Rezension zu Karl Abraham
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, 2015
Rezension von Walter Schönau
Anna Bentinck van Schoonheten: Karl Abraham. Freuds rots in de
branding, Antwerpen/Apeldoorn: Garant 2013 (= Diss. Leiden 2013). –
556 S., € 44,90.
Karin Zienert-Eilts: Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der
psychoanalytischen Bewegung, Gießen: Psychosozial-Verlag 2013 (=
Bibliothek der Psychoanalyse). – 352 S., € 39,90.
Der Zufall will es, dass 2013 gleich zwei lesenswerte Biografien zu
Karl Abraham erschienen sind, beide von erfahrenen Analytikerinnen
geschrieben. Bisher gab es nur eine unvollendete Biografie,
geschrieben von der Tochter Hilda. Beide Bücher verzichten mit
Recht nicht auf die Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse.
Beide setzen sich zum Ziel, dem durch »Gunst und Hass« verwirrten
Bild Abrahams an Hand neuester Dokumente und Interviews mit
(überwiegend denselben) Sachverständigen und Verwandten mehr
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Um das gleich vorwegzunehmen:
beiden Autorinnen gelingt das. War das Bild Abrahams bisher weniger
klar umrissen als das der anderen Freud-Schüler, zeichnen beide
Bücher nun ein schärfer konturiertes Porträt des Mannes, der von
den Historikern der Psychoanalyse etwas stiefmütterlich behandelt
wurde. Beide haben auch Vorstudien in der Zeitschrift Luzifer-Amor
veröffentlicht. Einig sind sie sich auch in ihrem kritischer als
bisher gezeichneten Bild von Max Eitingon, den Bentinck als
»Kuckucksjunges« im Berliner Nest bezeichnet. Leider sind die
Privatbriefe Abrahams verloren gegangen und ist die Quellenlage
ungünstiger als etwa bei Freud, von dem immer noch neue
Briefsammlungen erscheinen.
Sprach Freud vorzugsweise vom Vater, vertiefte sich Abraham in die
Rolle der Mutter, namentlich der »bösen« oder fehlenden Mutter.
Als er zwei Jahre alt war, hatte seine sonst warmherzige Mutter
eine Depression infolge einer Totgeburt und zweier Todesfälle in
der Familie. In seinem Elternhaus lebte eine geisteskranke Tante,
die in ihrem Zimmer im Obergeschoss manchmal alles kurz und klein
hieb. Das literarische Motiv der »madwoman in the attic« (1), wie
in Jane Eyre beschrieben, war für ihn also ein Stück
angsterregender Lebenswirklichkeit, das zu seinen frühesten
Erinnerungen gehörte. Seine Entdeckung der ätiologischen
Bedeutung der frühen Mutterbeziehung stellt eine wichtige
Ergänzung von Freuds Lehre dar.
Die umfangreiche niederländische Biografie von Anna Bentinck van
Schoonheten, mit der die Amsterdamer Psychoanalytikerin in Leiden
promoviert hat, ist eine richtige Lebensbeschreibung. Sie
behandelt, locker erzählend, Leben und Werk in chronologischer
Folge, nimmt sich dabei die Zeit, auf Details einzugehen und
Exkurse zu machen. Man spürt, etwa an der Form einiger
Kapitelüberschriften (Kap. 12: »Ein unglücklicher Autor,
Schaulust und andere Eigentümlichkeiten«), eine gewisse Lust am
Erzählen und vergisst leicht, dass es sich um eine Doktorarbeit
handelt. Gattungsprobleme der psychoanalytischen Biografie, wie
Zienert sie thematisiert, sind nicht ihre Sache, aber ihre
Deutungen überzeugen. Wo nötig räumt sie Missverständnisse aus
dem Weg und behält immer ihr eigenes Urteil über die verwickelten
Beziehungen im damaligen Kreis um Freud. Sie situiert Abrahams
Lebenslauf in der Zeit- und Sozialgeschichte und informiert uns
auch über den Verlauf des Ersten Weltkriegs und das Chaos der
Nachkriegszeit, über die Städte, in denen er wohnte (Bremen,
Freiburg, Zürich, Allenstein, Berlin) und über das Milieu, dem er
und seine Frau Hedwig Bürgner entstammten, der Welt der deutschen
jüdischen Intelligenz.
