Rezension zu Das neue Der Die Das
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Rezension von Heinz-Jürgen Voß
Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das
Lesenswerte deutlich aktualisierte Neuauflage eines
Standardwerks
Auch wer bereits die Bücher »Das große Der Die Das« (1986) oder die
erste Auflage von »Das neue Der Die Das« (2004) von Gunter Schmidt
kennt, sollte auch zur überarbeiteten Neuauflage greifen. Schmidt
trägt in der vorliegenden Neuauflage (2014) von »Das neue Der Die
Das« aktuellen Entwicklungen Rechnung. Er hat dazu Kapitel
nachhaltig überarbeitet und neue hinzugefügt.
Überblick über den Band und die Neuerungen
»Das neue Der Die Das« stellte schon in der ersten Auflage zentral
die Forschungsergebnisse der Hamburger Sexualitätsstudien mit
generationenübergreifenden Stichproben vor. Dabei werden einerseits
Wandlungen deutlich, die sich insbesondere in einem deutlichen
Knick in den 1960er Jahren zeigen – seit den 1960ern sind etwa
vorehelicher Sex und Masturbation bei Mädchen verbreiteter
geworden. Eine weitere bedeutsame Veränderung ist, dass Sexualität
nun für beide Partner_innen (bzw. alle Beteiligten) befriedigend
sein soll. Gleichzeitig ergibt die Empirie in gewissem Maße
Konstanz: Geschlechtsverkehr findet nach wie vor weitgehend in
festen Beziehungen statt (auch wenn diese in zunehmendem Maße nicht
mehr ehelich sind).
Auf Basis der empirischen Ergebnisse entwickelt Gunter Schmidt eine
gut lesbare Erzählung der Geschichte der Sexualität und der
Sexualwissenschaft. Entsprechend greifen auch in der Neuauflage die
Kapitel, die empirische Daten vorstellen und diese theoretisch
fassen, und eher grundlegende theoretische Kapitel ineinander. Der
grundlegende erläuternde Charakter wird dabei verstärkt, weil die
im Vergleich zur ersten Auflage neu hinzugefügten Abschnitte
»Abschied vom Trieb« und »Kindersexualität und sexuelle
Entwicklung« der letzteren Zuordnung entsprechen. Diese Kapitel
sind aktuell nötig, gerade vor dem Hintergrund aktueller
gesellschaftlicher Debatten um Geschlechterforschung und
Sexualpädagogik, in denen grundlegende Erkenntnisse zur
Geschlechts- und Sexualentwicklung vergessen scheinen.
»Kindersexualität und sexuelle Entwicklung«
Schon vor diesem Hintergrund ist es gut, dass Schmidt
»Kindersexualität und sexuelle Entwicklung« als Abschnitt einfügt,
die sexuellen Entwicklungskonzepte – das homologe und das
heterologe – vorstellt und Kindersexualität von
Erwachsenensexualität abgrenzt. Er führt aus:
»Die Vertreter des homologen Modells betonen strukturelle
Ähnlichkeiten von Kinder- und Erwachsenensexualität, sehen vor
allem quantitative Unterschiede, interessieren sich für die
erwachsenentypischen, para-adulten Formen kindlicher Sexualität als
Vorformen späterer Sexualität und erforschen entsprechend sexuelle
Reaktionen (Erektion, Erregung, Orgasmus), sexuelle
Verhaltensweisen (Masturbation, sexuelle Handlungen mit anderen)
aber auch psychosexuelle Phänomene (Phantasie, sexuelle Attraktion)
und soziosexuelle Aspekte (Verlieben, Schwärmen) von Kindern. […]
Die Vertreter der heterologen Sicht, vor allem
Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, bestehen dagegen auf
der Besonderheit und auf der strukturellen wie qualitativen
Unterschiedlichkeit der infantilen Sexualität. Sie sei polymorph
sinnlich, ziemlich unersättlich und durchlaufe quasi naturhaft
vorgezeichnete Phasen von den oralen Lüsten (Hautkontakt, Reizung
der Mundschleimhaut, Lutschen, Saugen, Verschlingen, