Rezension zu Das Unbewusste

PSYCHE 11.2006 60.Jg.

Rezension von Sebastian Leikert

Die Psychoanalyse markiert einen Aufbruch des Denkens, der sich sowohl durch starke zentrifugale als auch durch entschlossene zentripetale Tendenzen auszeichnet: Auf der einen Seite entwickelten sich mit Rank, Ferenczi, Jung oder Adler sofort eigenständige Autoren, die dem psychoanalytischen Denken eigene Traditionslinien aufprägten; auf der anderen Seite bestand, beginnend mit jenem ominösen »Geheimen Komitee«, stets auch ein Zug zur gewollten Orthodoxie. Beide Tendenzen sind sinnvoll – ohne begriffliche Strenge verliert jedes Denken seine Substanz, ohne Weiterentwicklung und Austausch mit anderen Feldern des menschlichen Wissens verknöchert die Orthodoxie in der Wagenburg ihrer Grundbegriffe.

Nun ist es aber leicht gesagt: man müsse eben beiden Tendenzen ihr Recht zugestehen. Auf Stephen Mitchells Frage nach dem richtigen Umgang mit der Vielfalt psychoanalytischer Theorie antwortete Thomas Ogden: »It is easy to say that it is the analysts obligation to become conversant with multiple epistemologies and to integrate them. I think that in reality, however, the best that we can hope for is an uneasy coexistence of a multiplicity of epistemologies« (Ogden, Subjects of Analysis, S. 193).

Buchholz und Gödde legen mit dem zweiten von drei Bänden über das Unbewußte ihr Projekt vor, das dieses Spannungsfeld austrägt. »Easy« ist es sicher nicht, dieser Mittelteil eines Vorhabens, das ans Enzyklopädische grenzt. Von »uneasiness« ist jedoch ebensowenig eine Spur. In ihrem Vorwort bieten die Herausgeber ein anderen Bild an: »Psychoanalytiker machen sich selten kundig, was in den Gärten ihrer Nachbarn alles blüht, welche wissenschaftlichen Ernten dort eingefahren werden; [...] darin folgen wir gerade nicht Freud« (S. 11). Sie laden, ganz nonchalant, den Leser zu einem Gartenspaziergang ein.

Worum aber handelt es sich konkret bei diesem Buch? Buchholz und Gödde legen einen Band von Einzelarbeiten vor, bei denen jeweils vier bis acht Arbeiten zu folgenden Themen vorgestellt werden: »Neue entwicklungstheoretische Konzeptionen, Anschlüsse der Psychoanalyse an die Sozialwissenschaften, Auf den Spuren des kulturellen und gesellschaftlichen Unbewussten, Das Unbewusste in übergreifenden Denkhorizonten: Phänomenologie, Existenzphilosophie, Diskursanalyse, Ethik sowie Die Psychoanalyse im Dialog mit den modernen Naturwissenschaften.« Bei der Akquisition der Autoren profitieren Buchholz und Gödde offenbar vom gewachsenen Ruf ihrer eigener Qualität und Offenheit: Soweit für mich erkennbar, sind alle Felder mit Autoren ersten Ranges repräsentiert. Der zentrifugalen Tendenz des psychoanalytischen Denkens entspricht das Projekt, indem es sich auf andere Felder des Wissens begibt, zusammengehalten wird es durch den Begriff des Unbewußten, an dem sich jeder Aufsatz in seinem Kontext abarbeitet.

Sicherlich gibt es derzeit kein Werk, mit dem sich der Psychoanalytiker kompetenter verwirren lassen kann als mit diesem. Denn eine Verwirrung bedeutet es allemal, sich diesem »horror plenitudinis« (Fuchs, S. 348) auszusetzen, der einem aus der Vielfalt der Perspektiven entgegenfährt. Zwar hat es längst als die conditio humana des postmodernen Menschen abgespeichert, einem Zuviel-an-Vielheit ausgesetzt zu sein, aber muß sich die Vielheit, geballt zwischen zwei Buchdeckeln, denn so schwer in die eigenen Hände legen? Ist das nicht des Zuvielen zuviel?

Aber gemach, der Leser findet auch des Eigenen genug, um sich ins Buch wagen zu können. So war mir, der persönlichen Vorliebe folgend, zunächst die Frage virulent, ob denn auch genügend Lacan im Buche sei. Beruhigt darüber, daß dem so war, machte ich mich dann mit furchtloser Entschlossenheit auf, das ganz andere zu wagen, und riß, nach Jahrzehnten fröhlicher Ignoranz, meine ganz persönliche Mauer zur Physik nieder. Die Aufsätze zu Parallelen von Quantenphysik und Psychoanalyse von Görnitz u. Görnitz machten mir zum ersten Mal vorstellbar, daß die Physik vielleicht doch Modelle bereitstellen könnte, die den psychoanalytischen Diskurs bereichern.

Es kann nun nicht darum gehen, die Bereiche im Einzelnen vorzustellen oder gar zu würdigen. Lediglich die brillante Arbeit von Jan Assmann über »Das kulturelle Gedächtnis und das Unbewusste« sei erwähnt, da der Agyptologe in paradigmatischer Weise die Aufgabe des Projekts ausmißt. Ausgehend von einer These Freuds über die ägyptische Herkunft Moses und die Verarbeitungsschritte der mosaischen Gesetze durch das jüdische Volk, kritisiert Assmann die Freudschen Überlegungen vor dem Hintergrund der modernen Ägyptologie und stellt ein eigenes Konzept des kulturellen Gedächtnisses vor. Paradigmatisch ist diese Arbeit zudem, da sie das eigene Feld auch intensiv mit den Freudschen Kategorien befragt und vor allem die zentrale Frage diskutiert, ob sich das eigene Wissensgebiet die Kategorie des Unbewußten auch wirklich im Freudschen Sinne, nämlich als dynamisches und nicht bloß als deskriptives Unbewußtes, angeeignet hat.

In einem Punkt allerdings muß ich abschließend den Herausgebern widersprechen. Nein, ein Spaziergang im Garten der Nachbarn ist es nicht, dieses Buch. Vielmehr ist es eine unverschämt kompetente Herausforderung an die Grenzziehungen der eigenen professionellen und immer auch persönlichen Identität. Ein höchst dynamisches Leseerlebnis, das mit einer botanischen Beschaulichkeit für mich nichts gemein hatte. Ein Leseerlebnis, das ich, nicht ohne eine subversive Lust, jedem Leser dringend anempfehle, der für sich in Anspruch nimmt, natürlich nicht zu den orthodoxieverliebten Wagenburglern zu gehören, die sich stets nur in den Spiegeln vertrauter Konzepte bespiegeln wollen: hier kann er prüfen, ob es so ist.

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