Rezension zu Individualpsychologie in Berlin (PDF-E-Book)

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Rezension von Hans-Peter Heekerens

Almuth Bruder-Bezzel (Hrsg.): Individualpsychologie in Berlin

Thema
Ich möchte zur Horizonteröffnung eine kleine Geschichte erzählen. Im Jahre 1981 wurde ich von der Evangelischen Fachhochschule Berlin, Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik erstmals mit Lehraufträgen für »Sozialpädagogische Handlungskompetenz« betraut. Die über diese Lehraufträge entscheidenden Professor(inn)en waren die Psychologin Marianne Meinhold und der Soziologe Walter Hollstein. Die beiden hatten 1975 mit »Erziehung und Veränderung« (Neuwied – Darmstadt: Luchterhand) einen der damals bedeutendsten »linken« Beiträge zur Sozialen Arbeit im Allgemeinen und zur Sozialpädagogik im Besonderen vorgelegt (für das »Linke« war v. a. Walter Hollstein zuständig; vgl. Hollstein, 1978). Über dieses Buch diskutierten wir im Bewerbungsgespräch.

Ich erinnere mich, u. a. darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass in dem Buch nur wenige vor 1945 veröffentlichte Arbeiten berücksichtigt seien: neben der Marienthal-Studie vier Publikationen aus der psychoanalytischen Tradition; zwei davon wurden zur vertiefenden Lektüre empfohlen: Anna Freuds »Das Ich und die Abwehrmechanismen« und Sigmund Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«. Hingegen nicht erwähnt seien zum einen andere tiefenpsychologische Traditionslinien und zum anderen die drei Personen, die sich in der Zwischenkriegszeit – und das auch oder vorwiegend in Berlin – um eine Verbindung von (psychodynamischer) Psychologie und Marxismus bemüht hatten: der Freudianer Wilhelm Reich, der von Alfred Adler beeinflusste Otto Rühle (»Die Seele des proletarischen Kindes«. Dresden: Verlag am anderen Ufer, 1925) und der Adler-Schüler Manès Sperber.

Von der damaligen Diskussion ist im vorliegenden Zusammenhang nur interessant, wie die damalige Kenntnislage war. Die Vorlesungen, die Manès Sperber – mit dem die westdeutsche Linke allzu lange ihre Schwierigkeiten hatte – am Vorabend der Machtübertragung an die Nazis am Individualpsychologischen Institut in Berlin zur Einführung in die Psychologie, insbesondere die Individualpsychologie vor Ärzt(inn)en, Heilpädagog(inn)en, Lehrer(inne)n und Sozialfürsorger(inne)n gehalten hatte, wurde erst 1978, also drei Jahre nach „Erziehung und Veränderung“ erstmals veröffentlicht (»Individuum und Gemeinschaft«. Stuttgart: Klett-Cotta). Und von der Individualpsychologie erhielt ein breiteres deutschsprachiges Publikum erst nach 1981 allgemeine Kenntnis: durch die auf Dissertationen (da wurde Neuland betreten!) zweier Psycholog(inn)en in psychodynamischer Tradition beruhenden Schriften von Bernhard Handlbauer (»Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers«, Wien – Salzburg: Geyer-Edition, 1984) einer- und Almuth Bruder-Bezzel (»Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu Wiens«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983) andererseits.

Herausgeberin
Die promovierte Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin (Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie, DGIP) arbeitet als Psychologische Psychotherapeutin in eigener psychotherapeutischer Praxis in Berlin und ist Dozentin, Lehranalytikerin und Supervisorin an dem im Jahre 1992 (offiziell als e.V.) gegründeten Berliner Ausbildungsinstitut für Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, das den Namen »Alfred Adler Gesellschaft für Individualpsychologie in Berlin« (AAI) trägt; meist aber als (Berliner) »Alfred Adler Institut« (in Berlin) bezeichnet wird.

Die Herausgeberin gehört zum Initiatoren- und Gründungskreis des AAI und hat seit der o. g. Dissertation als (Co-)Autorin und (Mit-)Herausgeberin zahlreicher Werke von und zu Alfred Adler und der Individualpsychologie wesentlich dazu beigetragen, dass diese psychodynamische Denktradition vor dem Vergessen bewahrt und ihre Bedeutung für die heutige Beratung und Psychotherapie zunehmend deutlicher wurde. Von ihren Schriften sei eine eigens genannt, da sie mir die beste (greifbare) deutschsprachige Hinführung zu Alfred Adler und der Individualpsychologie scheint: »Geschichte der Individualpsychologie« (2. neu bearb. Aufl., Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1999). Zeitgleich mit dem vorliegenden Buch hat sie gemeinsam mit Gerd Lehmkuhl Briefe Alfred Adlers herausgegeben (Bruder-Bezzel & Lehmkuhl, 2014, vgl. die Rezension).

