Rezension zu Der Soundtrack unserer Träume

Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, 2015

Rezension von Peter Scheinpflug

Konrad Heiland/Theo Piegler (Hg.): Der Soundtrack unserer Träume. Filmmusik und Psychoanalyse

Wer erinnert sich nicht an die unheimlichen Töne, die die Gefahr des weißen Hais ankündigen? Oder an das bedrohliche und martialische Leitmotiv des Imperiums in den Star-Wars-Filmen? Obwohl Filmmusik für die Rezeption von eminenter Bedeutung ist, wird sie in Filmlektüren und -analysen oft randständig und noch öfter gar nicht behandelt. Diesem Defizit wollen Konrad Heiland und Theo Piegler mit ihrem Sammelband begegnen, der 16 Beiträge zu Filmmusik und Psychoanalyse umfasst.

Und dass es noch so manche Grundlagenarbeit gerade zum Thema »Filmmusik und Psychoanalyse« zu leisten gilt, zeigen die Beiträge von Mathias Hirsch, Sebastian Leikert, Johannes Hirsch und Hannes König, die psychoanalytische Modelle zu Funktionen und Effekten von Filmmusik entwerfen: Mathias Hirsch eröffnet den Band mit einer Darlegung, warum das Kino gerade mit Blick auf die Filmmusik als uterines Szenario beschrieben werden kann. Auf dieser Grundlage legt Hirsch einige Anregungen vor zur Reflexion über die starken immersiven und affizierenden Effekte der Filmmusik auf das Publikum. Auch Sebastian Leikert widmet sich in seinem Beitrag der Immersion des Publikums in die Situation der Filmrezeption im Kino und entwirft ein Drei-Phasen-Modell: So stifte das Kino zunächst einen Rahmen der Rezeption, damit das Publikum sich auf den Film einlassen könne. Durch die Reduktion externer Reize würde dann eine Fokussierung der Wahrnehmung auf den Film befördert. Zuletzt wirke das Spiel mit Konventionen und deren Variation seduktiv auf das Publikum, dessen Rezeption und Apperzeption maßgeblich durch die Filmmusik gelenkt werde. Ein ähnliches und ebenfalls drei-gliedriges Modell entwirft auch Hannes König, um zu erklären, wie Musik unheimlich wirken kann: Da relativ gleichförmige Geräusche die intra-uterine Phase bestimmen, könne jede Irritation von musikalischen Konventionen im Kinoerlebnis, das auch König als quasi-uterine Situation auffasst, Verlustängste (re-)aktivieren. Laut seinem drei-gliedrigen Modell sind zunächst konventionelle Harmonien notwendig, damit der Rezipient sich auf die Rezeption einlässt. Anleihen aus der Neuen Musik fungierten dann als Irritation der Harmonien, mit denen sie schließlich kombiniert werden müssten, damit keine Abwehrreaktion des Rezipienten gegen die unheimlich wirkende Musik einsetze. Ähnlich gelagert sind auch die Ausführungen von Johannes Hirsch zum Unheimlichen der Stille im Film. Aus sowohl kulturwissenschaftlicher als auch psychoanalytischer Perspektive legt Hirsch überzeugend dar, warum Stille unheimlich wirken kann: Zum einen ist ihre Bedeutung ambig, da sie sowohl Ruhe und Erholung als auch Tod und Einsamkeit bezeichnet, zum anderen zeichnet sich gerade die intra-uterine Phase durch Lärm statt Stille aus. Musik hingegen, und damit löst der Autor die gängige Dichotomie von Stille und Musik auf, kann im Vergleich mit der Kakophonie des Alltags eine ordnungsstiftende Funktion erfüllen. Versteht man das Kino als quasi-uterine Situation, so wirkt Stille beunruhigend, während Musik hin- gegen Ordnung stiften kann.

