Rezension zu Brennende Zeiten
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 34, 2015
Rezension von Carl Pietzcker
Thomas Auchter: Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und
politischer Konflikte
Thomas Auchter, praktizierender Analytiker in Aachen und
Köln-Düsseldorf, legt hier eine nach Themen geordnete
Zusammenstellung von Aufsätzen – zumeist überarbeitete Akademie-
und Radiovorträge aus den Jahren 1972 bis 2007 – vor, in denen er
sich aus psychoanalytischer Perspektive kritisch mit in der Regel
aktuellen gesellschaftlichen Zuständen, Ereignissen und
Diskussionen auseinandersetzt – im guten Sinne eine
Volksaufklärung, die psychoanalytische Haltung, psychoanalytisches
Denken und Wissen unter Nicht-Analytiker trägt.
Nach einer Skizze seines Lebenswegs und für ihn wesentlicher
Erfahrungen stellt Auchter seine Vorbilder Freud und Winnicott –
ohne sie zu idealisieren – als durchaus auch politische und in
gesellschaftlichen Zusammenhängen denkende Psychoanalytiker vor.
Von ihren Grundlagen her stehe die Psychoanalyse ja quer zu allen
Formen von Herrschaft, Selbstanalyse sei dort zugleich
Gesellschaftsanalyse; das ›wahre Selbst‹ dürfe sich, nach
Winnicott, niemals fügen. Die folgenden Aufsätze profilieren das
Menschenbild der Psychoanalyse gegen das des idealisierten
naturwissenschaftlich-empirischen Paradigmas einer auf Messbarkeit
zielenden Medizin; ihm gegenüber gälte es, dem Patienten einen
Möglichkeitsraum anzubieten, wo er sich selbst verändern könne.
Bereits diese ersten Passagen lassen Auchters Verfahren erkennen:
Er tritt bescheiden zurück, lässt Andere sprechen, reiht in
seinem Bericht Zitate, die er kommentierend begleitet. Wenn er sich
nun dem deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit zuwendet, schickt
er einen Überblick über psychoanalytische Theorien des Erinnerns
und dessen Voraussetzungen voran – ein von ihm häufig verfolgtes
Verfahren, welches psychoanalytischen Laien das Verständnis
erleichtert.
Den nächsten Themenbereich Kindheit, Jugend, Gesellschaft und
Gewalt führt die in weitem Umfang wiedergegebene Diplomarbeit des
Vierundzwanzigjährigen zur antiautoritären Erziehung an; sie
lässt erkennen, wie Auchter sich schon früh aus
psychoanalytischer Perspektive dem zuwandte, was die Gesellschaft
bewegte, arbeitet heraus, wo die befreienden Potenzen solcher
Erziehung liegen, kritisiert sachlich und aus Distanz
Fehlentwicklungen, insbesondere dort, wo Kinder politisch
indoktriniert werden sollten und es nicht zum freien Spiel zwischen
Identifikation mit und Ablösung von den Erziehenden kommen konnte.
Explizit wendet er sich nun der Gewalt Jugendlicher, insbesondere
der adoleszenter Selbstmordattentäter zu. Er versteht Gewalt als
Symptom innerer Schwäche, als hoffnungsweckenden Hilfeschrei und
jene Attentäter keinesfalls als Monster, sondern als Opfer und
Täter zugleich und zeichnet ihre Leidensgeschichte, welche die
Traumatisierten zu Tätern werden ließ, an Beispielen analysierend
nach.