Entstehungshintergrund
Im Vorwort des Buches macht die Herausgeberin Angaben zu dessen Entstehungsgeschichte. Im Jahre 2012, 20 Jahre nach Gründung des AAI, fand in Berlin eine von der Herausgeberin im Namen der Alfred-Adler-Akademie veranstaltete Tagung zur Geschichte der Individualpsychologie in Berlin, statt. Ein Teil der damaligen Referate wurde, mitunter überarbeitet, ins vorliegende Buch aufgenommen; ergänzend kamen andere Beiträge, früher anderwärts publiziert, hinzu.

Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt mit einem Vorwort der Herausgeberin, in dem sie Angaben zur Entstehungsgeschichte des Buches macht, den Inhalt des Buches skizziert und jenen dankt, die das Buchprojekt unterstützt haben. Es folgen dann – den Kern des Buches ausmachend – acht Einzelbeiträge verschiedener Autor(innen), die unten noch eigens dargestellt werden. Das Buch schließt mit einer Kurzdarstellung der Autorinnen und Autoren, einem nach Einzelbeiträgen aufgegliederten Abbildungsnachweis sowie einem Personenregister.

Die genannten acht Einzelbeiträge kann man sachlich zwei Gruppen zuweisen.

Da gibt es zum einen die drei Beiträge (der erste und die beiden letzten), die bestimmte längere oder kürzere geschichtliche Abschnitte beleuchten. Die übrigen fünf nehmen bestimmte Personen bzw. in einem Falle eine besondere Institution in den Blick. In manchen dieser Beiträge finden sich zeitgenössische und historische Aufnahmen von behandelten Orten und Personen. In ihrer detaillierten und materialreichen Geschichte der Individualpsychologie in Berlin, die von 1924 bis 1992 reicht, eröffnet Almuth Bruder-Bezzel den Horizont, in den alle nachfolgenden Beiträge zu stellen sind.

Sabine Siebenhüner berichtet in Fritz Künkels Beitrag zur individualpsychologischen Neurosenlehre von jenem Mann, der von Leonhard Seif in München, wo 1920 die erste individualpsychologische Ortsgruppe außerhalb Österreichs entstand, kommend?? Initiator der Gründung der Berliner Ortsgruppe (1924) war. Seine zunehmend von Alfred Adler abweichende theoretische Position und seine »rechte« politische Orientierung (i. U. zu einer durch Manès Sperber repräsentierten »linken«) werden ebenso dargestellt wie die sich an seiner Person und Position zunehmend mehr entzündenden – und später zur Spaltung führenden – Diskussion innerhalb der Berliner Ortsgruppe. Was die deutsche Soziale Arbeit heute offensichtlich vergessen hat: Fritz Künkel war »in der Wohlfahrtspflege, Sozialpädagogik und Heimerziehung beratend und ausbildend tätig« (S. 57).

Der Beitrag Das heilpädagogische Kinderheim in Berlin-Frohnau. Zum Wirken der Individualpsychologin Annemarie Wolff (Ursula Heuss-Wolff) ist die leicht veränderte Fassung der Ansprache, die die Autorin im Jahre 2001 anlässlich der (späten) Ehrung ihrer Mutter, der Individualpsychologin Annemarie Wolff, Gründerin und Leiterin des individualpsychologischen Kinderheims an der Oranienburger Chaussee. Die, von den Nazis schon 1933 gefangen genommen und gefoltert, emigrierte 1936 mit vielen Kindern nach Jugoslawien, wo die Nazis die inzwischen zum jugoslawischen Widerstand gehörende 1944 aufspürten, ins KZ Jasenovac (http://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Jasenovac) brachten und dort Anfang 1945 ermordeten (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Annemarie_Wolff-Richter).

In Manès Sperber: Ein treuer Ketzer – nicht nur der Individualpsychologie portraitiert Hans-Rudolf Schiesser, Gründer des Manès-Sperber-Archivs kenntnisreich Leben und Wirken des Mannes, der wie viele jüdische Pioniere der sich in Wien und Budapest entwickelnden Psychotherapie (in erster oder 2. Generation) aus Galizien kam (vgl. Heekerens, 2014a). Zwei Zitate sollen Schlaglichter werfen auf die Berliner Jahre jenes Mannes.