Obwohl nicht blind für gewisse problematische Aspekte seiner
Persönlichkeit, bedeutet Bentincks Darstellung doch eine
Rehabilitierung Abrahams, dessen Charakterbild in letzter Zeit
»überwiegend negativ« gezeichnet worden ist. So bescheinigten ihm
mehrere Forscher (u. a. Louis Breger, von Zienert nicht
berücksichtigt) einen Mangel an Empathie. Bentinck nuanciert
dieses Pauschalurteil dahingehend, dass Abraham manchmal kein
Gefühl für die Angst anderer, z. B. seiner Kinder, hatte und
vielleicht Perioden der Depersonalisation erlebte, in denen er
einen etwas rigiden oder zwanghaften, zu »preußischen« Eindruck
machen konnte – wenigstens auf die etwas bohèmehafteren Wiener
Freudianer. Die Studie über den Maler Segantini ist aber mit
großer Einfühlung geschrieben. Abrahams Auffassung der
Kriegsneurosen nennt Bentinck allerdings, in Übereinstimmung mit
Breger, einen »erschreckenden Tiefpunkt« (S. 227), weil er wenig
Verständnis für die Traumatisierung der Frontsoldaten hatte und
für ihre Beschwerden nur eine libidotheoretische Erklärung gelten
ließ, welche im Grunde die Patienten verurteilte, statt ihnen zu
helfen. Im Hochgebirge (am liebsten im Engadin) konnte er seine
philobatischen Neigungen ausleben. Er war stolz darauf, eine alpine
Erstbesteigung ausgeführt zu ha- ben. Für Freuds jugendliche
Conquistadoren-Fantasie muss er volles Verständnis gehabt
haben.
Eine englische Übersetzung des Buches ist vorgesehen (im Londoner
Karnac Verlag, 2015), eine deutsche Ausgabe wäre sicher
erwünscht. Es könnten dann zugleich einige Druck- und
Sprachfehler in den deutschen Zitaten korrigiert werden.
Die biografische Studie von Karin Zienert-Eilts – sie arbeitet im
Berliner Karl-Abraham-Institut – richtet sich auf Abraham als
Organisator und Kollegen in der Pionierzeit der Psychoanalyse, auf
den Mann, der die Analyse nach Deutschland brachte und sie in
Berlin etablierte, auf das Mitglied im Geheimen Komitee, auf den
Lehranalytiker, der auch zur internationalen Institutionalisierung
der Analyse und ihres Ausbildungssystems entscheidend beigetragen
hat. Sein theoretisches Werk will sie in einer anderen Publikation
ausführlicher behandeln. Auch sie korrigiert ungerechte Aussagen
und Fehlurteile, indem sie diese sine ira et studio systematisch
und mikroanalytisch kontextualisiert. Ihr Buch, mehr thematisch als
chronologisch komponiert, beruht auf genauer und umfassender
Quellenforschung und verfährt so gewissenhaft, dass es einige
Wiederholungen in Kauf nimmt. Es ist schade, dass die abgebildeten
Briefe zu klein sind, um sie lesen zu können, aber begrüßenswert,
dass im Anhang bisher unveröffentlichte Dokumente und Briefe
aufgenommen sind.
