Rezension zu Obskure Differenzen
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, 2015
Rezension von Rolf Löchel
Marlen Bidwell-Steiner/Anna Babka (Hg.): Obskure Differenzen.
Psychoanalyse und Gender Studies
Der Inhalt, der einen Begriff, zumal einen theoretischen, füllt,
hängt nicht zuletzt vom Kontext ab, in dem er benutzt wird. So
wird in der Philosophie unter dem Terminus Analyse etwas anderes
verstanden als etwa in der Psychoanalyse. Doch auch innerhalb einer
Disziplin bestimmt der jeweilige Zusammenhang die Bedeutung eines
Terminus’. So in der Philosophie etwa das philosophische System, in
dessen Kontext er benutzt wird. Näherte man sich beispielsweise
dem Abschnitt zur transzendentalen Dialektik in Kants Kritik der
reinen Vernunft mit dem von Marx entwickelten Begriff von
Dialektik, so wäre dies einer verständigen Lektüre denkbar
abträglich.
Der Bedeutungswandel von Begriffen durchzieht die Geschichte der
Philosophie und anderer Kultur- und Geisteswissenschaften wie ein
roter Faden. So haben Marlen Bidwell-Steiner und Anna Babka denn
jüngst auch aus guten Gründen konstatiert, dass »›Paradigmen‹ und
Schlüsselbegriffe [...] nicht ein für alle Mal fixiert, sondern
dynamisch und austauschbar« sind (S. 239). Diesem Phänomen der
Begriffe in Bewegung (S. 239-267) haben sie am Beispiel der Termini
»Gender, Lesbian Phallus und Fantasy Echoes« (ebd.) einen Aufsatz
mit eben diesem Titel gewidmet. Mit ihm beschließen Bidwell-Steiner
und Babka den von ihnen herausgegebenen Sammelband Obskure
Differenzen, dessen Beiträge sich diversen Aspekten der
»vielfältige[n] Berührungspunkte zwischen Psychoanalyse und
Gender Studies« (S. 8) widmen. Die für das Vorhaben gewonnenen
AutorInnen des Bandes zeichnen nicht nur »Wege einer
zeitgenössischen Rezeption und Diskursivierung der Psychoanalyse«
nach, »wie sie besonders innerhalb der feministischen Forschung und
Genderforschung stattfindet« (ebd.), sondern stellen sich der
»unabschließbare[n] Aufgabe der Genderforschung, gegen eine
metaphysische Reifizierung der Geschlechterdifferenz
an[zu]schreiben« (S. 12). Zu Recht weisen Bidwell-Steiner und Babka
darauf hin, dass sich etliche Beitragende »Expertinnen in Theorie
und Praxis – der Psychoanalyse und der Gender Studies – nennen
können« (ebd.).
Unter ihnen etwa Juliet Mitchell, die den Band mit einem Text über
Psychoanalyse, Geschwister und die soziale Gruppe (S. 13-37)
eröffnet. Die wohl namhafteste der AutorInnen bietet sogleich eine
der innovativsten und interessantesten Thesen des Buches, indem sie
hervorhebt, welche herausragende Bedeutung die bislang in der
psychoanalytischen Theorie gegenüber der generationellen »vertikal
instituierten Reproduktion« sträflich vernachlässigte
geschwisterliche »horizontale[.] Achse« (S. 29) für die psychische
Entwicklung des Kindes hat. Zwar räumt die Autorin durchaus ein,
dass Geschwister »im Beobachtungsmaterial der Psychoanalyse
omnipräsent« sind, doch moniert sie deren Absenz in der von ihr
als »metapsychologische[r] Überbau« (S. 16) apostrophierten
psychoanalytischen Theorie. Um diese Lücke zu schließen,
unterbreitet Mitchell den »Vorschlag, Geschwister als autonomen
Aspekt innerhalb der Theorie zu betrachten« (S. 20). Zumal auch
»das Nichteintreffen eines Geschwisterkindes beim Einzelkind oder
beim letzten Kind« nur »eine ›akzidentielle‹ Variation eines
allgemeingültigen Themas« sei. Diese etwas steil anmutende These
vermag die Autorin mit dem Hinweis zu plausibilisieren, dass das
Ausbleiben eines bestimmten, »allgemein« erwartbaren Ereignisses
»ebenso signifikant« ist wie sein Eintreten. In diesem Zusammenhang
führt Mitchell einen psychoanalytischen Neologismus ein, der zu
einiger Prominenz gelangen könnte. Sie bezeichnet »[d]ie Ankunft
(oder die erwartete, aber nicht eingetroffene Ankunft) einer
solchen Schwester oder eines solchen Bruders« als
»Geschwistertrauma« (alle Zitate S. 23). Dieses Geschwistertrauma
ist Mitchell zufolge nun keineswegs kontingent, sondern vielmehr
»etwas, das wir alle erfahren« und zwar »absolut notwendig« (S.
20). Denn das Ereignis markiere den »plötzlich[en]« Schritt von
der »vorsoziale[n] Kleinkindphase« in die »soziale Kindheit«
(ebd.). Für das ältere Kind ist Mitchell zufolge das Geschlecht
seines neuen Geschwisterchens von entscheidender Bedeutung, das
eben »nicht einfach ein Baby«, sondern ein Mädchen oder ein Junge
sei. Mitchells zentrale These besagt nun, dass das Kleinkind erst
durch die Geschlechtlichkeit des neuen Babys »zu seinem eigenen
geschlechtlichen Selbst Zu- gang bekommt« (S. 29).
