Rezension zu Sigmund Freuds erstes Land (PDF-E-Book)

P&E – Psychologie & Erziehung 2/2014

Rezension von Beat Manz

Anton M. Fischer: Sigmund Freuds erstes Land

Sigmund Freud gilt als Begründer der modernen Psychotherapie. Seine Schöpfung, die Psychoanalyse, Theorie des Unbewussten und Therapie der Neurosen, wurde in wissenschaftlichen Kreisen zuerst abgelehnt, v.a. wegen ihrer These der sexuellen Ursache der Hysterie. Lange Zeit war Eugen Bleuler in Zürich der einzige Psychiatriedirektor, der mit seinen Assistenten die neuen Befunde diskutierte. Sein Oberarzt, C.G. Jung, begann psychotische Patienten analytisch zu untersuchen. Das brachte ihm die Freundschaft mit Freud ein, die 7 Jahre lang anhielt. Jung, Pfarrerssohn mit einem Hang zum Übersinnlichen, entwickelte eine eigene Theorie des Unbewussten, die Archetypenlehre. Er verliess Bleuler und das Burghölzli, sagte sich 1914 von Freud los und eröffnete eine eigene Praxis in Küsnacht. Seither gibt es neben der Psychoanalyse die Komplexe oder Analytische Psychologie und Psychotherapie. Ludwig Binswanger hingegen hielt die Freundschaft zu Freud aufrecht. In seinem privaten Sanatorium in Kreuzlingen behandelte er psychotische Patienten. Allerdings distanzierte er sich ebenfalls von der Psychoanalyse. Zur Phänomenologie Husserls und Ontologie Heideggers hingezogen, gründete er die sog. daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie und eine eigenständige Psychotherapie, die Daseinsanalyse.

Auch in Genf war der Experimentalpsychologe Théodore Flournoy über die Untersuchung mit einem in Trance versetzten Medium um 1900 auf Freuds Unbewusstes gestossen. Daher verstehen wir, dass Freud die Schweiz eine Weile lang als »erstes Land« der Psychoanalyse betrachtete.

Zur 1919 gegründeten Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse gehörten u.a. der Züricher Pfarrer Oskar Pfister und der Lehrer Hans Zulliger aus Ittigen bei Bern. Pfister führte die Psychoanalyse in die Seelsorge ein (analytische Seelsorge). Zulliger war ein Pionier der psychoanalytischen Pädagogik, der Anwendung der Psychoanalyse auf die Erziehung. Er erfand die deutungsfreie Spieltherapie für Kinder in seelischer Not (vgl. auch: Cifali/Imbert: Freud und die Pädagogik).

Die meisten jüdischen Psychoanalytiker flohen mit der Machtergreifung Hitlers aus Deutschland und Österreich. Jung wurde 1933 in zweifelhafter Absicht Präsident der arisierten Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Seit 1938 hielten Gustav Bally und Medhard Boss Vorlesungen am Institut für Psychotherapie an der Uni Zürich, Heinrich Meng über Psychohygiene in Basel. 1939 starb Freund im Londoner Exil. 1958 entstand das Psychoanalytische Seminar in Zürich, das jedoch 1977, als Folge der Auflehnung junger angehender Psychoanalytiker gegen die sog. »Freudsche Orthodoxie« gespalten wurde. Mit Paul Parin, seiner Frau Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler kam die Schweizer Psychoanalyse zu neuem internationalem Ruhm: Sie unternahmen Forschungsreisen nach Westafrika, führten analytische Gespräche mit Leuten der Dogon und Agni: die Ethnopsychoanalyse war geboren. Es kamen neue Psychotherapiemethoden auf, die ihre Wurzeln nur teilweise in der Psychoanalyse hatten. Ihre Forderung nach wissenschaftlicher Anerkennung und Bezahlung durch die Krankenkasse rief nach einer staatlichen Regelung. In einem letzten Kapitel beschreibt Fischer, wie Schulenstreit und Konkurrenz zwischen Psychiatern und nicht-ärztlichen Psychotherapeuten, meistens Psychologen, überwunden werden mussten, um das heute geltende Psychotherapiegesetz zu schaffen. Noch nie wurde die Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie in der Schweiz in dieser Ausführlichkeit erzählt. Fischer hat ein monumentales Grundlagenwerk geschaffen, das nicht nur gut recherchiert, sondern durch die lebendige Schilderung der Psychotherapeutenpersönlichkeiten, ihres Umfelds, ihrer Erfolge, Misserfolge und Anerkennungskämpfe spannend zu lesen ist.

Beat Manz

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