Als Abraham 1925 im Alter von 48 Jahren starb, trauerte die ganze
psychoanalytische Bewegung um den Verlust des Mannes, der sich so
große Verdienste um die Anerkennung und Verbreitung der neuen Lehre
erworben und zahlreiche Analysanden (Felix Boehm, Helene Deutsch,
Edward Glover, Karen Horney, Melanie Klein, Sándor Rádo, Theodor
Reik, Oskar Schmitz, James und Alix Strachey und viele andere)
damit vertraut gemacht hatte. In einer Reihe von Städten wurden
Gedenkfeiern veranstaltet, es erschien ein Gedenkheft der
Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse und Freud schrieb
einen Nachruf, in dem er seinen getreuen Schüler, seinen ›rocher
de bronce‹, mit einem feierlichen Horaz-Zitat als integer vitae
scelerisque purus lobte. Dieses Bild des loyalen und zuverlässigen
Jüngers, auf den der Meister sich immer verlassen konnte, erwies
sich später als äußerst korrekturbedürftig. Als der Briefwechsel
zwischen Freud und Abraham und andere Korrespondenzen publiziert
wurden – und es erscheinen immer noch neue Briefbände; der
Briefwechsel zwischen Abraham und Jones ist angekündigt –,
entstand ein anderes Bild Abrahams. Freuds Beziehung zu ihm war, so
zeigte sich, von einer starken Ambivalenz geprägt und durch
mindestens vier ernste Konflikte erheblich getrübt. Bei aller
Anhänglichkeit Abrahams gegenüber dem von ihm hochverehrten
Gründer der Psychoanalyse, dessen Theorie für ihn »mit Ihrer
Person identisch«(!) war (2), und aller Wertschätzung Freuds für
seinen intelligenten und energischen Schüler, wurde beider
Beziehung durch sich wiederholende spannungsgeladene
Dreieckskonstellationen und durch eine gewisse gruppendynamische
Naivität mehrmals vergiftet. Ungewollt erregte Abraham mehrfach
Freuds Ärger, unter anderem mit seiner immer enger werdenden
Beziehung zu Wilhelm Fließ.
Freud lernte Abraham in der Periode seiner intensiven Bindung an
Jung kennen. Der nüchterne Hanseat teilte die Begeisterung für
den charismatischen Schweizer, dessen Kollege er im Zürcher
Burghölzli gewesen war, nicht und sah den unvermeidlichen Bruch
Freuds mit Jung schon früh voraus. Vielleicht spielte die
Affäre-Spielrein dabei auch eine Rolle. Jung schwärzte Abraham
bei Freud rücksichtslos an, er sei »kein Gentleman«, eine
offenkundige Projektion. So wie früher bei Breuer und Fließ,
später bei Adler, Stekel, Rank und Ferenczi, trennte Freud sich
nach längerem Zögern radikal und enttäuscht von dem »brutalen
heiligen Jung«. (3) Dass Abraham ihn vorher gewarnt hatte, erregte
zunächst nur seinen Ärger; erst später zeigte er sich dankbar,
behielt aber seine Ambivalenz. Jung war von ihm als Nachfolger und
Erbe vorgesehen gewesen, aber Abraham wurde dies de facto. Immerhin
ersetzte ein Foto von Abraham schon 1914 das Porträt von Jung in
Freuds Arbeitszimmer und er besann sich von nun an mehr auf ihrer
beider Judentum.
In einer ähnlichen konfliktgeladenen Dreieckskonstellation im
Jahre 1924, als Rank mit seinem allzu monokausal und
simplifizierend argumentierenden Trauma der Geburt zum Dissidenten
wurde, hatte dieser neue ›Abfall‹ ähnliche Folgen für das
Verhältnis zwischen den beiden. Cremerius nannte Abraham daher zu
Recht »Freuds Sündenbock«. (4) Dass Abraham in dieser Krise von
einer Wiederholung des Falles Jung sprach, war wohl zutreffend,
aber ungeschickt. In seinem letzten Brief an Freud analysierte
Abraham ihr Beziehungsmuster: »Es wiederholte sich jedes Mal der
gleiche Vorgang: Sie gingen über alles Anfechtbare im Verhältnis
der Betreffenden mit Nachsicht hinweg, dagegen entlud sich auf mich
aller Tadel, den Sie später dann als unberechtigt erkannten.« Mehr
als bei den anderen Mitgliedern der Gruppe um Freud schwankt denn
auch Abrahams Bild in der Geschichte, je nachdem welche Quellen man
gelesen hat.
Es besteht bei Biografen die Neigung, Freuds Urteile über
Personen, die in Konfliktsituationen oft recht negativ ausfielen
und die Form pathologisierender Diagnosen (»neurotisch«,
»paranoid«, »positive Hysterika«) annahmen, ungeprüft zu
übernehmen, obwohl diese stark vom jeweiligen Adressaten und von
der jeweiligen Situation bedingt waren und leicht geändert werden
konnten. Freud – immer »auf der Suche nach Freunden, die mich nicht
ausbeuten und dann verraten« – warf Abraham einmal einen
»Verfolgungskomplex« vor. Sogar an ein und demselben Tag konnte
Freud jemanden loben und kritisieren. Sein Verhalten dabei erinnert
ein wenig an jenen Rabbi in dem bekannten jüdischen Witz, den auch
Salcia Landmann erzählt: Als zwei Leute bei ihm Klage
gegeneinander führten, gab er ihnen beiden recht. Als seine Frau
ihm darauf vorwarf, dass beide doch nicht recht haben könnten, gab
er zu: »Du hast auch recht«. Abraham dagegen bekundete immer sein
Vertrauen auf die Vernunft und erwartete von einer offenen
Aussprache die Lösung der Konflikte – leider manchmal vergebens.
Auch sein Optimismus wurde nicht immer geteilt.
So konnte Abraham einerseits als Freuds »rocher de bronce«
erscheinen – der Ausdruck stammt vom preußischen Soldatenkönig,
der Untertitel von Anna Bentincks Biografie spielt darauf an – ,
anderseits als »trockener Schleicher«, wie Jung ihn 1907 in einem
Brief an Freud charakterisierte, eine Gehässigkeit, die Freud,
noch ehe er Abraham persönlich kennengelernt hatte, »ohne weitere
Prüfung«(!) sofort akzeptierte. Kein Wunder, dass Anna Freud diese
Stelle unbedingt aus der Edition herauslassen wollte. Karin
Zienert-Eilts zeigt in ihrer um Gerechtigkeit und Objektivität
bemühten Studie, dass die Verwendung dieses Faust-Zitats mehr
über Jungs und Freuds damalige gegenseitige Faszination besagt als
über Abraham, dessen höfliche Zurückhaltung mit Jungs Neigung
zur Rücksichtslosigkeit im Umgang kontrastierte. Faust, gerade in
ein für ihn lebenswichtiges Gespräch mit dem von ihm
heraufbeschworenen Erdgeist verwickelt, erfährt das Eintreten
seines Famulus Wagner als unliebsame Störung, daher sein
verächtlicher irritierter Ausruf »trockener Schleicher«. Das Genie
im Dialog mit dem numinosen Erdgeist, den es »mächtig angezogen«
hat – fürwahr ein verräterischer Hinweis auf die narzisstische
Grandiosität, die diese beiden Männer eine Zeit lang in einander
anfachten. So verglich Freud sich auch einmal, auf dem Höhepunkt
seiner Schwärmerei, mit Moses und Jung mit Joshua. (5) Es war ein
Liebesbund, in dem für einen Dritten kein Platz war. Der
Störenfried sollte sich aber als zuverlässiger erweisen als der
faszinierende Freund.
Die Geschichte der Psychoanalyse ist vor allem eine Geschichte von
Konflikten. Manche waren wohl unvermeidlich, andere durchaus
vermeidbar, wenn man gewisse Fehler vermieden hätte. Das machen
beide Autorinnen sehr deutlich. Abraham war, obwohl nicht
streitsüchtig, oft in Kontroversen verstrickt und sah sich
gezwungen, sich gegen ungerechte Anschuldigungen zu verteidigen.