Unter dem Titel Vom Narzissmus zum Fundamentalismus analysiert
Auchter an unterschiedlichen Beispielen die Verschränkung
individueller und kollektiver Psychopathologie. Er kommentiert
Erfahrungsberichte früherer K-Gruppenmitglieder und zeigt, wie sie
in psychischer Not über die Partei und deren Ideologie ihre
stabile Identität in jener zunehmend in sich geschlossenen
realitätsfernen Welt suchten und sich ihr aus Angst vor Ausschluss
einpassten, bis sie schließlich wieder hinaus fan- den. Der Jim
Jones-Sekte, die 1978 massenhaften Selbstmord beging, nähert sich
Auchter über die Entwicklungsgeschichte ihres Gründers, der seine
narzisstischen Enttäuschungen und Hassgefühle in religiösem
Fanatismus kompensiert, sich selbst idealisiert, sich mit seinen
Jüngern in ein geschlossenes soziales und religiöses System fern
der zivilisierten Welt paranoid zurückgezogen habe und, als der
Einbruch der Außenwelt drohte, in der Selbstauslöschung
Selbst-Objekt-Einheit aktiv zu gewinnen suchte. In diesen Fällen
wie in dem zum Terrorismus führenden Fundamentalismus zeige sich
pathologischer Narzissmus in Spaltungsphänomenen, die den
identitätsstiftenden einen Feind etablierten und Passivität durch
narzisstische Großartigkeit abwehrten. Auch Vorurteil, Rassismus
und Antisemitismus analysiert Auchter vom Konzept des
Pathologischen Narzissmus her. Er arbeitet erhellend mit Spaltung,
Selbstidealisierung, Projektion und Entwertung und verfolgt deren
Ontogenese über den entwicklungspsychologisch unvermeidlichen
adoleszenten Hass bis hin zu dem der Erwachsenen; den aktuellen
deutschen Antisemitismus versteht er als skundär: als Versuch der
Täter, Schuld abzuwehren und kollektive Selbststabilisierung zu
erlangen.
Aus pazifistischer Perspektive setzt Auchter sich mit Krieg und
Frieden auseinander, weist auf die Mechanismen hin, mit denen wir
in unserer Ohnmacht angesichts möglicher totaler atomarer
Vernichtung die Todesangst abwehren: Abstrahieren z. B.,
Theoretisieren, selektive Wahrnehmung, Verleugnung,
Illusionsbildung, Trennung von Vorstellung und Gefühl oder
Spaltung, Feindbildung, Rüstung und zwanghafter Wahn, alles
kontrollieren zu müssen. Demgegenüber gälte es, in
psychoanalytisch orientierter Friedensarbeit solche Mechanismen bei
sich selbst möglichst zu überwinden, die eigene Aggression zu
domestizieren, nicht zu moralisieren oder zu ideologisieren, den
Gegner wahrzunehmen und keinesfalls narzisstisch zu kränken.
Kriege begännen ja schon vor dem Krieg und mit ihm endeten sie
nicht. Die Traumatisierungen wirkten fort und könnten den
nächsten zeugen. – Besondere Aufmerksamkeit wendet der Verfasser
nun einem damals aktuellen Problem zu: Der Angst vor George W. Bush
und der Angst von George W. Bush, einer Analyse von Macht und
Gewalt. Gestützt auf US-amerikanische Arbeiten weist er darauf
hin, wie Angst vor Gewalt und Verleugnung eigener Ohnmacht Gewalt
erzeugt: wie das vernachlässigte Kind zum versagenden Erwachsenen
wurde, Zuflucht im Alkohol suchte und Stabilität schließlich in
christlicher Bekehrung, wie dieser Erwachsene sich gegen den
Schrecken des 11. September kontraphobisch zum Kreuzritter
stilisierte und eine narzisstisch verwundete Nation in den Kampf
gegen das Böse führte – und wie so seine und deren Angst wiederum
die Angst vor ihm weckten. Gegenüber solchen Verläufen betont der
Verfasser im letzten Kapitel Heil, Heilung und ihre Grenzen die
skeptisch-bescheidene psychoanalytische Haltung, kein Gott sein zu
wollen, Heil und Heilung zwar als Sehnsuchtsziel und Phantasie zu
akzeptieren, doch ebenso Leiden und eigene Begrenztheit, die
Psychoanalyse nicht als Heilsbringerin zu feiern und sich in der
Therapie damit zu bescheiden, den Analysanden auf dessen eigenem
Weg zu begleiten, der nicht ins Heil, sondern lediglich zu zeitlich
begrenzten Lösungen führt.
Diese Werkschau zeugt im Rückblick auf vier Jahrzehnte von
aufmerksam beobachtender und aufklärend eingreifender
psychoanalytischer Zeitgenossenschaft, die sich auf therapeutische
Erfahrung und weite Kenntnis psychoanalytischer Theorien stützen
kann. Ihr Gestus ist sachlich, ruhig, unaufdringlich und
unspektakulär, meist additiv katalogisierend, informierend und
behauptend, nicht systematisierend entwickelnd. Die Sprache ist
klar, wegen zahlreicher längerer in den Text eingeschobener
Literaturangaben öfters allerdings schwer zu lesen.
Carl Pietzcker