Rezension zu Sexualität (PDF-E-Book)

Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (AKJP) 166, 1/2015

Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (AKJP) 166, 2/2015

Ilka Quindeau: Sexualität, Gießen: Psychosozial, 2014, 143 S., € 16,90

Ein schmaler Band über die Rolle der Sexualität in der Psychoanalyse? Als Ausbildungskandidat, welcher sein Studium unter dem Stern der intersubjektiven Wende absolviert, habe ich mich schon des Öfteren gefragt, wann es denn nun endlich um diesen Schlüsselbegriff gehen wird und was dieser denn eigentlich über die Individualpathologie aussagt. Tatsächlich wird ein solcher Bezug eher selten und wenn dann hinter vorgehaltener Hand in nur wenigen Seminaren hergestellt und beleuchtet. Stattdessen wird die Bedeutung des frühen Mutter-Kind-Dialogs, des Containments und der mütterlichen Funktionen ü̈beraus deutlich und wiederholt eingebracht. Wichtige Konzepte, keine Frage, doch nach der Lektüre von Frau Quindeaus Buch frage ich mich, ob nicht die Rolle der Sexualitä̈t in unserer Ausbildung etwas zu kurz kommt.

Dieser Band könnte daran etwas ändern. Jedenfalls wird dem Neuling und dem Suchenden schon nach kurzer Zeit klar, welche Funktion die Sexualität und die Störungen der Sexualität bei der Entwicklung der Psychoanalyse gespielt haben, wie diese eigentlich untrennbar mit deren Entstehung und Konzeption verbunden sind, und wie dieser Fokus über die Jahre verlorengegangen ist. Die berechtigte Frage, ob Psychoanalyse denn überhaupt noch Psychoanalyse ist, wenn man die Sexualität, ihre Entwicklung und ihre Störungen in der Therapie außer Acht lässt, beantwortet Quindeau nur indirekt. Dennoch formuliert sie in Form dieses Buches ein eindeutiges und prägnantes Plädoyer zur Rückbesinnung auf diese bedeutsame Wurzel.

Ilka Quindeau ist ihres Zeichens habilitierte Soziologin, Psychoanalytikerin (DPV/IPV) und Vorsitzende der Sigmund Freud Stiftung in Frankfurt a. M. Seit 1995 veröffentlicht sie zu den Themen Sexualität, Gewalt (in Partnerschaften), Traumata (»Erfahrungen jüdischer Antragsteller ...«) und wurde für ihre Arbeit 2005 mit dem Wolfgang Loch Preis ausgezeichnet.

In der vom Psychosozial-Verlag herausgebrachten Grundlagenreihe ist dies ihr erstes Buch, welches durch die Kombination einer soziologischen Perspektive mit dem klaren, geschulten Blick der Analytikerin besticht und außerordentlich gut zu lesen ist, auch wenn es meines Erachtens eine gewisse Vertrautheit mit den Ideen Freuds voraussetzt. Ausgehend von Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« stellt Quindeau die Grundlagen der psychoanalytischen Entwicklungs- und Triebtheorie dar und diskutiert folgende Fragen: Wie kommt die Lust in den Körper, und was versteht man heute unter männlicher und weiblicher Sexualität? Ist die Unterscheidung von Hetero- und Homosexualität überhaupt sinnvoll? Wie kann in Therapien über Sexualität gesprochen werden und wie kann man sexuelle Störungen verstehen und behandeln? Insgesamt ist zu sagen, dass das Buch auf prägnante Art und Weise Grundlagenwissen vermittelt und dazu einlädt, die eigenen Ansichten zu hinterfragen und sie in Auseinandersetzung mit dem psychoanalytischen Theoriebestand zu konturieren. In der Einleitung beschäftigt sich Quindeau mit der Paradoxie, dass das Sexuelle zwar einerseits in unserer Gesellschaft omnipräsent ist, andererseits ist es aber trotzdem vielfach kein Thema in psychoanalytischen Behandlungen. Bereits hier bezieht sie sich auf Freuds Terminus vom »polymorph-perversen Charakter der Sexualität« (S. 11), womit die Vielzahl der Lust- und Befriedigungsmöglichkeiten gemeint ist, und auf die Sexualität als ein Kontinuum, welche also gerade nicht schematisch in eine infantile und eine »reife« Sexualität aufgetrennt werden kann. Damit einher geht die Funktion der Sexualität als »Seismograph« (ebd.) und Projektionsfläche für seelische Störungen jeglicher Art. Im nächsten Kapitel setzt sich Quindeau mit Freuds »Drei Abhandlungen« auseinander und hebt deren Aktualität für das Theoriegebäude der Psychoanalyse hervor. So zeigt sie, dass diese frühen Werke einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung des Leib-Seele-Dualismus darstellen, da es sich hier um einen Grenzbegriff handelt, welcher verschiedene Konzeptionen von Sexualität und Fokussierungen erlaubt. So wird eine wesentliche Unterscheidung deutlich, dass nämlich in der Antike die Sexualität nicht objektgebunden war, sondern die Bedeutung auf dem Trieb an sich lag, während Sexualität heutzutage im Wesentlichen objektgebunden ist. Freud legt hier einen Grundzug menschlicher Sexualität dar, nämlich dass das Begehren und die Lust eben nicht objektgebunden sind; mit eben jenem Verweis auf den polymorph-perversen Charakter der Sexualität.