Den »offensichtlichste[n] und ständig angeführte[n] Einwurf gegen
einen generischen Platz für die Geschwistererfahrung«, dass es
doch schließlich Einzelkinder gebe, versucht die Autorin mit dem
nicht restlos überzeugenden Hinweis zu entkräften, gerade diese
besäßen »aus Sicht der Psychoanalyse höchstwahrscheinlich mehr,
nicht weniger Schwestern und Brüder als das Kind mit Geschwistern«
(S. 21).
Wolfgang Müller-Funk, der einzige Mann unter den Beitragenden,
wendet sich nicht neugeborenen Säuglingen, sondern sterbenden
beziehungsweise toten Geschlechtsgenossen zu. Unter dem Titel So
viele tote Männer (S. 209-224) beleuchtet er »die Konstruktion des
Männlichen am Beispiel von Freuds Text Der Mann Moses und die
monotheistische Religion« (S. 209), während Susanne Lummerding der
»politischen Relevanz der psychoanalytischen Theorie« (S. 173)
nachgeht und sich dem QueEren von Phantasmen (S. 151-173) widmet,
wie der etwas kryptische Titel ihres Textes lautet.
Alenka Zupančič wiederum unternimmt es in ihrem Beitrag Sexuelle
Differenz und Ontologie (S. 131-149), »das psychoanalytische
Konzept der sexuellen Differenz im Kontext der Ontologie zu
untersuchen« (S. 134), und moniert, die »einfache, unermüdliche
Beteuerung, Gender sei ein ganz und gar gesellschaftliches bzw.
kulturelles Konstrukt«, führe »zu verschiedenen Denkblockaden,
darunter diejenige, dass sie der Dichotomie Natur/Kultur verhaftet
bleibt« (S. 135).
Nicht den Dualismus Kultur/Natur, sondern den vermeintlichen der
Geschlechter bezweifelt Ilka Quindeau, wenn sie sich in ihrem
Beitrag auf das Gebiet Jenseits der Geschlechterdichotomie (S.
175-192) wagt und eine »alteritätstheoretische Konzeptualisierung
von Männlichkeit und Weiblichkeit« vorlegt, um »ein theoretisches
Modell geschlechtsübergreifender menschlicher Sexualität zu
entwickeln, das die Polarität von Männlichkeit und Weiblichkeit
überwindet und die Geschlechterspannung in jeder einzelnen Person
ansiedelt« (S. 176). Quindeaus »zentrale These« besagt, dass das
»sexuelle Erleben und Verhalten« der Menschen »die gängige
Geschlechterdichotomie unterläuft« (S. 178).
Alice Pechriggl wiederum geißelt in ihrem Aufsatz Homophobie und
die Dialektik der Selbstaufklärung in der Psychoanalyse (S. 83-99)
sehr zu Recht »die Homophobie in der Psychoanalyse von der
Nachkriegszeit bis heute« (S. 84). Dabei findet sie überaus
deutliche Worte, wenn sie »die homophoben Praktiken der
Psychoanalyse« etwa als »reaktionär und geradezu widerrechtlich
agierend« (S. 89) brandmarkt. Doch belässt sie es nicht allein bei
einer solch harschen Kritik, sondern wirft die Frage auf, wie es
sein kann, dass RepräsentantInnen der Psychoanalyse, [...] auf
seit Jahren nicht mehr zulässige Pathologisierungen rekurrieren
können, ohne sich selbst die öffentliche Frage gefallen lassen zu
müssen, ob nicht vielmehr die in ihren Diskursen sich
manifestierende Homophobie pathologische Züge aufweise? (S.
88)
Bei »Judith Butlers Bezugnahme auf Freud« handelt es sich Eva
Laquièze-Waniek zufolge um eine der »interessantesten
Auseinandersetzungen der Gender Studies mit der Psychoanalyse in
den letzten zwei Jahrzehnten« (S. 59). Ihr eigener Beitrag wiederum
zählt zu den interessantesten des vorliegenden Bandes und widmet
sich unter dem Titel Von der melancholischen Identifikation zur
Aneignung des Geschlechts (S. 59-82) eben Butlers Freud-Lektüre,
zu der sie einige ebenso kritische wie erhellende Anmerkungen
macht. So moniert sie etwa, dass Butler die »beiden
kontradiktorischen Seiten der Verinnerlichung des Inzesttabus« –
nämlich auf das »inzestuöse Genießen« zugleich verzichten und an
ihm festhalten zu müssen – »mit dem Begehren des Kindes nach der
gleichgeschlechtlichen Bezugsperson und dem gesellschaftlichen
Verbot desselben vertauscht« und darum »verabsäumt«, in der
Verinnerlichung des Inzesttabus »den konstitutionellen Grund für
das eigene Begehren sowie für das Scheitern einer restlosen
Identifizierung des Subjekts zu erkennen« (S. 72). Auch setze
Freuds Inzesttabu entgegen Butlers Annahme kein
Homosexualitätsverbot voraus (vgl. S. 76). Vor allem aber
missverstehe die amerikanische Gendertheoretikerin die »von Freud
eingeführte doppelte und sich konstitutiv ergänzende Figur von
manifester und latenter Homo- und Heterosexualität, die die
sexuelle Ausrichtung des Subjekts in seiner Gesamtheit
kennzeichnet« als »Spaltung« und »Trennung« (S. 77).
Abschließend lässt sich festhalten, dass nicht wenige der in dem
Band versammelten zwölf Aufsätze sowohl der Psychoanalyse als
auch den Gender Studies neue Erkenntnisse und Anregungen bieten.
Besonders hervorgehoben seien noch einmal die Beiträge von Juliet
Mitchell, Eva Laquièze-Waniek und Alice Pechriggl sowie der
gemeinsam von den Herausgeberinnen verfasste Text am Ende des
Buches.
Rolf Löchel