Rezension zu Wilfred Bion (PDF-E-Book)
Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse, Nr. 179, 1/2015
Rezension von Stefan Wolf
Wolfgang Wiedemann: Wilfred Bion
Dem Werk Wilfred Bions (1897–1979) wird in der Psychoanalyse der
Gegenwart nach wie vor unvermindertes Interesse zuteil. Für all
jene, die bislang von der eigenwilligen Unanschaulichkeit
Bion’scher Metaphern (»β-Elemente«, »α-Funktion«; »–K«, »O«)
abgehalten wurden, sich mit seinem Denken vertraut zu machen,
bietet Wolfgang Wiedemanns Biografie und Werkeinführung eine
äußerst lesenswerte Annäherung an diesen wichtigen Autor. Sie
dürfte auch für Jungianer aufschlussreich sein, denn sie werden
in ihr manche Korrespondenzen mit Konzepten der Analytischen
Psychologie entdecken. Sie gehen zum Teil darauf zurück, dass
Bion, 38-jährig, als junger Psychoanalytiker, C. G. Jungs
»Tavistock Lectures« besuchte. Die Geschichte der sich daran
anschließenden kryptomnestischen Aneignung und produktiven
Ergänzung Jung’scher Ideen durch Bion hat Christian Maier
kürzlich in einer spannend zu lesenden analytischen Recherche
herausgearbeitet (Forum Psychoanalyse, 2014, 30, S. 157–178). Die
bei solcher Gelegenheit gern anhebende pauschale Klage, Jungs Ideen
würden zwar verwendet, sein Urheber aber wieder einmal
totgeschwiegen, erscheint nach der Lektüre von Maiers Untersuchung
zu einfach. Vielmehr scheint die Geschichte psychoanalytischer
Konzepte (wie die künstlerischer Ideen) einer Wanderbewegung zu
gleichen, in deren Verlauf sie durch verwandte Geister gehen, sich
dabei verändern und heranreifen und schließlich zu ihrem weithin
akzeptierten Ausdruck finden – wobei immer mal einer der am Gang
Beteiligten »vergessen« wird. Bei Bion trifft dieses Schicksal
übrigens nicht nur Jung, sondern (wie bei Wiedemann nachzulesen)
auch Winnicott, seinen unmittelbaren Kollegen. Das alles ist
bedauerlich, wird aber von der Evidenzerfahrung gemildert, dass
Bion schlussendlich einige zentrale jungianische Vorstellungen
weiterentwickelt.
Die auffallendsten Annäherungen vollziehen sich in seinen
späteren Arbeiten, die nach seiner Abwendung von kleinianischen
Positionen und nach dem Tod Melanie Kleins, seiner
Lehranalytikerin, entstanden sind. In ihnen schlägt er einen
eigenen Weg ein. So geht er in seiner Theorie des Denkens von der
Existenz phylogenetisch ererbter Präkonzeptionen aus, von
»Protogedanken«, wie er sagt, und formuliert Vorstellungen, die
Ähnlichkeiten mit der Vorgängigkeit und Unanschaulichkeit der
Archetypen bei Jung aufweisen. Eine andere wichtige Korrespondenz
stellt Bions Konzept »O« dar. In ihm bringt er Funktionen und
Phänomene unter, die Jung im Begriff des »Selbst« fasst, wobei
Bion stärker noch als Jung in metaphysische Spekulation ausgreift
und überhaupt mit dezidiert philosophischem Anspruch zu Werke
geht.
Auch wenn es natürlich verfehlt wäre, wegen dieser und manch
weiterer Übereinstimmungen aus Bion einen verkappten Jungianer zu
machen, die Berührung dieser beiden Forscher in den Grenzbereichen
ihres spekulativen Denkens ist doch ein bemerkenswerter Umstand. Er
mag mit der Tatsache zusammenhängen, dass ihr Schaffen
unauflösbar mit dem Erlebnis eigener tiefer psychischer Krisen
verknüpft ist. Für Jung ist die Erschütterung nach der Trennung
von Freud einschneidend. Bei Bion ist es die Erfahrung einer rauen
Erziehung und später, als junger Mann, seine Erlebnisse als
Panzersoldat im Ersten Weltkrieg, die sein privates Leben wie sein
Denken prägen. Die eigene Erfahrung, dem Seelischen tatsächlich
als einer ominösen Kraft ausgesetzt zu sein, es als ein
Daseinsphänomen zu erleben, das einem widerfährt, ist ihnen
gemeinsam. Wenn Bion schreibt: »Zu entdecken, dass man eine Psyche
hat, bedeutet immer einen Schock, weil man nie weiß, wie sich
dieses seltsame Ding entwickelt« (S. 81), bekundet er eine Sicht
der Dinge, die in ähnlichen Worten auch von Jung bezeugt worden
ist.
