Rezension zu Die Beziehung zwischen Text und Leser

Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, 2015

Rezension von Timo Storck

Dominic Angeloch: Die Beziehung zwischen Text und Leser. Grundlagen und Methodik psychoanalytischen Lesens. Mit einer Lektüre von Flauberts »Éducation sentimentale«,

Dominic Angeloch legt mit seinem Buch einen umfassenden Beitrag zur psychoanalytischen Kunstforschung, im Besonderen zur psychoanalytischen Literaturinterpretation vor. Das tun Andere auch, aber im vorliegenden Fall findet der Leser so etwas wie eine kritische Theorie und Praxis des psychoanalytischen Lesens. Angeloch, der sich in seinem Ansatz auf die Freudschen Grundlagen psychoanalytischer Ästhetik und neben einer Berücksichtigung verschiedener Fortführungslinien vor allem auf das Umfeld des Freiburger Arbeitskreises Literatur und Psychoanalyse (hier v. a.: Carl Pietzcker oder Gottfried Fischer) bezieht, argumentiert dabei für die grundlegende Berücksichtigung der »Kommunikationstotalität Künstler – Kunstarbeit – Kunstwerk – Kunstrezipient«, aus welcher er die »Beziehungsprozesse zwischen Text und Leser« herauslösen möchte, um diesen »Kristallisationspunkt dialektischer Erfahrung« (S. 61) zu erforschen. Damit weist er auf das komplexe und ineinander verschachtelte Feld psychoanalytischer Kunstforschung hin, hinsichtlich dessen beileibe nicht alle Arbeiten ihren Gegenstand so genau ausweisen oder die wechselseitige Konstituierung derart konsequent dialektisch denken wie Angeloch es tut. Ferner weist er dem Beziehungsaspekt der Kunsterfahrung, hier: des Lesens, und dessen Reflexion den zentralen Platz in seinem Zugang zum Feld aus. Ihm geht es um die Wirkungsanalyse in der psychoanalytischen Kunstinterpretation und diese ist vom Beziehungsaspekt nicht zu lösen.

Im Durchgang durch Grundlagen und Methodik changiert Angeloch dabei gleichwohl zwischen Überlegungen zur allgemeinen psychoanalytischen Kunsterfahrung und zur psychoanalytischen Rezeption von Prosa, wenngleich die Bezugnahmen auf Freuds Texte vor allem in Form der Erörterung der Gradiva-Studie oder der Schrift über den Dichter und das Phantasieren überwiegen. Es finden sich eingangs differenzierte Problematisierungen der Frage nach der Rolle der Künstlerbiografie, in denen Angeloch vereinfachenden Ein- oder Ausschlusspostulaten eine klare Absage erteilt und – so mein Eindruck – das Argument andeutet, dass vor allem die Fantasien des Rezipienten über den Künstler in der Rezeption eine hohe Wirk- macht aufweisen.

Der Theorie- und Methodenteil der Arbeit gliedert sich in zwei Abschnitte, in welchen Angeloch sowohl den Gegenstand als auch die Methode psychoanalytischen Lesens erörtert und von verschiedenen Seiten und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Probleme in den Blick nehmen kann. Im ersten dieser beiden Abschnitte setzt er eine Erörterung der Traum-Kunstwerk-Analogie in den Mittelpunkt. In der Tat ist ja zu überlegen, in welcher Weise ein literarisches Kunstwerk sich einer psychoanalytischen Deutung oder Interpretation überhaupt als zugänglich erweist. Diese Überlegungen führen in eine prozessbezogene Sicht, und d. h. auch: zur Frage, ob Träumen dieselben Mechanismen zeitigt wie Dichten und mithin eine psychoanalytische Deutung von Traum und Dichtung eine entsprechende »Arbeit« rückgängig machen kann. Um dies zu untersuchen, stützt Angeloch sich auf die v. a. im Anschluss an Freuds Formulierungen zur »Witzarbeit« und damit die der bewussten Konstruktion näher als der Traum stehende Produktion des Witzes als eine spezifische Wunsch-Abwehr-Bildung. In der Diskussion der »psychogenetischen Reihe« aus Traum – Fantasie – Kinderspiel – Tagtraum – gemeinsamer Tagtraum – Witz – Kunstwerk (S. 93) kann der Autor herausstellen, dass es der soziale Charakter des Kunstwerks ist, der es – und damit zumindest in Teilen auch seine Entstehung – vom Traum unterscheidet. In einer nachvollziehbaren Wendung, unter Analogien ein Aufzeigen von Verhältnissen und nicht von Identitäten zu verstehen, kann Angeloch gleichwohl im Bilde bleiben und Traum und Kunstwerk aufeinander beziehen. Insbesondere ermöglicht ihm das eine vertiefte Diskussion des altbekannten »Formproblems« psychoanalytischer Kunsttheorie und -interpretation. Angesichts des Hinweises auf Freuds Bemerkungen zum kommunikativen Charakter des Kunstwerks, also zur Arbeit des Künstlers, private Fantasien auf eine Weise zu formen, dass sie von anderen geteilt werden können, kann Angeloch darstellen, dass Freud mitnichten das Formproblem durchweg beiseite ließ, wie es rückblickend gelegentlich postuliert wird. Vielmehr kann der soziale Charakter des Kunstwerks sich einzig über die Form vermitteln, sonst würde es sich von der Fantasie nicht unter- scheiden. Dies kann der Autor weiterführen zum Argument, dass in der Psychoanalyse »Form [...] als selbst bedeutungstragend« gelte (S. 148), wie sich anhand der Traumarbeit und der Traumdeutung zeigen lässt. Auf diese Weise wird die Traum- Kunstwerk-Analogie zur Erörterung des Formproblems nützlich. Ebenso wird eine differenzierte Sicht auf das Verhältnis von Bewusst/Unbewusst beziehungsweise Manifest/Latent möglich, die ein triviales Verständnis des Modells im Sinne eines doppelten Geschehens unterschiedlicher Tiefe abweist.

