Rezension zu Patient Scheidungsfamilie (PDF-E-Book)
Fokus Beratung. Information der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V., Fachverband für Psychologische Beratung und Supervision, November 2015, 25. Ausgabe, S. 91-93
Rezension von Elisabeth Grotmann
Helmuth Figdor, Patient Scheidungsfamilie. Ein Ratgeber für
professionelle Helfer
Endlich! – das war mein erster Gedanke als ich vom Erscheinen
dieses Buches hörte.
Bereits seit einigen Jahren mit dem Thema »Beratung
hochkonflikthafter Eltern« mit und ohne Auflagen seitens des
Familiengerichtes beschäftigt, fehlte mir eine psychodynamische
Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Aus der Perspektive der
systemischen Schule gab es bereits hilfreiche Ansätze zum Umgang
mit diesen Eltern, die sich vor lauter Hass nicht einmal
gleichzeitig in einem (Warte )Zimmer aufhalten können, aus dem
tiefenpsychologisch analytischen Haus fehlte eine Stimme.
Helmuth Figdor ist im Zusammenhang mit »Trennung und Scheidung«
diese Stimme. Der Wiener Psychoanalytiker und Vorsitzender der
Arbeitsgemeinschaft »Psychoanalytische Pädagogik« hat bereits
mehrere Bücher veröffentlicht zu »Scheidungsfolgen« und »Hilfen für
Kinder und Eltern«, die durch seine empathische Sichtweise
hervorstechen. Während er dort vor allem die Perspektive der Kinder
und Eltern in den Vordergrund stellt, wendet sich der vorliegende
Band an die unterschiedlichen Professionen, die an der Arbeit mit
Scheidungsfamilien beteiligt sind.
Der freudigen Erwartung folgte eine erste kleine Enttäuschung beim
Blick auf das Vorwort: Es erwartete mich nicht eine
zusammenhängende Abhandlung, sondern die Zusammen¬stellung
einzelner Vorträge und Artikel, die der Autor im Laufe der letzten
Jahre gehalten bzw. verfasst hat. Angesprochen werden
unterschiedliche Berufsgruppen, die mit jeweils unterschiedlichen
Aspekten der Trennungs- und Scheidungssituation konfrontiert
werden, z.B. Erzieherinnen ebenso wie Beraterinnen und
Therapeuten.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert: Teil I beschäftigt sich mit
der Frage, was Kinder brauchen, um die Krise »Trennung der Eltern«
verarbeiten zu können, in Teil II geht es um Therapie und Beratung,
in Teil Ill um die Besonderheiten der Arbeit mit hochstrittigen
Eltern und in Teil IV schließlich diskutiert Figdor das Kindeswohl
im Zusammenhang mit dem Familiengerichtsverfahren.
Angesichts des Titels »Patient Scheidungsfamilie«, der vermutlich
an das Werk Horst Eberhard Richters »Patient Familie« angelehnt
ist, fragte ich mich zuerst, ob nach Figdors Auffassung
Scheidungsfamilien krank sind und einer Behandlung bedürfen, und ob
– ähnlich wie bei Richter – eine Typologie verschiedener
Scheidungsfamilienformen folgen würde. Figdor spricht aber nicht
von kranken Familien, sondern von komplexen Situationen, von
Kindern, denen durch Einhaltung von (18) Empfehlungen (56 ff.) die
Trennung der Eltern erleichtert werden kann.
Dazu zählt z.B., dass Kinder in dieser Situation Eltern brauchen,
die einfühlsam, geduldig, optimistisch, und zuwendend sind (66),
diese gleichzeitig selber in einer so schwierigen Situation sind,
dass sie Kinder brauchen würden, die so ruhig, anspruchslos, loyal,
seelisch gefestigt, vernünftig und selbständig sind, wie sie es
bisher noch nie sein mussten – ein Paradoxon – und damit eine
Gefahr für die Verarbeitung der Trennungsfolgen. Figdor beschäftigt
sich mit dem widersprüchlichen Erleben der Eltern und sein Anliegen
ist es, dieses bewusst und damit der Bearbeitung zugänglich zu
machen.
Anknüpfend an seine bereits vorliegenden Veröffentlichungen setzt
sich der Autor auf dem Hintergrund der psychoanalytischen
Entwicklungstheorie mit der Bedeutung der Vater-Mutter Kind
Beziehung auseinander, mit der Bedeutung der Triangulierung und den
Konsequenzen der Erschütterung, die sich für das Kind aus der
Trennung der Eltern ergeben.
