Rezension zu Lektüren eines Psychoanalytikers
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, 2015
Rezension von Edda Uhlmann
Tilmann Moser: Lektüren eines Psychoanalytikers. Romane als
Krankengeschichten, Gießen: Psychosozial-Verlag 2013 (= Imago). –
133 S., 14,90 €.
Die hier vorgelegten »Lektüren« enthalten tiefenpsychologische
Interpretationen zu Werken von sechs verschiedenen Autoren,
darunter vier Romane, eine Erzählung und ein Theaterstück. In der
Einleitung stellt Moser sein Vorgehen und seine Absichten vor.
Dabei fällt ein proklamatorischer Sprachduktus auf: Hier ist ein
Wissender, der den Lesern viel verspricht, wenn sie sich ihm
überlassen. Deutlich wird, Moser ist keiner, der Fragen stellt,
auch nicht an sein eigenes methodisches Vorgehen.
Moser meint, um moderne Literatur psychoanalytisch interpretieren
zu können, sei es gut, Kenntnisse darüber zu haben, was
diagnostisch mit dem Begriff der ›frühen Störungen‹ umrissen wird.
Das ist als Voraussetzung für eine Interpretation sicher nicht
falsch, irritierend wirkt dabei allerdings, dass sich Moser mit
dieser Auffassung allein auf weiter psychoanalytischer Flur wähnt.
Die Beschäftigung mit Erscheinungsformen des Psychischen, die vor
dem Erreichen dessen liegen, was man psychoanalytisch als ödipales
Niveau bezeichnet, gehört jedoch zum Alltag von gut ausgebildeten
und an theoretischen Weiterentwicklungen interessierten
Psychoanalytikern. Auch über die Anwendung neuerer
psychoanalytischer Erkenntnisse und deren Bedeutung für
literaturwissenschaftliche Betrachtungen konnten sich Interessierte
immer wieder kundig machen. Zuletzt widmete die Zeitschrift Psyche
im Juni 2013 ein ganzes Heft diesem Thema. (1)
In einigen Kapiteln des Buches habe ich die
»psychoanalytisch-diagnostischen Mutmaßungen« Mosers mit Interesse
gelesen und überzeugend gefunden. Die psychoanalytischen Porträts,
die er beispielsweise aus den Romanen von Genazino und Jelinek
entwirft, sind kenntnisreich und genau. Das Problematische zeigt
sich aber im Ausmaß des Zitierens aus den jeweiligen literarischen
Werken. Teilweise handelt es sich um längere Passagen, die sich im
Druckbild deutlich abheben, teilweise sind die zitierten Sätze und
Satzstücke so in den interpretierend-nacherzählenden Text Mosers
integriert, dass sie beim Lesen nur schwer von diesem zu
unterscheiden sind. Jedem kleinen diagnostisch-interpretierenden
Schritt lässt Moser Zitate folgen, die sofort belegen sollen, wie
er das literarische Werk verstanden wissen will. Dieses ausufernde
Zitieren erzeugt beim Lesen eine ganz bestimmte
Gegenübertragungsreaktion. Es ist als würde mir der eigene
Denkraum, in dem ich die Sätze wirken lassen könnte, verschlossen.
Moser zwingt den Leser/die Leserin, Wort für Wort zu folgen, so wie
er es vorgibt. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen
interpretierendem und interpretiertem Text. Und als Ergebnis davon
wird der literarische Text zu einem vom Autor Moser vereinnahmten
Text.
Sein Herangehen an die Romanfiguren, die sich ihm erschließen, »als
wären sie Patienten«, beschreibt Moser so: »Dieser zweifellos
übergriffige Versuch einer Deutung wird legitimiert, da der Autor«
– Moser meint sich hier selbst – »in intuitiver Verbindung mit
seiner eigenen Seelenbiografie, den mitfühlenden Gang in die Tiefe
menschlicher Erlebensformen wagt« (S. 10). Noch ehe er genau
deutlich gemacht hat, warum sein Vorgehen übergriffig ist,
legitimiert Moser es schon mit großem Pathos, und zwar durch die
eigene Befindlichkeit. Aber bei einem Übergriff geht immer etwas
verloren, einer Seite wird die Berechtigung abgesprochen zugunsten
der anderen. In diesem Kontext kann es nur um die Berechtigung des
literarischen Textes gehen, um dessen Eigensein, das nicht in einer
tiefenpsychologisch-klinischen Herangehensweise aufgehen kann.
Trotz vieler subtiler Beobachtungen und erhellender
Interpretationen, die sich in diesen Aufsätzen Mosers finden
lassen, bleibt die Vereinahmung des literarischen Textes durch den
Kliniker ein gewichtiger Kritikpunkt.