Zunächst zu seiner Grundposition: »Sperber wird während seiner gut fünfjährigen Berliner Zeit in den verschiedensten Berliner Organisationen arbeiten – stets als Vertreter einer marxistischen Individualpsychologie – analog zu den Freudomarxisten wie Siegfried Bernfeld, dem frühen Erich Fromm oder Wilhelm Reich, dessen politisch-psychologische Biographie sehr große Ähnlichkeiten mit der Sperbers aufweist.« (S. 100) Und dann zu seinen Aktivitäten: »Sperber arbeitete in Berlin beispielsweise als psychologischer Experte im Berliner Archiv für Wohlfahrtspflege der Sidonie Wronsky in der Flottwellstr. 4, in der Ausbildung von Fürsorgern und Sozialpädagogen an mehreren Berliner Fachschulen, als Lehrender an der ›Wohlfahrtsschule Karl Meinicke‹, einer Abteilung der ›Hochschule für Politik‹ am Schinkelplatz 6. Hier war zur selben Zeit auch sein Freund Henry (Heinz) Jacoby tätig. Als Lehrer und Berater im Auftrag der Stadt Berlin für Heimerzieher in Fürsorge- und Erziehungsheimen der Mark Brandenburg, als Jugendberater in der ›Berliner Kinderstube‹ Steglitzerstr. 47 im Bezirk Schöneberg / Tiergarten (…) in seiner eigenen Erziehungsberatungsstelle und Wohnung Berlin-Halensee, Paulsbornerstr. 73b (…)« (S. 100-101).

Von Manès Sperbers – ebenfalls jüdischem und marxistisch gesinnten – Freund wird anschließend in Henry Jacoby: Ein Leben für eine bessere menschliche Gemeinschaft von Gisela Deising berichtet. Henry (Heinz) Jacoby, schon 1933 in den Fängen der SS kann der Ermordung durch die Nazis entkommen, ist 1945 bis 1968 bei der Food and Agriculture Organization der UNO tätig und anschließend für Amnesty International aktiv. Vor 1933 ist der ausgebildete Sozialarbeit Sekretär der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe; seine Abschlussarbeit trägt den Titel »Verwahrlosung und Verbrechen als sozialpathologische Erscheinung«. »Sozialpathologisch«, nicht »psychopathologisch«; das ist Adlerianisch, nicht Freudianisch.

Mit Arthur Kronfeld: Nervenarzt, Psychotherapeut und Individualpsychologe stellt uns Peter Vogelsänger einen Mann vor, der in der Literatur der Sozialen Arbeit gelegentlich mit Namen auftaucht, dort aber in seiner Bedeutung für die Soziale Arbeit ignoriert wird (s. u.), auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie bis heute gewürdigt wird (zusammenf. http://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Kronfeld; zur Ergänzung: Hoff, 2007). Der Beitrag beruht auf Vorarbeiten des 2013 verstorbenen Ingo-Wolf Kittel, der bedeutsame Erinnerungsarbeit an Arthur Kronfeld geleistet hat (vgl. etwa http://www.sgipt.org/gesch/kronf.htm). Wie weit der Arm der Nazis, die den Juden und engagierten Linken in Berlin schon 1934 bedrängten, reichte, zeigt sein Tod: zusammen mit seiner Frau nahm er sich das Leben, als die Wehrmacht Moskau, wo er ehrenvolle Aufnahme gefunden hatte, einzunehmen drohte.

Andreas Peglau, sich seit Jahren und mit Erfolg historisch um die politische Psychoanalyse und ihren (verdrängten) Exponenten Wilhelm Reich bemühend (vgl, http://www.ipu-berlin.de/fileadmin/downloads/veranstaltungen/bibliotheksgespraeche-peglau-lektuere.pdf), zeigt in Psychoanalyse und Individualpsychologie im Nationalsozialismus. Zwischen Verfolgung und Kollaboration inwieweit Psychoanalyse und Individualpsychologie im Dritten Reich Opfer, Täter und beides zugleich waren. Die detaillierte und faktenreiche Analyse überrascht mit mehreren unbekannten Dokumenten(auszügen und -wiedergaben).

Im letzten Kapitel 20 Jahre Alfred Adler Institut in Berlin. Ein Kind der Wende gibt Wolfgang Lehnert einen Einblick in die kurze Geschichte eines Instituts mit langer Tradition.