Der zweite Abschnitt zu Grundlagen und Methodik beschäftigt sich dann stärker mit den Zugangsweisen, insbesondere in einer Herleitung und Konkretisierung der auch von Angeloch so genannten »Gegenübertragungsanalyse«. Dahin führt ihn das Anliegen der Wirkungsanalyse und damit die Reflexion des Beziehungsgeschehens (Angeloch spricht hier von einer »kopernikanischen Wende« in der psychoanalytischen Theoriebildung, hin zur Thematisierung der Beziehung [S. 160 ff.]). Er leitet die Gegenübertragungsanalyse als Methode psychoanalytischen Lesens aus der klinischen Situation her und findet über die kommunikative Situation der Kunstrezeption den Anschluss für eine Begründung und Beschreibung seiner Methode. Wenn er sich dabei Reimut Reiche anschließt, übergeht er gleichwohl den sich in dessen Zitat von der »so genannt[en] Gegenübertragung« (S. 210; Hervorhebung T. S.) andeutenden Kritikpunkt: impliziert nicht die Bezeichnung des betrachterischen Anteils in der Kunsterfahrung als Gegenübertragung, dass die Wirkung des Kunstwerks als eine Übertragung aufgefasst wird? Unter welchen Bedingungen könnte man das annehmen? Kann übertragen, wer/was nicht-psychisch ist? Zwei Argumente könnten die Terminologie stützen, werden aber von Angeloch nicht angeführt: zum einen könnte – mit Lacan – gesagt werden, die Gegenübertragung gehe der Übertragung voraus (doch der strukturale Ansatz Lacans und an diesen anknüpfende Autorinnen und Autoren, von Angeloch »neostrukturalistisch« genannt, wird expressis verbis aus der Abhandlung herausgehalten [S. 17]). Dann wäre aber zu klären, in welcher Weise dem Kunstwerk eine Übertragung aufgepfropft wird. Zum anderen könnte argumentiert werden, dass die Gegenübertragung genannte Reaktion des Rezipienten eine ist, die eine Fantasie über das konflikthafte, wünschende, abwehrende, affektive und damit subjektive Kunstwerk einschließt. Diese Fragen reißt die Erörterung an dieser Stelle auf, ohne sie explizit zu thematisieren. Angeloch diskutiert gleichwohl zwei andere Einwände gegen die von ihm gewählte Methode: den der Privatheit und den der Ungeschichtlichkeit des Vorgehens – beides kann er überzeugend entkräften. Das Problem des dem Kunstwerk unterstellten Übertragungsvermögens bleibt gleichwohl ungeklärt, auch im extensiven Abschnitt, in welchem Angeloch verschiedene Abwehrmechanismen und deren Rolle in der Kunstsituation (mal auf Seiten einer Abwehrreaktion des Rezipienten, mal auf Seiten einer kompromissbildenden Struktur des Kunstwerks) diskutiert. Während das Argument, eine psychoanalytische Kunsterfahrung und -erforschung habe neben der Übertragungsfrage diejenige des Widerstands einzubeziehen, in hohem Maße überzeugt (ebenso wie der Hinweis, dass psychoanalytisches Lesen als eine »Zumutung« auch Durcharbeiten der eigenen widerstandsgeleiteten Reaktionen bedeutet), so gerät der Ritt durch die Abwehr hier zu rasant und eine vertiefte Erörterung – insbesondere der projektiven Identifizierung oder der Sublimierung – bleibt leider aus.