In dem Aufsatz über Genazino bezieht sich Moser lobend auf die
Arbeit der Psychoanalytikerin Christa Hoffmann mit dem Titel: »Eine
Romanfigur Wilhelm Genazinos als unsichtbarer Begleiter einer
psychoanalytischen Behandlung«. (2) Ein fundamentaler Unterschied
zu Moser in der Verwendung des literarischen Werkes im klinischen
Kontext wird gerade durch diese Arbeit deutlich. Für Hoffmann wurde
der Roman Genazinos zeitweise »zu einem notwendigen Bindeglied« zur
inneren Welt des Patienten (S. 445). Annegret Mahler-Bungers
spricht bezogen auf denselben Aufsatz vom Roman, der »zu einem
Dritten in der Dyade der Behandlungssituation« wurde. (3) Bei dem
so verstandenen und in die Behandlung einbezogenen Roman entsteht
ein triangulärer Möglichkeitsraum für Verstehens- und
Entwicklungsprozesse, bei der keine Seite festgeschrieben oder
vereinnahmt wird, weder wird der Patient mit der Romanfigur
gleichgesetzt noch wird die Romanfigur zum Patienten.
Verstehensprozesse möchte auch Moser mit seinem Buch ermöglichen,
und ich will nicht leugnen, dass ihm das zeitweilig auch gelingt,
aber der literarische Text droht seine Eigenheit zu verlieren, wenn
er nur zum Material für klinische Porträts wird. Da nützt es dann
auch wenig, wenn Moser beispielsweise seinen Text über die beiden
Romane Genazinos mit dem aufmunternden Hinweis abschließt, dass
seine Interpretation auf keinen Fall das Lesevergnügen der Romane
mindern werde.
Wollte man Mosers Aussagen zu Jelineks Roman Die Klavierspielerin
textanalytisch deuten, fällt auf, dass es ihm auch darum geht, sich
mit Annegret Mahler-Bungers zu messen, deren psychoanalytische
Interpretation zum gleichen Roman 1988 veröffentlicht wurde. (4) Er
möchte zeigen, dass Mahler-Bungers »Versuch viel zu kurz greift«
(S. 86), und er nennt »die Diagnostik einseitig orthodox und einige
psychische Etagen zu hoch angesiedelt« (S. 93f.). Hinsichtlich
einer tiefenpsychologischen Interpretation von Jelineks Roman, und
dies ist doch Mosers Anliegen, ist ein solcher Wettstreit für die
Leser wenig erhellend. Zudem hält ein literarisches Werk
unterschiedlichen psychoanalytischen Interpretationen unbeschadet
stand. In diesem Sinne gibt es kein ›Richtig‹ oder ›Falsch‹.
Mahler-Bungers hat auf die Intention, die dem Text innewohnt,
hingewiesen und aus diesem Grund – im Gegensatz zu Mosers
Zitierfreudigkeit – einzelne Szenen nicht per Zitat vorstellen
wollen, um »diesem Text nicht seinen letzten Triumph zu lassen, uns
alle zu Voyeuren einer sadomasochistischen Sexualität zu machen«
(Mahler-Bungers, S. 90). Gerade dadurch behält bei Mahler-Bungers
der literarische Text sein eigenes Gewicht, geht nicht auf in
klinisch-psychoanalytischer Diagnostik, die immer auch eine
Festschreibung ist. Die Zerstörung des Bildes vom Menschlichen als
implizite Wirkungsstrategie des Textes auszumachen (so
Mahler-Bungers, S. 90) hat genauso eine Berechtigung und kann sehr
gut für sich stehen bleiben wie andererseits Mosers Ergebnis der
Jelinek-Lektüre, nämlich ein Scheitern der Liebe darin aufzufinden.
Moser hält zwar für lobenswert, dass Mahler-Bungers »das eigene
Erleben in die Deutung einbezieht« (S. 94), aber sein Fazit legt
nahe, dass sein eigenes Erleben bei der Lektüre des Romans, das
richtige und einzig wahre Erleben ist. Und wenn er Die
Klavierspielerin abschließend zu »Jelineks Demonstrationsroman«
macht, dann sehe ich auch darin wieder die Vereinnahmung des
literarischen Werkes durch den Kliniker.