Diskussion
Man kann über Vieles an diesem Buch und das in ihm Gesagte diskutieren. Aber alle Kritik wird klein bleiben angesichts der Bedeutung dessen, was uns dieses Buch erschließt. Kritik kann im vorliegenden Falle im Grunde nur heißen: Ergänzungsvorschläge machen und Akzentverschiebungen anregen. Ich will das hier in dem einen und anderen Punkte tun. So frage ich mich etwa, weshalb das Buch keinen Beitrag zu Otto Rühle enthält. Jedenfalls kann dieses Fehlen den Eindruck erwecken, als behandle die Individualpsychologie ihn mit derselben geringen Wertschätzung, wie das die Psychoanalyse mit Wilhelm Reich tut. Solches Nicht-zur-Sprache-Bringen hat für alle, die sich erinnern, einen bitteren Beigeschmack, waren doch »Otto Rühle und Wilhelm Reich die einzigen aus dem Kreis der Analytiker und Individualpsychologen, für die 1933 ein Totalverbot als notwendig erachtet wurde« (Peglau, im vorliegenden Buch S. 157).

Die Herausgeberin erklärt in ihrem eigenen Beitrag mit guten Argumenten, weshalb nicht München, wo 1920 durch Leonhard Seif die erste Ortsgruppe der Individualpsychologie auf (reichs-)deutschem Boden entstand und 1922 der I. Internationale Individualpsychologische Kongress stattfand, sondern Berlin ab 1924 für rund ein Jahrzehnt zum Zentrum der Individualpsychologie wurde. Dass Berlin aus vielerlei Gründen und für unterschiedliche Interessen attraktiver ist als München, galt damals noch weitaus mehr als heute. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Wohl aber dies – und das hat man schon bei der »Geschichte der Individualpsychologie« vermisst: Weshalb Deutschland (und die USA) denn überhaupt interessant wurde für eine Bewegung von Wiener(innen), die für so etwas wie »Fremdenfreundlichkeit« nie berühmt waren (und es bis heute nicht sind). Aus demselben Grund, weshalb es auch bei der zweiten hier interessierenden Bewegung, der Psychoanalyse, der Fall war (vgl. Heekerens, 2014a, 2014b): Weil Wien nach dem 1. Weltkrieg am Ende war.

Politgeographisch am Ende: In der nordwestlichen Ecke eines Rumpfgebietes namens Deutsch-Österreich: an drei Seiten umgeben von feindlich gesinnten Staaten, seiner Ressourcenkammern und Verkehrswege beraubt. Und ökonomisch am Ende. Was das für in Wien entstandene Psychodynamische Psychotherapie bedeutete, sei an zwei Beispielen illustriert. Allgemein bekannt ist, dass Sigmund Freud in den Jahren nach dem Zusammenbruch der k. u. k. Monarchie aus wirtschaftlichen Gründen seine Analysestunden überwiegend zahlungskräftigen Briten und US-Amerikanern andienen musste – welche Qualen musste der passionierte US-Verächter Sigmund Freud dabei durch gestanden haben.

Weniger bekannt ist ein zweites Beispiel (vgl. Heekerens, 2014c). Im Februar 1924 hielt eine junge US-Amerikanerin vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), wo sie 1922 erstmals Gast gewesen war, einen Vortrag (»Die Anwendung der Psychoanalyse auf die soziale Fürsorge«), der ihr (gegen die Statuten, denn sie war keine Wiener Bürgerin) einen Platz als ordentliches WPV-Mitglied einbrachte. Ihre Expertise auf dem behandelten Gebiet ist als »mäßig« anzusehen; eine ausgebildete Social Worker war sie nicht und auf dem Gebiet der Psychoanalyse hatte sie neben der damals üblichen Art von Analyse (zuletzt und am längsten bei Otto Rank) nur Übersetzungsleistungen, aber keine eigenen klinischen oder theoretischen Schriften vorzuweisen. Aber: Caroline Newton verfügte über ökonomische Macht und hatte beste Verbindungen in die USA der Wohlhabenden. Die junge Quäkerin aus reichem Hause und einer Vorliebe für deutsche Kultur war nach Wien gekommen im Jahr 1921 als Volunteer der Quäker Organisation American Friends Service Committee (AFSC), wo sie eine einflussreiche Position in jener NGO inne hatte, die durch Verteilung protein-, stärke- und fettreicher Nahrung Wiens ärmste Kinder vorm Verhungern retten half.