Und anger management war nicht gerade Freuds Stärke. Die Frage,
die sich bei der Lektüre beider Biografien aufdrängt, »warum es
so schwierig ist, in psychoanalytischen Institut(ion)en gedeihlich
zusammenzuarbeiten«, wurde neulich von Andreas P. Herrmann
beantwortet. (6) Von den fünf Gründen, die er aufzählt, lautet
einer, dass Analytiker glauben, »Experten für Menschen« zu sein
und daher meinen, auf organisationsspezifische Kenntnisse
verzichten zu können, ein anderer, dass sie ein ungeklärtes
Verhältnis zu Fragen der Macht und der Führung haben. Genau diese
blinden Flecken im Hinblick auf gruppendynamische Prozesse werden
besonders von Karin Zienert als Ursachen für die »dicke Luft«, die
so oft in den Räumen der Psychoanalyse herrscht, herausgearbeitet.
Ihre Darstellung ist (neben etwa Jeffrey Massons Final Analysis)
eine Fundgrube für Illustrationen der Thesen von Herrmann. Mir
scheint, dass für die betreffende Periode noch drei weitere
Gründe zu nennen sind, die der Entstehung häufiger Zwistigkeiten
Vorschub leisteten: das verhängnisvolle Selbstmissverständnis als
›Bewegung‹ – für Bleuler, dem das Freund-Feind-Denken nicht lag,
ein Grund für Distanz –, das paranoide Komplottphantasien und
Rivalitäten begünstigende Geheime Komitee der Gralshüter, das
schon bald von Polarisierungen heimgesucht wurde, und last but not
least der Umstand, dass sozusagen alle bei einander in Analyse
waren, wodurch (manchmal, aber ebenso oft auch nicht geheim
gehaltene) persönliche therapeutische Interessen sachliche
Vereinsinteressen durchkreuzten, wie etwa in der Berliner
Affäre-Liebermann. (Dieser sollte wegen schludriger
Geschäftsführung als Vorstandsmitglied zurücktreten, was Sachs
und Eitingon zu verhindern wussten, weil er und seine Frau bei
ihnen in Analyse waren.) Freud war in diesem Falle, wenn auch nicht
ohne Schwanken, mit Abraham einig und zitierte fortiter in modo,
wie auch schon in Zeitgemäßes über Krieg und Tod, den Wahlspruch
der Hanse »Navigare necesse est. Vivere (auch vivum servare) non
necesse«. Diskretion wurde nicht streng geübt. Vergessen wir auch
nicht, dass Trennungsängste noch nicht als solche erkannt wurden,
dass man noch nicht gelernt hatte, Gegenübertragungen wahrzunehmen
und zu benutzen und dass weder Freud noch Abraham sich einer
Analyse unterzogen haben.
In seinen theoretischen Schriften teilte Abraham Freuds
Überzeugungen von der Priorität des Ödipuskomplexes und der
infantilen Sexualität, sogar noch in seiner Auffassung von den
Kriegsneurosen, vertrat sonst aber durchaus eigene Ansichten, etwa
über den Zusammenhang zwischen Depression und Aggression und über
die Rolle der »schlechten Mutter« (in seiner unterschätzten
kunstpsychologischen Arbeit über den Maler Giovanni Segantini, auf
die Freud interessanterweise überhaupt nicht reagiert hat),
Ansätze, die später von seiner Schülerin Melanie Klein weiter
ausgeführt wurden. Er war im Gegensatz zu Freud ein Gegner der
Laienanalyse und pflegte als Arzt mehr als Freud scharf zwischen
normal und abnormal zu unterscheiden. Balint pries Abrahams
Sachlichkeit, seine no nonsense-Haltung, in der er sich von den
übrigen Mitgliedern des Komitees unterschied, und nannte ihn
»absolutely reliable, a firm, fair man«, Eitingon verglich ihn mit
Aristides, dem irritierenden Allzu-Gerechten. Glover schilderte
seine Analyse als »mustergültig«, Alix Strachey fand ihn als
Analytiker sogar besser als Freud. Jones betrachtete ihn als seinen
besten Freund und bewunderte seine »vollendete Selbstbeherrschung«,
während andere, so Jung, Anna Freud, Eitingon und Rank ihn
eigentlich nicht mochten. Falzeder und Hermanns sprechen von ihm
als einem »originellen Theoretiker«, Jung beschrieb ihn als
»intelligent, aber nicht originell«. Seine Ehefrau und seine
Tochter erzählen vom fürsorglichen Familienvater und seinem
harmonischen Eheleben – ohne die Seitensprünge, wie sie etwa von
Jones und Sachs berichtet werden. Und alle rühmen seine
außerordentliche Sprachbegabung. Seine Aufgeschlossenheit findet
ihren Ausdruck in seinem Lebensmotto »Lasst uns schnell noch um die
nächste Ecke schauen« – vielleicht eine Kompensation dafür, dass
er auf einem Auge blind war?
