Rezension zu Bindung
Psychosoziale Umschau 012015
Rezension von Michael Konrad
Das Wunder der Bindung
Bernhard Strauß: Bindung
Die Zahl der nicht klinischen Unterstützungsangebote für chronisch
psychisch kranke Menschen schreitet unaufhaltsam voran.
Insbesondere das ambulant betreute Wohnen breitet sich in der
gesamten Republik geradezu lawinenartig aus. Und das stationäre
Pendant – früher Heimversorgung genannt – dient vor allem der
intensiven Betreuung psychisch kranker Menschen mit
herausfordernden Verhaltensweisen; zum Teil in geschlossener oder
nach moderner Begrifflichkeit beschützter Form. Die betreuten
Wohnformen haben die Langzeitstationen der psychiatrischen
Landeskrankenhäuser abgelöst. Ihr Ziel ist nicht mehr die
Behandlung, sondern die Unterstützung bei der Bewältigung des
Alltags – nach Möglichkeit integriert in die Gemeinde.
Eine Theorie hat die gemeindepsychiatrische Unterstützung für ihr
Handeln nicht. Systemische Modelle werden gerne angewandt, aber für
das, was die klinische Psychiatrie traditionell
Therapeut-Patient-Beziehung nennt, existiert kein theoretischer
Hintergrund, der Berufsanfängern im Betreuten Wohnen vermittelt
werden könnte. Dabei gilt es schon nahezu als Verstoß gegen die
Standesehre, wenn ein Team des betreuten Wohnens nicht mit einem
Bezugspersonensystem arbeitet. Dementsprechend wird von der
psychiatrischen Pflege nachhaltig betont, man betreibe das Gewerbe
der Beziehungsarbeit. Und die Vertreter der Soltauer Initiative
würden vermutlich behaupten, sie tun das auf der Grundlage eines
mitmenschlichen Verständnisses von Fürsorge.
Die Lektüre des Buches von Bernhard Strauß hat mir ein vertieftes
Verständnis dafür gegeben, was die sozialpsychiatrischen
Bezugspersonen auszeichnet, wenn es ihnen gelingt, zu ihren
Klienten und Klientinnen eine Beziehung aufzubauen: Sie stellen
eine Bindung her. Bereits im ersten Halbsatz wird der Lesende
darauf gestoßen, warum er sich mit dem Thema auseinandersetzen
sollte: »Bindung ist ein primäres menschliches Bedürfnis...« Diese
Prägnanz prägt das gesamte Werk, das damit trotz der Fülle der
Informationen erfreulich kurz ist und die tief gehenden
Erkenntnisse aufgrund des verständlichen Schreibstils leicht
rezipiert werden können. Der Autor ist psychologischer
Psychotherapeut und leitet das Institut für psychosoziale Medizin
und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Obwohl er den
Überblick über den Wissensstand der Bindungstheorie vermutlich für
psychotherapeutische Tätige verfasst hat, erscheint mir seine
Aufarbeitung für Bezugspersonen in der Sozialpsychiatrie von hohem
Interesse.
Die Bindungstheorie wurde von John Bowlby bereits in den
50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aus einem psychoanalytischen
Verständnis heraus entwickelt und von Mary Ainsworth in der
Folgezeit wesentlich ausdifferenziert. In der psychoanalytischen
Gemeinde stieß sie aufgrund der zu geringen Beachtung der
Triebtheorie zunächst auf heftige Kritik, um dann zwanzig Jahre
lang totgeschwiegen zu werden. Der »Tabubruch« von Bowlby lag in
seiner Auffassung, dass Sicherheit und nicht Sexualität das
zentrale Thema der kindlichen Entwicklung sei. Die Entwicklung der
Bindungstheorie ist damit auch ein Lehrstück über den Umgang
etablierter Institutionen mit innovativen Strömungen. Erst auf der
Grundlage der psychoanalytischen Säuglingsforschung konnte sich die
Bindungstheorie auch in den psychoanalytischen Gesellschaften
etablieren. Nach Auffassung des Autors vermag sie über die
Therapieschulen hinweg ein Modell für die Entwicklung der
Persönlichkeit herzustellen. Ausgangspunkt für die Bindung ist nach
Ainsworth die »mütterliche Feinfühligkeit«, sie unterscheidet
zwischen einer autonomen (sicheren), einer abweisenden
(vermeidenden) und einer verstrickten (ambivalenten)
Bindungsrepräsentation. Bernhard Strauß gelingt es, Theorie,
empirische Untersuchungen und Erkenntnisse für die Psychotherapie
bis hin zu den Auswüchsen (Bindungsvermeidung als günstige
Eigenschaft für Tennisprofis) umfassend und verständlich
darzustellen. Der Lesende hat nach der Lektüre das beglückende
Gefühl, in relativ kurzer Zeit viele neue Erkenntnisse und
Anregungen für die eigene Person und für die sozialpsychiatrische
Arbeit gewonnen zu haben. Auch wer nicht mit der psychoanalytischen
Theorie und Terminologie vertraut ist oder ihr ablehnend
gegenübersteht, sollte sich die Lektüre nicht versagen.
MICHAEL KONRAD, Ravensburg
www.psychiatrie-verlag.de