Amerika, Du hast es besser. Und diese – bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg stetig anwachsende – wirtschaftliche Besserstellung alleine war für viele Wiener Psychodynamiker(innen) Anlass genug, direkt oder über europäische Zwischenstationen, ihr Heil in den USA zu suchen; Alfred Adler war nur einer von vielen. Aufkommender Faschismus und zunehmender Antisemitismus haben diesen primär ökonomisch begründeten Prozess in der Zwischenkriegszeit beschleunigt, der zweite Weltkrieg und sein Ausgang ihn radikalisiert. Begonnen hat der »Westtrend« der Psychotherapie nach dem 1. Weltkrieg, der die k. u. k Monarchie auslöschte. Von nun an wanderte nach weltweiter Betrachtung das Zentrum der Psychotherapie zunehmend mehr nach Westen: von Budapest und Wien, deren östliches Hinterland Galizien unwiederbringlich verloren war, zunächst nach Berlin und London, dann weiter in den Osten der USA (v. a. Atlantikküste und Chicago) und schließlich, ab den 1960ern, bis zu deren Ostküste, nach Kalifornien. Dort reifen die zwei großen Alternativen zur psychodynamischen wie Verhaltenstherapie: die humanistisch-experimentelle Psychotherapie (Fritz Perls, Carl Rogers) und die systemische (Palo-Alto-Gruppe) heran.

Keine Anfrage an das Buch, sondern an einen Teil der möglichen Leserschaft stellen die abschließenden Ausführungen dar. Keine(r) der Autor(inn)en des vorliegenden Buches ist ausgewiesene(r) Vertreter(in) der Sozialen Arbeit. Aber »Einseitigkeit« oder »Voreingenommenheit« bei der Personalauswahl wird man der Herausgeberin schwerlich vorhalten können. An wen hätte sie sich denn wenden können? Wer in der zeitgenössischen deutsch(sprachig)en Sozialen Arbeit verfügt denn über die notwendige Expertise? In dem vorliegenden Buch wird an vielen Stellen ausführlich und kenntnisreich über Personen, Ideen und Ereignisse berichtet, die ihren Platz der Sache nach in der Geschichte der Sozialen Arbeit haben. Aber kennt denn die hiesige Soziale Arbeit Alfred Adler und die Individualpsychologie eigentlich und interessiert sich für ihn? Offensichtlich nicht. Hie und da durch besondere Umstände begünstigte Arbeiten damit (vgl. etwa http://digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000000538/Diplomarbeit-Siebert-2009.pdf) oder Personen wie der Sozialmediziner Holger Kirsch an der Evangelischen Hochschule Darmstadt sind nur die Regel-bestärkenden Ausnahmen. Aber dem Mainstream der deutsch(sprachig)en Sozialen Arbeit ist Alfred Adler und die Individualpsychologie so gut wie unbekannt (geworden). Weder in systematischer noch in historischer Betrachtungsweise scheinen die beiden erwähnenswert.

So kennt die neuste Auflage des »Handbuch Soziale Arbeit« (Otto & Thiersch, 2015; Socialnet-Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/18129.php) zwar Sigmund Freud und die Psychoanalyse, aber weder Alfred Adler noch die Individualpsychologie. Und wenn man die drei bedeutsamsten Büchern zur Geschichte der Sozialen Arbeit durchforstet, so findet man in einem (Landwehr & Baron, 1991) überhaupt keine Spur, im zweiten immerhin wird Arthur Kronfeld bibliographisch als Koautor des von ihm und Siddy Wronsky unter Mitwirkung von Rolf Reiner verfassten Buches »Sozialtherapie und Psychotherapie in den Methoden der Fürsorge« (Berlin: Heymann, 1932) genannt (Hering & Münchmeier, 2007, S. 138) und nur in einem (Müller, 1991, S. 195-198) ist ausführlicher von Arthur Kronfelds Mitwirken am Wronskyschen Evaluationsprojekt der (Sozialen) Einzelfallhilfe die Rede – freilich ohne ihn in Verbindung mit der Individualpsychologie zu bringen! In dem damaligen Projekt ging es darum, einen Vergleich »zwischen dem physisch-seelischen-sozialen Eingangsstatus der Klienten und ihrer weiteren Entwicklung während der Zeit der fürsorgerischen Betreuung« (Müller, 1991, S. 195) zu machen. Statt von »physisch-seelisch-sozial« spricht die heutige Soziale Arbeit von »bio-psycho-sozial« – und hält das in aller Geschichtsvergessenheit gemeinhin für eine sehr modernes (und aus den USA stammendes) Gesundheits-/Störungsmodell.

