Rezension zu »Er war halt genialer als die anderen«
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 22
Rezension von Roland Kaufhold
Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen«. Biografische
Annäherungen an Siegfried Bernfeld.
»Er war halt genialer als die anderen« (S. 101). So erinnerte sich
Edith Kramer, österreichische Exilantin, im hohen Alter an
Siegfried Bernfeld. Sie hatte sich bereits in Wien durch dessen
rhetorisches Talent inspirieren lassen – für die junge
Psychoanalyse, für die zionistische Jugendbewegung. Kramer
erinnerte sich: »Ein großartiger Redner, irgendwo ein Schauspieler.
Ein faszinierender Vortragender. Er ... hat wirklich die
Psychoanalyse beibringen können« (ebd.). Diese lebendigen
Erinnerungen an den 1892 in Galizien geborenen, in Wien
aufgewachsenen Zionisten und Freud-Schüler Siegfried Bernfeld
teilte sie mit vielen Weggefährten, die durchgehend begeistert an
diesen intellektuellen Himmelsstürmer zurückdenken. Bernfelds
Persönlichkeit und kritischer Enthusiasmus hat unauslöschliche
Spuren hinterlassen. Dokumentiert ist dies in einer 600 Seiten
umfassenden Biographie, die das imposante Gesamtwerk dieses
undogmatischen Linken und kritischen Freud-Schülers in
eingängiger Weise nahebringt. Viele Jahre lang war der 1953 im
Exil in San Francisco viel zu früh Verstorbene vergessen. Erst die
1968er-Bewegung entdeckte Bernfeld und seine zahlreichen Beiträge
zu einer kritischen Pädagogik wieder. Eine Auswahl seiner
Schriften erschien anfangs in Raubdrucken, dann in den 1970er
Jahren in Buchform. Das Projekt einer Werkausgabe, gleich zweimal
angekündigt, scheiterte jeweils. Erst 40 Jahre später, als die
Begeisterung für die psychoanalytisch-sozialreformerische
Tradition der Psychoanalyse schon lange versandet ist, legt der
PsychosozialVerlag eine auf zwölf Bände angelegte Gesamtausgabe
vor. In diese Reihe gehört auch diese, von dem
Erziehungswissenschaftler Peter Dudek verfasste Biographie.
Bernfeld war während seines Studiums in Wien einer der
maßgeblichen Protagonisten der Jugendbewegung. Diese hatte etwa
3.000 Anhänger, stieß jedoch wegen ihrer progressiven Ausrichtung
auf vehementen Widerstand. Bernfeld war zeitgleich Redner,
Impulsgeber und »wissenschaftlicher Interpret« (Dudek). Vor allem
jedoch wird uns Bernfeld als Protagonist der zionistischen Bewegung
vorgestellt: Infolge der jüdischen Fluchtbewegung aus Galizien
nach Wien im Ersten Weltkrieg – 1914 lebten dort etwa 150.000
Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, hierunter 125.000
Juden – engagierte sich Bernfeld in seinen theoretischen Schriften,
aber auch als Psychoanalytischer Pädagoge 1918/19 in dem von ihm
aufgebauten »Kinderheim Baumgarten« für den linken Flügel der
zionistischen Bewegung. Das Kinderheim Baumgarten war ein
kurzlebiges, bis heute verschiedentlich (Barth: Kinderheim
Baumgarten) dokumentiertes Modellprojekt einer jüdischen Erziehung
für etwa 240 Kinder und Jugendliche.
