichte
Werte und Ansichten oder unter eine reale Person« (S. 105). Die
darin auftretenden Themen und die dem Masochismus innewohnenden
Paradoxa werden einzeln für die folgenden Bereiche dargestellt:
Macht und Ohnmacht, Kontrolle, Kontrollverlust,
Verantwortungsabgabe und Unterwerfung. Das Thema »Lust am Schmerz«
wird anschließend in Form der Algolagnie (=Schmerzlust) eingehender
betrachtet. Die Autorin beschreibt den paradoxen Rahmen des
Masochismus als »ein Spiel mit umgedrehten Vorzeichen: Das
scheinbar Offensichtliche ist nicht das Wirkliche« (S. 107). So
werde durch das Passive zwar Unterwerfung gesucht, doch dann durch
das dahinter verborgene Aktive wieder negiert.
In einem anschließenden »Panoptikum an Masochismen« (S. 122) leitet
die Autorin unterschiedliche Arten masochistischer Konnotationen ab
und zeigt unterschiedliche Ausprägungsstärken und Überschneidungen
in einem sexuellen bis hin zu nicht sexuellen Kontinuum auf.
Hierbei dienen, nach einer ersten Abgrenzung von psychisch
moralischer oder sexueller Ausrichtung, zum einen die
Unterscheidung zwischen funktionalem und dysfunktionalem Verhalten,
zum anderen Parameter wie Beginn und Verlauf, Absolutheits ,
Ausbildungs und Bewusstseinsgrad sowie die Zielsetzung des
Verhaltens als Differenzierungskriterien. Ziel dieser Übersicht ist
es, therapiebedürftige Formen des Masochismus besser identifizieren
und damit therapeutischen Interventionen zugänglich machen zu
können.
Für den therapeutischen Umgang mit schädlichem masochistischem
Verhalten empfiehlt die Autorin im letzten Kapitel, auf die
unterschiedlichen Ausdrucksarten von Selbstschä¬digung und
Selbstverletzung zu achten und zu reagieren. Als große
Herausforderungen, insbesondere bei der Therapie von Patienten mit
ausgeprägten Leidens und Strafbedürfnissen, werden die negative
therapeutische Reaktion und der Wiederholungszwang angeführt. Eine
Therapie masochistischen Verhaltens sei möglich, erfordere aber
sowohl vom Analytiker als auch von Analysanden viel Geduld. In der
Formulierung eines zu erreichenden Ziels einer solchen Therapie
bezieht sich die Autorin u. a. auf Leon Wurmser, der die
Transformation »eines rigorosen, vernichtenden Über Ichs zu einer,
das Leben leitenden Instanz« benennt, bei welcher der »innere
Richter vom Henker zum Brückenbauer und Versöhner« werden solle (S.
74). Bei der Behandlung des malignen sexuellen Masochismus bestehe
bei einem unreflektierten Umgang des Analytikers mit Perversionen
die Gefahr, sich mit dem Patienten in einem destruktiven Machtkampf
über die vermeintliche Überlegenheit der einen Form der Sexualität
(»perverse«) über die andere (»normale«) zu verstricken.
Im zweiten, empirisch ausgerichteten Teil ihres Buches stellt die
Autorin Ergebnisse der von ihr durchgeführten OPD unterstützten
Untersuchung sexueller Masochisten in einem nicht klinischen
Kontext vor. Ziel war es, mehr Erkenntnisse über die Psychogenese
des sexuellen Masochismus zu erlangen. Die Annahme, sexueller
Masochismus trete zumeist vor dem Hintergrund einer Borderline
Persönlichkeitsstörung auf, sollte im Rahmen dieser Untersuchung
kritisch hinterfragt werden, um einer vorschnellen Pathologisierung
sexuell masochistischen Verhaltens und Erlebens vorzubeugen. Anhand
von OPD unterstützten Interviews mit sieben Interviewpartnern einer
nicht klinischen Stichprobe kommt die Autorin in der
differenzierten Auswertung und Interpretation der Einzelfallstudien
zu dem Schluss, dass eine generelle Pathologisierung von Personen
mit masochistischer Sexualpräferenz überholt und unzutreffend sei.
Masochismus stellte in der Untersuchungsstichprobe eine
Sexualitätsform ohne Krankheitswert dar, auch wenn sich teilweise
Übergänge zur Traumabewältigung finden ließen. Lebensgeschichtliche
Ereignisse konnten in Zusammenhang mit der vorliegenden
Sexualitätsspezifikation gebracht werden. Die Autorin entwirft eine
aus den Ergebnissen abgeleitete skizzenhafte Typologie an
Masochisten, die vom »bedingungslos fordernden Masochisten« bis hin
zum »kann aber-muss nicht Devoten« reicht. Eine Verbindung von
sexuellem und moralisch masochistischem Verhalten finde sich beim
Typus des »moralisch sexuell masochistisch Devoten« (S.274 f.). Die
Ergebnisse bieten zudem Hinweise darauf, dass sadomasochistische
Rituale durch ihren hohen Grad an Strukturierung bei der
Bewältigung anderweitig als überfordernd erlebter Erregung dienlich
sein können, so dass Sexualität als lustvoll und nicht als
ängstigend erlebt werden könne. Generell konstatiert die Autorin
aus ihren Ergebnissen, dass bei der Masochismusgenese ein
abwesender Vater, eine über oder unterversorgende Mutter sowie
allgemeine Ohnmachtserfahrungen eine Rolle spielen. Des Weiteren
trügen mangelnde Spiegelung und Anerkennung sowie das Nicht Wahren
der Grenzen des Kindes zur Entwicklung einer masochistischen
Sexualpräferenz bei. Der Masochist suche folglich »nicht das Leid
und den Schmerz, sondern das Gesehenwerden und Gehaltenwerden, ohne
davon bedrängt zu werden« (S. 281).
Cora Steinbachs anspruchsvolles Buch bietet einen fundierten
Überblick über die zahlreichen Erscheinungsformen des Masochismus.
Psychoanalytische Erklärungsansätze zur Psychogenese und
psychodynamischen Funktion masochistischer Verhaltensweisen werden
differenziert und übersichtlich dargestellt und erweitert um eine
kulturpsychologische Sichtweise. Im zweiten, explorativ empirischen
Teil des vorliegenden Buches werden die zuvor aufgestellten
Überlegungen und Hypothesen anhand von sieben Interviews
dargestellt und kritisch beleuchtet. Es bleibt nur mit den Worten
Prof. Dr. Mertens aus dem Geleitwort zu schließen, dass diesem Buch
ein großer Leserkreis zu wünschen sei, da es sowohl für Fachleute
als auch für Laien sehr aufschlussreiche und zum Weiterdenken
anregende Inhalte bietet.
Vivian Jückstock
www.thieme.de