Im folgenden Kapitel setzt sich Quindeau mit der Triebtheorie in ihrer Funktion als Grundlage der Psychoanalyse auseinander. Sie konstituiert das Begehren als per se konflikthaft und führt weiter aus, dass die darin implizierten Konflikte nahezu unvermeidlich in die psychische Struktur des Menschen eingeschrieben sind, was aber keine Störung oder Fehlfunktion sein muss, so wie dies in anderen psychologischen Theorien oftmals behauptet wird. Und so steht am Ende einer Psychoanalyse als Ziel auch weniger eine gefällige Identitätskonstruktion als vielmehr eine erhöhte Ambiguitätstoleranz sowie die Einsicht, dass die Widersprüchlichkeit des Begehrens nie aufzulösen ist.

In den folgenden beiden Kapiteln setzt sich Quindeau überzeugend mit dem Körper auseinander. Sie rückt dabei vom Primat des Körperlichen, wie dieser in unserer Gesellschaft propagiert wird, ab und postuliert – im Rückgriff auf Freud –, dass es sich vielmehr um einen Primat der Psyche handelt, welche den Körper und sein Begehren beeinflusst. Pointiert gesagt: Lust entsteht im Kopf und nicht im Körper! Das zentrale Kriterium menschlicher Sexualität ist nach Quindeau die Unabhängigkeit ihrer Erregung von konkreter Stimulierung der erogenen Zonen und vielmehr die Tatsache, dass sie dagegen erheblich von Fantasien und Erinnerungen ausgelöst werden kann.

Im vierten Kapitel befasst sich Quindeau mit den verschiedenen »Umschriften« (S. 33), welche die Entwicklung und Variation der menschlichen Sexualität beschreiben. Die bedeutendste Errungenschaft der Freud’schen Sexualtheorie ist ihrer Auffassung nach die Konzeptualisierung einer infantilen Sexualität. Diese ist jedoch nicht auf das Kindesalter beschränkt. Vielmehr konstituiert sie sich nach der Geburt, entfaltet sich im Verlauf der psychosexuellen Entwicklung in verschiedene Formen und bildet nach der Pubertät auch den Kern der genitalen »erwachsenen Sexualität«. So stellt gerade das infantile »polymorph-perverse« den zentralen Wesenszug menschlicher Sexualität dar. Es herrscht heute Konsens in der Sexualwissenschaft, dass schon bei Kleinkindern fast alle sexuellen Äußerungen wie bei Erwachsenen zu beobachten sind, von sexueller Neugier über Erregung bis hin zum Orgasmus mit allen Kennzeichen wie »verlorenem Blick«, Beschleunigung der Atmung und Muskelspasmus. Die Adoleszenz ist mithin kein Neuanfang in dieser Hinsicht, sondern stellt einen Knotenpunkt der Entwicklung dar, an dem sich verschiedene Umschriften auf unterschiedlichen Ebenen bündeln. Die »rätselhaften Botschaften« (S. 50) werden vor dem Hintergrund der körperlichen, insbesondere der genitalen Entwicklung erneut interpretiert und zu neuen Antworten verarbeitet. Mit der Metapher einer fortlaufenden Umschrift möchte Quindeau hier einen deutlicheren Zusammenhang verschiedener Lust- und Befriedigungsmodalitäten einschließlich ihrer Konflikte konzipieren. Dies beinhaltet auch eine Fassung der Sozialisationserfahrungen als »Einschreibungen« (ebd.) in den Körper.