Wie weit man schon in der Weimarer Zeit mit der Entwicklung eines bio-psycho-sozialen Modells war, wie eine daraus resultierende »Soziale Therapie« aussieht und wie viel Individualpsychologisches darin enthalten ist, möge die kurze Falldarstellung »FRITZ KÖNIG« aus »Sozialtherapie und Psychotherapie in den Methoden der Fürsorge« (S. 5) illustrieren:

»Eine Entwicklung der Kräfte ist durch Beschaffung von Krankenbehandlung, Ernährungsbeihilfen und Kleidung erreicht. Es wird eine Verschickung der Frau K. in die Wege geleitet, die ihren Horizont erweitert, ihre Interessen anregt und ihre körperlichen Kräfte stärkt. Eine systematische Bekämpfung der Depressionszustände, die ihre Willenskraft schwächen, wird in der Verbindung mit einem Psychiater durchgeführt. Für die drei jüngsten Kinder wird Erziehungsberatung vermittelt. Der Lebensüberdruß bei Frau K. wird allmählich abgebaut. Für zwei Söhne wird eine Lehrstelle beschafft und für Herrn K. wird eine Notstandsarbeit beim Wohlfahrtsamt vermittelt.

Es ist damit zu rechnen, daß, solange die günstigeren Arbeitsverhältnisse in der Familie anhalten, mit dem Heranwachsen der Kinder eine körperliche und seelische Entlastung der Hausfrau auftritt, und daß mit dem Überwinden des Klimakteriums ein gewisser Ausgleich der Kräfte erfolgen kann, so daß das seelische Gleichgewicht in der Familie wieder hergestellt werden kann.«

Fazit
Das Buch ist all denen zu empfehlen, die an der (Historie) der Individualpsychologie und der Geschichte der Psychotherapie und Sozialen Arbeit im Allgemeinen und der Berlins im Besonderen interessiert sind. Mit Blick auf die Soziale Arbeit sei hinzu gefügt: Wer sich als Vertreter(in) der Disziplin oder Profession seiner historischen Identität versichern will, wird hier in einem hohen Maße fündig. Das sollte insbesondere für Vertreter(innen) einer Klinischen Sozialarbeit Anreiz sein, das Buch zu lesen (und seine Anschaffung für die Bibliotheken der betreffenden Ausbildungsstätten auf den Weg zu bringen).

Literaturnachweis
Bruder-Bezzel, A. & Lehmkuhl, G. (Hrsg.) (2014). Alfred Adler. Briefe 1896-1937. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Heekerens, H.-P. (2014a). Rezension vom 20.03.2014 zu Ferenczi, S. (2013). Das klinische Tagebuch. Gießen: Psychosozial-Verlag. Socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/16363.php).
Heekerens, H.-P. (2014b). Rezension vom 05.05.2014 zu Zienert-Eilts, K. (2013). Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der psychoanalytischen Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Socialnet-Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/16718.php).
Heekerens, H.-P. (2014c). Rezension vom 08.08.2014 zu Fallend, K. (2012). Caroline Newton, Jessie Taft, Virginia Robinson. Wien: Löcker. Socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/16977.php).
Hering, S. & Münchmeier, R. (2007). Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung (4. Auf.). Weinheim – München: Juventa.
Hoff, P. (2007). Arthur Kronfeld (1886-1941): Ein vergessener, aber überaus aktueller psychopathologischer Denker. Sozialpsychiatrische Informationen, 35(4(, 15-17.
Hollstein, W. (1978). Der materialistisch-gesellschaftstheoretische Ansatz. In K. M. Bolte & Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Materialien aus der soziologischen Forschung: Verhandlungen des 18. Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1976 in Bielefeld (S. 696-712). Darmstadt: Luchterhand (www.ssoar.info/ssoar/).
Landwehr, R. & Baron, R. (1991). Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien ihrer Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (2. Aufl.). Weinheim – Basel: Beltz.
Müller, C. W. (1991). Wie Helfen zum Beruf wurde Bd. 1. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883 – 1945 (3. Aufl). Weinheim – Basel: Beltz.
Otto, H-U. & Thiersch, H. (Hrsg.). (2015). Handbuch Soziale Arbeit (5. erweiterte Aufl.). München: Reinhardt.

Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München

Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 05.02.2015 zu: Almuth Bruder-Bezzel (Hrsg.): Individualpsychologie in Berlin. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 193 Seiten. ISBN 978-3-8379-2397-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245


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