Selbst wenn man keine Neigung verspürt, das eigene Repertoire
psychologischer Konzepte um Bions Begriffe zu erweitern, allein
seine Lebensgeschichte, seine markante Persönlichkeit lohnen die
Lektüre dieses Buches. Ausführlich zitiert W. Wiedemann aus
schwer zugänglichen Quellen und autobiografischen Dokumenten. Sie
lassen einen überaus komplizierten, spröden, dabei hochsensiblen
Mann lebendig werden, der sich in ihnen mit erschütternder
Schonungslosigkeit offenbart. Die provozierende Direktheit dieser
Texte, ihre sprachliche Originalität und ihr abgründiger Humor
haben eine Qualität, wie man sie sonst nur in moderner Prosa
findet. So mutet es wie eine verblüffende Fügung an, dass
ausgerechnet Samuel Beckett einer der ersten Patienten in Bions
psychoanalytischer Praxis war. Bions Studie »Der eingebildete
Zwilling« soll von dieser Therapie handeln. Bion nahm Beckett sogar
zu Jungs »Tavistock Lectures« mit, weil er sich davon einen Impuls
für die stagnierende Therapie erhoffte, der – zumindest nach
Becketts Urteil – auch tatsächlich erfolgte (Einzelheiten
nachzulesen bei C. Maier).
Gerade wegen seiner ausgeprägten Affinität zur Sprache hadert
Bion mit ihren begrenzten Möglichkeiten, das »psychoanalytische
Erlebnis« zu beschreiben. Anders als Jung treibt ihn das Verlangen,
dieses »Unsagbare« zu vermitteln, nicht ins Bildhaft-Symbolische,
sondern entweder in formelhafte mathematische Abstraktion oder,
wenn es um das Verständnis psychotischen Erlebens geht, in die
Metaphorik von »Kampf« und »Krieg«. Es ist Bions eigene
traumatische Kriegserfahrung, die in seinen klinischen
Betrachtungen immer wieder durchscheint. Sie bildet die
Erfahrungsgrundlage für sein Verständnis seelischer Zerfalls- und
Grenzzustände und liefert ihm die Metaphern, in denen sie
beschreibbar werden. Während bei Jung der Mensch dem Unbewussten
als einer Flut von bedrängenden Bildern und Symbolen begegnet,
gleicht er bei Bion einem Soldaten in der Schlacht, dem die
Geschosse (genannt: »β-Elemente«) um die Ohren fliegen. Die gern
zitierte Bion’sche Aussage, dass die wichtigste Tugend des
Psychoanalytikers darin bestehe, unter Beschuss denken zu können,
gehört in diesen Zusammenhang.
Die Verknüpfung von Biografie und psychoanalytischem Denken ist
der eine rote Faden, den Wiedemann verfolgt. Der Andere, nicht
weniger Interessante, betrifft seinen Weg zum »Mystiker der
Psychoanalyse«, den religiösen Bion also, der in dieser
Eigenschaft von Seiten der Psychoanalyse auch Ablehnung und
Ignoranz erfahren hat. Mit Bedacht und ohne ihn für irgendeinen
»Glauben« zu vereinnahmen, zeichnet Wiedemann die biografischen
Stationen einfühlsam nach: von einer harschen, dogmatischen,
religiösen Erziehung, den durch sie geschürten Hass auf alles
Kirchlich-Religiöse und schließlich auf »Gott« selbst, über die
Abkehr in Gleichgültigkeit und Schweigen bis zur mächtigen
Wiederkehr des Themas im Alterswerk. In seinem Buch
Transformationen (1970) entfaltet er seinen Gottesbegriff »O«. In
Commentary (1967) versteht er das »religiöse Bedürfnis« als ein
»Bedürfnis nach Ehrfurcht und Schaudern« und sieht darin, im
Gegensatz zur Freud’schen Tradition, keine neurotische Deifikation
des Vaters, sondern eine anthropologische Konstante, »eine
Kapazität, deren Behinderung pathologisch ist und welche die
Psychoanalyse [...] wiederherstellen kann« (S. 288). Und in
Aufmerksamkeit und Deutung (1970) gelingt ihm schließlich eine
bündige Gesamtdarstellung seiner epistemisch-philosophischen und
psychoanalytischen Ansichten. Hier entwickelt er die Idee einer
psychoanalytischen Wissenschaft, die sich in ihrer Haltung der
Mystik verbunden fühlt, indem sie den »Schmerz des Nicht-Wissens«
nicht durch »Wissen über« vermeidet. Es ist ein Vorzug von
Wiedemanns Einführung in diese Arbeiten, dass er, da er nicht nur
Psychoanalytiker, sondern auch Theologe ist, auf die Quellen in
Theologie und Mystik hinweisen kann, an die Bion hier implizit
anknüpft. Mit seinen späten Schriften, so wird einem bei der
Lektüre klar, wendet sich Bion zwar vom psychoanalytischen
Establishment seiner Zeit ab, bleibt sich aber auf eine
untergründige Weise treu und kommt vielleicht erst in ihnen
vollständig zu sich. So bringt uns Wiedemanns Buch einen Mann
nahe, dessen spekulative, komplexe Denkbewegungen immer wieder zu
klarer Anschaulichkeit finden und Formeln hervorbringen, die
inzwischen in die psychoanalytische Umgangssprache eingegangen sind
(wie z. B. die Metapher Container/Contained), oft aber auch in
abweisender Hermetik verharren. Das zwischen Unzugänglichkeit und
Plausibilität Schwankende derartiger Werke hat der von Wiedemann
zitierte Donald Meltzer in Bion’scher Manier schonungslos auf den
Punkt gebracht: »Das Problem ist auf eine Weise dasselbe wie bei
Flugzeugen und Unterseebooten, dass sie nämlich von Genies
erfunden werden müssen, damit sie von Idioten bedient werden
können.«
Stefan Wolf, Berlin