Rezension zu Gesamtausgabe in 23 Bänden (SFG)
Gießener Anzeiger am 16. Januar 2015
Rezension von Stephan Scholz
Von Aalhoden bis Traumdeutung
PREMIERE Erste und bislang einzige Sigmund-Freud-Gesamtausgabe wird
in Gießen erscheinen
GIESSEN – (olz). Es ist nicht zu hoch gegriffen, von einer
Sensation zu sprechen. Denn der heimische Psychosozial-Verlag gibt
ab 2015 nicht nur die überhaupt erste Gesamtausgabe der Schriften
Sigmund Freuds in 23 Bänden heraus. Zum ersten Mal werden darin vor
allem auch die unbekannten voranalytischen Arbeiten des
Gründervaters der Psychoanalyse und eines der größten Denker des
20. Jahrhunderts gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht.
»Selbst Fachleuten sind diese frühen Schriften in vollständiger
Form nicht bekannt«, sagt Verleger Prof. Hans-Jürgen Wirth.
Bei diesen frühen Werken handelt es sich um Arbeiten aus der Zeit
zwischen 1877 und den 1890er Jahren, die sich nicht unmittelbar auf
die Psychoanalyse beziehen und bislang praktisch kaum zugänglich
waren. Ein Beispiel für diese unbekannten Texte sind die
»Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden
beschriebenen Lappenorgane des Aals« aus dem Jahr 1877. Alle diese
Arbeiten, die weit verstreut waren, sind in der neuen Edition
enthalten. »Es ist etwas Besonderes, dass in einer Ausgabe zum
ersten Mal alle Publikationen von Freud erscheinen«, unterstreicht
Wirth, der sich freut, dass dieses bislang einmalige Werk in seinem
Haus in Gießen erscheint.
Bekannt ist der Psychologe und Kulturtheoretiker: »Sigmund Freud
hatte großen Einfluss auf Kultur und Alltagsleben«, betont der
Gießener, um zu verdeutlichen, dass der Verfasser der berühmten
»Traumdeutung« nicht nur für Fachkreise eminent wichtig war und
ist. Im Gegenteil: Vorstellungen von »Fehlleistungen«, wie etwa
Versprecher, oder »Verdrängung« wurden von Freud geprägt. Und: »Er
hat die Psychoanalyse und die Psychotherapie als Wissenschaften
erfunden«, so der heimische Experte. Zwar habe es über viele
Jahrhunderte die Seelsorge gegeben, die systematisch aber
eingebettet in religiöse Systeme oder Rituale betrieben wurde. Die
strukturierte und wissenschaftliche Begründung der Seelsorge sei
erst durch den gebürtigen Freiberger Freud ins Leben gerufen
worden, erklärt Wirth. Bis heute seien alle psychotherapeutischen
Ansätze vom Wahl-Wiener beeinflusst, auch wenn sich Disziplinen wie
die Verhaltenstherapie mittlerweile auf andere Grundlagen stellten.
Diese Seite Sigmund Freuds ist bekannt, ebenso wie etwa seine
psychoanalytischen Schriften wie die »Traumdeutung«, »Jenseits des
Lustprinzips« oder »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, die
allesamt natürlich in der Gesamtausgabe aus dem Psychosozial-Verlag
enthalten sind. Herausgegeben wird das Werk, das ab Sommer
erscheint und insgesamt 1638,80 Euro kostet, von Prof. Christfried
Tögel.
»Diese neue Ausgabe wird weitere Forschungen anstoßen«, ist sich
Wirth sicher. Denn sie werde es möglich machen, das Denken Freuds,
der von Hause aus Mediziner und Physiologe war, bis zu seinen
Anfängen und in seiner Entwicklung hin zur Psychoanalyse zu
verfolgen. Allein die voranalytischen Arbeiten zu finden, sei eine
enorme Arbeit gewesen, so der Gießener, der darauf verweist, dass
sich Herausgeber Tögel seit Jahrzehnten mit der Geschichte von
Psychologie, Psychotherapie und Psychoanlayse befasst und jeden der
Bände der neuen Ausgabe mit biografischen und historischen
Informationen ausstattet. Die Veröffentlichung beginnt mit den
ersten vier Bänden mit den voranalytischen Schriften im Sommer.
www.giessener-anzeiger.de