Im letzten Kapitel beschreibt Quindeau weibliche und männliche Sexualität als gesellschaftliche Konstruktionen. Es gibt, so Quindeau, keine geschlechterspezifischen sexuellen Tendenzen. Die Autorin schlägt stattdessen vor, das Geschlecht als Kontinuum zu begreifen, mit unterschiedlichen Zwischenstufen, was Mischungsverhältnisse und Abweichungen ermöglicht. Die Lust der Frau wird beispielsweise oft in Zusammenhang mit der Reproduktion gestellt. Und so finden wir, im Gegensatz zur Beschreibung der Verhältnisse von Müttern und Söhnen, kaum je einen einzigen Satz über die sexuelle Dimension der Liebesbeziehung von Mutter und Tochter. Das weibliche Verlangen steht in einem doppelten Spannungsverhältnis: einerseits zwischen Identifizierung mit und Separation von einer entsexualisierten Mutter, andererseits zwischen dem Wunsch und der Unfähigkeit der Identifizierung mit einem Vater, der für sexuelles Begehren stehe: »Das Mädchen kann keine Repräsentanz des Verlangens erschaffen, die auf Identifikation mit der Mutter basiert – ein Gefühl sexueller Handlungsfähigkeit, das aktiv und weiblich ist; deshalb wendet es seine idealisierende Liebe einer Männergestalt zu, die das Verlangen verkörpert« (S. 75). Auch hier ist die grundlegende Entsexualisierung der Mutter-Tochter-Dimension am Werk, und es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet in einer sich als feministisch begreifenden Theorie die Mär vom fehlenden weiblichen Verlangen reproduziert wird. Aufgrund dieser Feststellungen und dem Primat des Psychischen konstatiert Quindeau unter anderem, dass die Erregbarkeit der Geschlechtsorgane sich weniger dem Körper verdankt, sondern vielmehr der Funktion dieser Organe als Projektionsflächen und dass die sexuelle Entwicklung als permanenter Prozess der Umschrift von Erinnerungsspuren verstanden werden kann, in welchem sich Lust- und Befriedigungserfahrungen niederschlagen. Seit jeher zielt die Analyse darauf, »verdrängte Liebe zu befreien« (Freud), und d. h., Lust- und Befriedigungsmodalitäten verfügbar zu machen, welche bisher zu viel Angst gemacht haben und abgewehrt werden mussten. Das geschieht in einem erotischen Ü̈bergangsraum, in dem die Möglichkeiten des Begehrens sorgsam ausgelotet und gehalten werden. Zentral ist dabei die Möglichkeit des Begehrens, keineswegs jedoch seine Realisierung, die diesen konstitutiven Raum zerstören würde und nur jenseits dieser Beziehung gelebt werden kann.

Quindeau schließt mit einer Präzisierung und einem Rückbezug auf ihre Eingangsthese. So ist die Analyse der Sexualität nach ihrer Auffassung von großer Bedeutung für den therapeutischen Erfolg, da sie latente psychische und psycho- soziale Konfliktstrukturen – wie ein Seismograph – anzeigt und sichtbar macht. Im Bereich des Sexuellen sind sie am Unterschiedlichsten; sie beziehen sich auf die Geschlechterspannung ebenso wie auf die polare Organisation der Lust- und Befriedigungsmodalitäten, die Freud als Partialtriebe bezeichnete. Traditionelle Geschlechterkonzepte und geschlechtsspezifische Erwartungen (kein richtiger Mann, keine richtige Frau zu sein), schränken das sexuelle Erleben und die Befriedigungsmodalitäten ein. Die psychoanalytische Theorie bietet die Möglichkeit, die dichotome Abgrenzung des Weiblichen und Männlichen zu bearbeiten und die Identitätskonstruktionen flexibler werden zu lassen, indem männliche und weibliche Anteile nebeneinander angesiedelt und integriert werden. So kann die Vielfalt des (sexuellen) Erlebens geöffnet werden.

Das Buch von Quindeau bietet meines Erachtens nicht nur eine fundierte Rekonstruktion des Begriffes der Sexualität bei Freud und dessen Implikationen für psychodynamische Therapien damals und heute, sondern auch eine messerscharfe soziologische Analyse des menschlichen Begehrens und dessen Vielfalt und Veränderungstendenzen in der heutigen Gesellschaft. Auf überzeugende Weise erläutert Quindeau ihre Thesen anhand von Fallbeispielen und bringt dem Leser anhand ihres roten Fadens (polymorph-perverser Charakter der Sexualität) diese Grundlagen der Freud’schen Psychoanalyse nahe.

Somit hat sie – zumindest für mich – das Rätsel der Bedeutsamkeit der Sexualität in der Psychoanalyse ein Stück weit gelöst, und ich lege dieses Buch nicht nur Ausbildungskandidaten an die Hand, sondern unbedingt auch allen anderen Spurensuchern, die sich fundiert mit den »Basics« unserer Profession auseinandersetzen möchten. In diesem dünnen Band findet sich hochkompakt und schnörkellos ein wichtiges Stück Theoriegeschichte; aufbereitet mit den modernen Erkenntnissen der Soziologie und mit einer ausgezeichneten Illustrierung durch Fälle aus eigener Praxis.
Weitere Informationen zur Zeitschrift: www.brandes-apsel-verlag.de

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