Bernfelds Vorträge fanden Anklang. 1918 bemerkte die Jüdische
Zeitung: »Bernfeld gilt uns, man darf es offen sagen, als einer der
Talentiertesten des Nachwuchses: als Mann von starker geistiger
Prägung ... vor einem intellektuellen Publikum für unsere Sache
werbend« (S. 168). »Ganz nebenbei« legte der produktive Theoretiker
1919 die utopische Schrift »Das jüdische Volk und seine Jugend«
vor. Bernfeld war zeitlebens von einer imponierenden
Produktivität. Er war Mitherausgeber der »Blätter aus der
jüdischen Jugendbewegung« sowie der Zeitschrift »Jerubbaal«. 1918
leitete er in Wien, gemeinsam mit Martin Buber, den
österreichisch-jüdischen Jugendtag. 1920 ging Bernfeld als
Sekretär Bubers nach Heppenheim und war in dieser Funktion
Herausgeber der Zeitschrift »Der Jude«. Die Zusammenarbeit stand
unter keinem guten Stern. Bernfeld war kränklich, objektiv durch
seine zahlreichen Engagements überfordert. »Ein kurzes Intermezzo:
Als Sekretär bei Martin Buber« ist dieses Kapitel demgemäß
betitelt. Das Angebot der Zentrale der zionistischen Organisation,
1920 in Palästina ein Jüdisches Institut für Jugendforschung
aufzubauen, musste Bernfeld wegen seines labilen
Gesundheitszustands ablehnen. Buber war von der Zusammenarbeit
enttäuscht. Seine Zeitschrift »Der Jude« musste 1921 aus
finanziellen Gründen ihr Erscheinen einstellen. Nach einem Jahr
kehrte Bernfeld nach Wien zurück. Bereits in dieser frühen Phase
wird deutlich: Bernfeld wollte in seiner zionistischen Phase zwar
eine »Hingabe an ein Ideal«. Zugleich jedoch blieb er der
beobachtende, analysierende Theoretiker und Polemiker.
Nach seiner Rückkehr nach Wien wurde er innerhalb kürzester Zeit
zu einem zentralen Mitglied der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung, Freud brachte ihm höchste Wertschätzung entgegen.
Und er publizierte weiter Buch auf Buch, engagierte sich bei der
Entstehung der Kindertherapie. 1925 ging Bernfeld, sein »Sisyphos«
war soeben erschienen, für sieben Jahre nach Berlin, suchte neue
Wirkungsfelder – zugleich eine Phase der politischen
Radikalisierung und einer sich noch steigernden literarischen
Produktivität. Bernfeld fand neue Mitstreiter. Mit dem ungestümen
Wilhelm Reich verband ihn, trotz ihrer politischen Nähe, eine
zutiefst ambivalente Zusammenarbeit. In der Phase der Emigration
zerbrach diese Zusammenarbeit auf tragische, bis heute nicht zu
entwirrender Weise. Auch in Dudeks Biographie finden sich keine
überzeugenden Antworten auf dieses Drama. Bernfeld, der dreimal
verheiratet war, emigrierte mit seiner Familie über Frankreich
(1934) nach Amerika (1937). Der größte Teil seiner Angehörigen
vermochte sich zu retten, sein Bruder Manfred kam 1944 im Ghetto
Theresienstadt um. Einige seiner Berliner Schüler und Kollegen
sollten nach ihrer Flucht nach Palästina maßgeblichen Anteil am
Aufbau der Psychoanalyse sowie der Kibbuzbewegung in Israel haben.
Bernfeld fand in San Francisco eine neue Wirkungsstätte. Dort
arbeitete er noch 16 Jahre lang. Als Laienanalytiker wurde ihm eine
psychotherapeutische Tätigkeit untersagt, so arbeitete er als
Lehranalytiker und Dozent. 1944 war er an der von Ernst Simmel
organisierten Konferenz über Antisemitismus beteiligt. Bernfeld
kämpfte auch in den USA für die Laienanalyse und fand weiterhin
Schüler. Der in Wien aufgewachsene amerikanisch-jüdische
Psychoanalytiker Rudolf Ekstein erinnerte sich an ihn als einen
scharfsinnigen, skeptischen Intellektuellen. Im Zentrum von
Bernfelds Engagement standen seine Entwürfe einer
Freud-Biographie.
Am 2. April 1953 verstarb Siegfried Bernfeld in San Francisco, er
wurde nur 60 Jahre alt. Viele Freud-Biographen zehrten noch
Jahrzehnte später von Bernfelds Forschungen. »Siegfried Bernfeld
und sein umfangreiches Werk sind weder vergessen noch verdrängt«,
konstatiert Peter Dudek, nicht frei von Pathos. Eine lesenswerte
Biographie.
Roland Kaufhold
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