Diese bisher angeführten Aufsätze rücken psychoanalytische Modellentwürfe zur Filmmusik ins Zentrum ihrer Ausführungen. Die restlichen Beiträge, die mehrheitlich von Musikern, Musik- und Kulturwissenschaftlern verfasst worden sind, beschäftigen sich hingegen mit speziellen Fallanalysen zur Filmmusik und zum Sounddesign, wobei psychoanalytische Fragestellungen oftmals nur noch am Rande behandelt werden: So eruiert beispielswiese Irene Kletschke das Sujet des Traums und die Visualisierung klassischer Musikstücke als Träume in Disneys Fantasia (1940), ohne auf psychoanalytische Ansätze einzugehen, wie sie beispielsweise mit der Traumanalyse gegeben wären. Weitgehend ohne psychoanalytische Denkfiguren und Modelle kommen auch Willem Stranks Ausführungen zu verschiedenen Typen der musikalischen Markierung des Irrealen und Stephan Brüggenthies’ Lektüre der ordnungsstiftenden Funktion der Filmmusik in dem multiperspektivisch erzählten Episodenfilm Magnolia (1999) aus. Wie aufschlussreich eine Detailanalyse von Filmmusik und ihren narrativen Funktionen sein kann, zeigt der Musikwissenschaftler Matthias Hornschuh am Beispiel der musikalischen Leitmotive in The Dark Knight (2008): Nicht nur die Story des Films problematisiert gängige Dichotomien von Superheldengeschichten wie gut/böse oder Ordnung/Anarchie, sondern auch die Musik prozessiert dies, wenn beispielsweise das Motiv von Batman jeder heroisch-pompösen Komposition entbehrt, die für Superhelden durchaus konventionell ist. Dass das Motiv des Jokers als erstes im Film erklingt und insgesamt im Film am präsentesten ist, lässt im Vergleich wenig Zweifel daran, wer die eigentliche Hauptfigur und die treibende Kraft im Film darstellt. In Andreas Jackes Beitrag steht dann zwar die Melancholie thematisch im Mittelpunkt seiner Lektüren von Lars von Triers Antichrist (2009) und Melancholia (2011); sie wird aber vorrangig vor der Folie der kulturgeschichtlichen Konnotationen der Musikstücke behandelt, die in den Filmen in zentralen Szenen erklingt. Auch mit seinem zweiten Beitrag über David Bowie und Marylin Monroe legt Jacke zwar einen interessanten Beitrag zur Startheorie vor, erhellt aber nur bedingt den Zusammenhang von Filmmusik und Psychoanalyse. Ähnlich verhält es sich mit den Beiträgen von Konrad Heiland, der dem avantgardistischen Sounddesign von auteurs wie Jean-Luc Godard, David Lynch und Stanley Kubrick huldigt, aber erst in dem gemeinsam mit Theo Piegler verfassten Aufsatz zum ›musikalischen Vertigo-Effekt‹ in Alfred Hitcocks Vertigo (1958) Ansätze zu einer psychoanalytischen Beschäftigung mit Filmmusik vorlegt.

Eine besondere Bereicherung des Bandes stellen die zwei Beiträge von Komponisten von Filmmusik dar, die teilweise als Werkstattbericht daherkommen und einen Einblick in die Arbeitsweise der Komponisten geben. So erfährt der Leser aus einem Interview, das Ko-Herausgeber Konrad Heiland mit der Kölner Musikerin Christina Fuchs über ihre Filmmusik geführt hat, etwas mehr darüber, wie Komponisten mit dem Filmmaterial umgehen, zu dem Filmmusik komponiert werden muss. Im zweiten Beitrag dieser Kategorie legt der Komponist Enjott Schneider seine Überlegungen zu den Beziehungen der Filmmusik zum Unbewussten dar. Dabei erläutert er sowohl seine Strategien, um seinem Unbewussten Inspiration zu entlocken, als auch verschiedene Praktiken der Klangmodellierung wie beispielsweise subfrequente Töne oder Halleffekte, durch die das Unbewusste des Publikums gezielt beeinflusst werden soll.

Alle diese Beiträge sind hoch interessant – allein ihre Platzierung in einem Band, der vorgeblich psychoanalytisch ausgerichtet ist, hätte eines deutlicheren Kommentars von Seiten der Herausgeber über die Anlage, den Aufbau und die Zielsetzung des Bandes bedurft. Ohne Frage sind diese ein besonderes Wagnis eingegangen, da eine Auseinandersetzung mit dem Thema musikwissenschaftliche Grundkenntnisse auf Seiten der Psychoanalytiker und psychoanalytisches Basiswissen auf Seiten der Musikwissenschaftler und Praktiker erfordert. Und insbesondere für die Inkorporation von Werkstattberichten verdienen die Herausgeber ein großes Lob. Doch gerade weil der Band so vielseitig und ideenreich ist und er Experten ganz verschiedener Couleur vereint, hätten die Herausgeber dem Leser mit einer stärkeren Strukturierung und Moderation der Beiträge entgegenkommen müssen. Beispielsweise finden sich inmitten der eingangs dargestellten Aufsätze, die psychoanalytische Modelle zur Filmmusik entwerfen, die filmhistorischen Ausführungen von Helga de la Motte-Haber zu den Techniken und Praktiken der musikalischen Begleitung von Stummfilmen, die als Überblicksdarstellung ohne direkten psychoanalytischen Bezug den anderen Beiträgen hätten vorangestellt werden können. So gestaltet sich die fehlende Ordnung etwas wie ein Hintergrundrauschen, von dem sich die vielen aufschlussreichen Beobachtungen und Überlegungen aber als klare Melodie abheben.

Peter Scheinpflug

zurück zum Titel