Seine Ausführungen haben einerseits das Ziel, den helfenden
Akteuren Einsichten über Psychodynamik der elterlichen Trennung zu
vermitteln und ein tieferes Verständnis zu ermöglichen, darauf
folgend setzt sich Figdor mit Möglichkeiten der Beratung
auseinander. Wie kann es gelingen, Eltern in ihrer oft
verzweifelten Situation zu einem Arbeitsbündnis einzuladen,
Eltern(teile), die häufig klare Vorstellung davon haben, woran das
Kind leidet und wie dieses Leid zu lindern sei wie z.B.: der
Kontakt zum Vater müsse reduziert werden, dann könne das Kind
wieder besser schlafen, oder: der Kontakt solle ganz unterbunden
werden, damit sich das Kind wieder besser in der Schule
konzentrieren könne.
Figdor folgt seiner Klientel in kleinen Schritten. Er
vergegenwärtigt sich jederzeit, dass niemand ohne Grund etwas sagt
oder tut. Er begegnet seiner Klientel mit Verständnis für deren
Veränderungswunsch und die Lösungsidee, lässt sie aber auch wissen,
dass er ihr nicht folgen kann (s.o.) und begründet dies
ausführlich. Er bezeichnet es als »Grundmuster des
Beratungsprozesses von Eltern bei Scheidung und Trennung« (130),
die Eltern dazu zu bringen, dass sie nicht mehr plädieren, sondern
fragen und damit das Expertenwissen in Erscheinung treten kann.
Gelingt diese von ihm so genannte »Widerspruchspannung«, könne man
erklären, welche Entwicklungsbedingungen optimal sind für das Kind,
um dann ein Angebot zu machen: die von den Eltern als unerträglich
empfundene Situation gehöre verändert und man könne hilfreich sein
bei der Suche nach Lösungen.
Figdor diskutiert unterschiedliche Beratungsansätze und grenzt sie
von Therapie ab. Er zeigt unterschiedliche Formen von »Fallen« wie
z.B. die »Auftragsfalle« oder die »Versöhnungsfalle«. Aus der
Praxis kenne ich nicht wenige Fälle, in denen sich mir die Frage
stellt, ob der Umgang zum anderen Elternteil wirklich sinnvoll und
für das Kind entwicklungsförderlich ist. Figdor beantwortet solche
und andere Fragen mit einem klaren »Jein« und diskutiert die Vor
und Nachteile immer wieder nach allen Seiten, im besten Sinne
analytisch. Seine grundlegende Haltung ist allerdings klar, ein
Kind braucht beide Eltern, und auch dann, wenn die triangulierende
Funktion weitgehend von einem sozialen Vater, oder Großvater
übernommen wird, so verliert er den leiblichen Vater als für die
Entwicklung der Identität notwendiges Objekt nie aus dem Auge.
Das ist es, was immer wieder fasziniert an seinen Ausführungen: die
Haltung, die wohlwollend dem Leid der Eltern und den Bedürfnissen
der Kinder gegenüber bleibt, auch dann, wenn die
Beziehungsverhältnisse zwischen den Sorgeberechtigten noch so krass
erscheinen. Eine zwangsweise Durchsetzung des Umgangsrechtes mit
dem anderen Elternteil muss einher gehen mit dem Zwang zur
Beratung. Eine kühne These, bedenkt man, dass psychoanalytisch
pädagogische Arbeit davon ausgeht, dass Freiwilligkeit die
Voraussetzung für eine gelingende Beratungsbeziehung ist.
Figdor diskutiert die unterschiedlichen Ebenen des
Beratungsauftrages, der Erwartungen der Klienten und seiner eigenen
Arbeitsweise, die zueinander im Widerstreit liegen können. Diesem
Konflikt begegnet er, indem er wiederum verbalisiert, seine
Position als Berater beschreibt und die Eltern im Sinne einer
psychoedukativen Intervention aufklärt, worauf sie sich einlassen.
Figdor vertritt nachdrücklich die Auffassung, dass eine aktive
psychologisch pädagogische Aufklärung die Einstellung der Eltern
zur Beratung verändern kann. Schließlich sei die Weigerungshaltung
auch oft Teil des Kampfes: wer will schon zugeben, dass er
hilfebedürftig ist? Zeige er sich dem anderen dann nicht als
schwach und unfähig?