Schließlich kommt Angeloch zum Anwendungsteil der Arbeit, einer lesenden Analyse von Flauberts Roman Éducation sentimentale. Er kann hier sehr differenziert und überzeugend aufzeigen, wie er vorgeht und welche Ergebnisse das ermöglicht. Dabei ist die Hauptannahme, dass das Werk, indem es einen beharrlich scheiternden und passiven »Anti-Helden« in einem Nicht-Entwicklungsroman präsentiert, auch den Leser scheitern lässt (Angeloch führt dies sowohl anhand seiner affektiven Reaktionen auf den Roman als auch anhand von dessen Form vor). Im Wesentlichen gliedert sich seine Interpretation in drei Teile, die jeweils verwoben sind mit einer inhaltlichen Wiedergabe relevanter Romanpassagen, der Darstellung der Form und der Beziehungsaspekte. Im ersten dieser drei Teile diskutiert er die Szene der ersten Begegnung des Protagonisten Frédéric mit Madame Arnoux (hier wie durchgängig im französischen Orginal wiedergegeben) – einschließlich einer Thematisierung und Reflexion seiner eigenen heftigen Reaktion darauf und auf den weiteren Roman. Auf einer inhaltlichen Ebene arbeitet Angeloch das Gebundensein Frédérics an die Mutter heraus. In einem zweiten Teil der Interpretation diskutiert er die verschiedenen »Interaktionskreise«, in denen Frédéric präsentiert wird: Konstellationen zwischen ihm, einer Frau und deren Mann/Partner – und hier gelingt es zu zeigen, dass es sich dabei nur um scheinbare Dreierkonstellationen handelt: vielmehr bleibt der Protagonist in diesem Gefüge auf die Frau bezogen und Bezugnahmen auf den Mann schließen nicht dessen Beziehung zur Frau ein. Das macht es im dritten Teil der Analyse möglich, angesichts des Haupt-Interaktionskreises zwischen Frédéric, Madame Arnoux und Monsieur Arnoux die Frage zu stellen, ob es sich bei der Éducation sentimentale um einen »ödipal verkleideten präödipalen Text« handele (S. 346 ff.). Die Erörterung dieser Frage gelingt in hervorragender Weise: dies deshalb, weil ein Bezug zu psychoanalytischer Theorie hergestellt wird, der sich aus dem Methodischen ergibt und auf eine nicht-triviale Weise eine Antwort auf Beziehungsstrukturen ermöglicht. Abschließend gibt es eine Bezugnahme auf Flaubert als Autor – und zum Ende der Arbeit präsentiert Angeloch eine Rückschau auf die von ihm herausgearbeiteten methodischen Argumente einschließlich eines »panoramatischen« Ausblicks.

Angelochs Studie, die eine über das Wesen des Kunstwerks aus Sicht der Psychoanalyse, über deren Methode der Kunsterfahrung und zugleich eine praktisch-interpretierende Studie ist, die einen originären Beitrag zur Flaubertforschung liefert, hat ihre größte Stärke darin, sich einer vereinfachenden Sicht zu verweigern und die Herangehensweise einer Wirkungsanalyse, der Beziehungsreflexion und der Widerstandsanalyse konsequent und differenziert zu verfolgen. Das ist dabei für den Leser weit mehr als ein bloß intellektuelles Vergnügen: Auf besondere Weise lässt Angeloch in seinem Vorgehen etwas offen, deutet an, was der Leser weiterdenken kann, vielleicht: muss. So regt er etwa in der Erörterung der methodischen Gegenübertragungsanalyse dazu an, über die Möglichkeiten und Formen einer Übertragung des Kunstwerks nachzudenken. Etwas Vergleichbares ist im Abschnitt zur methodischen Widerstandsanalyse enthalten, nämlich der angedeutete Gedanke, Widerstandserfahrung auch als eine Validierungsstrategie zu benutzen. Eine ähnliche Figur zeigt sich in der Analyse des Flaubert-Romans selbst. Dezidiert und überzeugend wird heraus- gearbeitet, wie die Beziehungsstrukturen im Buch die Struktur des Präödipalen (beziehungsweise besser: des Frühödipalen) haben und wie der Vater als Dritter ausradiert wird oder nicht auftritt. Ferner beschreibt Angeloch genau, in welcher Weise er sich als ein scheiternder, abgestoßener Leser erlebte – vielleicht kann man sagen: ausradiert und ohne Auftritt. Die Verbindung des leserischen Aha-Erlebnisses – dass die Éducation sentimentale also nicht allein den von Angeloch ins Zentrum gesetzten Aspekt aufweist, den Leser in eine (bezüglich Frédéric) konkordante (Gegenübertragungs-)Position zu bringen (und wie er zu scheitern), sondern ihn zudem auch in eine komplementäre Position zu versetzen, in welcher er als Leser zum scheiternden Dritten wird, zum Vater, den es nicht gibt –, diese Verbindung bleibt in Angelochs Darstellung nur angedeutet und fordert die Mitarbeit des Lesers. Das hat den Effekt, dass man als Leser von Angelochs Buch gerade nicht scheitert und auch nicht »erzogen«, sondern einbezogen wird in eine Denkbewegung und eine Leseerfahrung.

Timo Storck

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