Trockener Schleicher oder Rocher de bronce? Denunziant oder integer
vitae? Sündenbock oder bester Freund? Abraham war sicherlich »kein
ausgeklügelt Buch« und wurde denn auch, ebenso wie Freud
übrigens, sehr kontrovers bewertet. Seine kühle Zurückhaltung im
persönlichen Umgang verhinderte wohl das spontane Aufkommen von
Sympathie. Seine Fairness und seine Fähigkeit, zwischen Amt und
Person zu unterscheiden, wurden allgemein geschätzt. Beide
Biografien bemühen sich, schon weil sie viele Unwahrheiten und
ungerechte Beurteilungen korrigieren, letzten Endes um die
biografische Wahrheit, obwohl diese Wahrheit, nach einem viel
zitierten Diktum Freuds, letztlich »nicht zu haben« ist. Gewiss,
individuum est ineffabile – das bedeutet aber nicht, dass unser
Bild einer Persönlichkeit nicht von ungerechten Makeln befreit
werden kann. Also am Ende hatte Freud doch recht: Abraham war
integer vitae.
Walter Schönau
1 Sandra Gilbert/Susan Gubar: The Madwoman in the Attic. The Woman
Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New
Haven/London 1979.
2 Brief an Freud vom 28.2.1924.
3 Brief an Abraham vom 26.7.1914.
4 Johannes Cremerius: »Karl Abraham, Freuds Sündenbock und
›Führer zur Wahrheits-Forschung‹«, in: Luzifer-Amor 10 (1997), H.
20, S. 61-80.
5 Brief an Jung vom 17.1.1909.
6 Andreas P. Herrmann: »Warum es so schwierig ist, in
psychoanalytischen Institut(ion)en gedeihlich zusammenzuarbeiten«,
in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 68
(2014), H. 2, S. 97-121.
Literatur
Abraham, Hilda: Karl Abraham. Sein Leben für die Psychoanalyse,
München 1976. Breger, Louis: Freud. Darkness in the Midst of
Vision, New York 2000.
Cremerius, Johannes: »Karl Abraham, Freuds Sündenbock und ›Führer
zur Wahrheits-Forschung‹«, in: Luzifer-Amor 10 (1997), H. 20, S.
61-80.
Freud, Sigmund/Abraham, Karl: Briefwechsel 1907-1925, vollständige
Ausg., hg. von E. Falzeder und L. M. Hermanns, 2 Bde., Wien
2009.
Gilbert, Sandra M./Gubar, Susan D.: The Madwoman in the Attic. The
Woman
Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New
Haven/London 1979.
Herrmann, Andreas P.: »Warum es so schwierig ist, in
psychoanalytischen Institut(ion)en gedeihlich zusammenzuarbeiten«,
in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 68
(2014), H. 2, S. 97-121.
Landmann, Salcia: Jüdische Witze, München 1963. Masson, Jeffrey
M.: Final Analysis. The Making and Unmaking of a Psychoanalyst,
Boston 1990.
Nitzschke, Bernd: »›Ich bin sehr erfreut, mich zu überzeugen, daß
meine Paladine [...] immer fundamentale Dinge anpacken.‹ Ein
Buchessay zum Briefwechsel Sig- mund Freuds mit Karl Abraham«, in:
psychosozial 34 (Nr. 123, 1), 2011, S. 119- 125.