Dem Thema »Hochkonflikt Familie« widmet sich der Autor ausführlich.
Er nähert sich dem Verständnis der Dynamik heillos zerstrittener
Eltern über Adornos Konzept des autoritären Charakters an (147).
Hier wie dort stehe die Projektion unliebsamer Neigungen und
Regungen im Dienst der Vermeidung von Schuld und Schamgefühlen, von
Ängsten und Depressionen.
Ähnlich wie bei Adorno beschrieben, entwickelt sich zwischen den
hochstrittigen Expartnern aus dem einst geliebten Menschen der
Feind, Täter, Inkarnation alles Bösen – dem der Andere als Opfer
und Bedrohter gegenüberstehe. Gesellschaftliche Schranken (Über
Ich) bilden u.U. kein Hindernis, die Vernichtung des Anderen zu
betreiben. (z.B. Anzeigen wegen des Verdachtes auf sexuellen
Missbrauch, Reifenstechen). So verwundere es nicht, dass in der
Beratung geäußerte Sätze wie: »Ihr Kind spürt die Spannung« »Sie
sollten nicht so viel streiten in Gegenwart Ihres Kindes« ihre
Wirkung vollkommen verfehlen. »Regulierende Einsicht« und »hemmende
Werte« verlieren durch die Regression an Macht. Da es für das
Beenden von Partnerschaften und für den Umgang von getrennten
Eltern mit ihren Kindern kaum einen verbindlichen normativen
Konsens gebe, eröffne das dem Ausleben mächtiger Emotionen Tür und
Tor. Wie wahr!
Anhand von Fallbeispielen entfaltet Figdor seine Arbeitsweise,
seine außerordentlich differenzierte Auseinandersetzung mit
Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung, mit wechselnden
Identifizierungen die Situation der Beteiligten betreffend, immer
darum bemüht, zu verstehen; sich als Bündnispartner anzubieten,
jedoch nie Partei zu werden oder gar den Eindruck zu erwecken, er
stünde »auf der anderen Seite«. Figdor beschreibt nicht nur
differenziert, sondern er lässt seine Klienten genauestens
teilhaben an seinen Überlegungen mit dem Ziel, bisherige
Einstellungen und Meinungen zu überdenken. Niemals sollen sich
diese Eltern belehrt fühlen oder moralisch überholt fühlen. In
diesem Fall wäre die positive Übertragung in Gefahr.
Figdor befasst sich schließlich auch mit den verschiedenen Aspekten
des familiengerichtlichen Verfahrens, dem Kindeswohl und der Rolle
des Sachverständigen sowie des Verfahrensbeistandes (in Österreich
»Kinderbeistand«). Zum Abschluss des Buches kommen Kinder und
Jugendliche selber zu Wort. Im Rahmen einer qualitativen Studie
wurden sie gefragt, welches aus ihrer Sicht z.B. förderliche oder
hinderliche Verhaltensweise der Eltern ist. Auch wenn vieles davon
nicht unbekannt ist, so beeindruckt doch die Unmittelbarkeit der
Aussagen.
Der Aufbau des Buches als Folge von Vorträgen führt gelegentlich zu
Wiederholungen einzelner Aspekte und Themen, die aber jeweils in
unterschiedliche Zusammenhänge eingebettet sind, so dass man diesen
Band auch nicht unbedingt fortlaufend lesen muss, sondern sich
einzelnen Teilen gezielt zuwenden kann. Auf die Anrede »Sehr
geehrte Damen und Herren« vor einzelnen Kapiteln hätte ich als
Leserin allerdings durchaus verzichten können.
Der Autor verbreitet Optimismus und Hoffnung, die Lektüre führte
mich insbesondere bei schwierigen Trennungsberatungen immer wieder
dazu inne zu halten, das (Beratungs )Tempo zu verlangsamen, den
eigenen Empfindungen Raum zu geben – und sie reflektierend wieder
in den Beratungsprozess zurückzugeben. Folgt man Figdor in seiner
Auffassung, dass mit Beratung die allermeisten Konflikte besprochen
und mit entsprechender Aufklärung in aller Regel der Krieg
beigelegt werden kann und somit die Eltern zu einer
einvernehmlichen Sorge kämen, dann könnte man fast zu dem Schluss
kommen, dass das Scheitern der Beratung oft dem Mangel an Zeit und
der Rastlosigkeit des Alltags geschuldet ist.