Alfred Lorenzer sprach von »falschen Gleichsetzungen«, wie etwa
der, »einen literarischen Text umstandslos für die Mitteilung eines
›Patienten‹ zu nehmen, ohne die Frage nach der
überindividuell-sozialen Funktion der Literatur auch nur zu
streifen« (5). Dieses Manko zeigt sich in unterschiedlicher Weise
sowohl im ersten wie auch im letzten Kapitel von Mosers Buch. Im
ersten beschäftigt er sich mit Fred Uhlmanns autobiografischer
Erzählung »Der wiedergefundene Freund«, im letzten mit zwei Romanen
von Charlotte Roche. Bei Fred Uhlmann handelt es sich um die
Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Jungendlichen in der
Nazizeit. Ein jüdischer Arztsohn – aus seiner Sicht ist die
Erzählung geschrieben – und ein Sohn aus aristokratischem Haus mit
glanzvollem Namen, dessen Vater im diplomatischen Dienst ist,
treffen aufeinander. Es kommt zu einer innig-schwärmerischen
Beziehung, die ein knappes Jahr dauert und auf traumatische Weise
zerbricht. Der jüdische Protagonist wird zu seiner Rettung von den
Eltern in die USA geschickt, der aristokratische Jungendliche
schreibt ihm in seinem Abschiedsbrief, dass er an den Führer und
eine neue Weltordnung glaube. Die jüdischen Eltern bleiben in
Deutschland und begehen unter dem Druck der Nazis Selbstmord. Der
jüdische Protagonist, der in Amerika blieb, kann diesen
aristokratischen Deutschen 30 Jahre später in seiner Erinnerung als
Freund wieder finden. Denn er erfährt, dass dieser hingerichtet
wurde, weil er zur Gruppe der Widerständler gehörte, die ein
Attentat auf Hitler geplant hatten.
Warum Moser diese Erzählung in seine Sammlung Romane als
Krankengeschichten aufnimmt, erschließt sich nicht. Er schreibt
»von einer Verzahnung der individuellen und der politischen
Störungen oder Pathologien« (S. 15). Das finde ich im Zusammenhang
mit dieser jüdisch-deutschen Geschichte bedenklich. Wenn der
Begriff der ›Störung‹ schon im individuell-klinischen Bereich zwar
inzwischen üblich, aber dem analytisch-konflikthaften Denken nicht
wirklich angemessen ist, so ist die Gleichsetzung von
›individueller und politischer Störung‹ eine gefährliche
Gleichmacherei und Verharmlosung. Aus den seelischen
Befindlichkeiten der beiden Jugendlichen lassen sich auch mit
einiger Mühe keine Krankengeschichten machen. Moser liefert eine
interpretierende Nacherzählung der Geschichte, die hinsichtlich der
jugendlich-schwärmerischen Liebe recht einfühlsam ist. Für die
Dimension dessen, was in dem jüdischen Ich-Erzähler im Rückblick
auf die Nazizeit und den Verlust der Eltern, die sich in
Deutschland umbrachten, vor sich gegangen sein mag, erweist sich
sein Einfühlungsvermögen hingegen als erheblich begrenzt.
Im letzten Kapitel gibt Moser den Protagonistinnen von Charlotte
Roches Romanen »Feuchtgebiete« und »Schoßgebete« die Diagnose
›schwere Borderline-Störung‹. Moser weist seine klinische Diagnose
schlüssig nach. Allerdings, in diesem Beitrag fällt sein
überbordendes Zitieren ganz besonders auf. Es dient nicht der
Zuspitzung seiner Argumente. In dem Bemühen sich zurechtzufinden
wird der Autor Moser nahezu Teil des Roche-Textes und überschwemmt
mich als Leserin mit Zitaten. Gerade bei Texten wie denen von
Charlotte Roche ist es notwendig, die überindividuell-soziale
Funktion von Literatur, die Lorenzer hervorhob, mit ins Auge zu
fassen. Moser handelt das in einem Satz ab, einer
»makrosoziologischen Bemerkung über Aufmerksamkeit«, die er mit
einer »mikropsychologischen Untersuchung« (S. 125) verknüpfen will.
Damit ist noch nicht einmal im Ansatz etwas ausgesagt über die
Verknüpfung von individueller Veröffentlichungssucht, geweckt und
geschürt durch Medien und manipulative Marktmechanismen, an denen
Autorin, Käufer und Leser teilhaben beziehungsweise denen sie
unterworfen sind. Eine individuelle klinische Diagnose greift auf
jeden Fall viel zu kurz.
Mosers »Lektüren« hinterlassen zwiespältige Eindrücke. Einige
psychoanalytische Porträts sind überzeugend gelungen. Dass er sich
allerdings der methodischen Problematik, Romanhelden zu Patienten
zu machen, im Vorwort kurzerhand zu entledigen sucht, hat, wie ich
aufgezeigt habe, seinen Preis.
Edda Uhlmann
1 Psyche – Z Psychoanal 67 (2013), H. 6: »Vom Umgang der
Psychoanalyse mit der Literatur«.
2 Siehe Psyche – Z Psychoanal 63 (2009), S. 429-454.
3 Annegret Mahler-Bungers: »Versuch über die Kunst einer
psychoanalytischen Aisthesis und einige Konsequenzen für die
psychoanalytische Literaturinterpretation«, in: Psyche – Z
Psychoanal 67 (2013), S. 501-525, hier S. 520, Anm. 13.
4 Annegret Mahler-Bungers: »Der Trauer auf der Spur. Zu Elfriede
Jelineks Die Klavierspielerin«, in: Freiburger
literaturpsychologische Gespräche 7 (1988), Themaband: »Masochismus
in der Literatur«, S. 80-95.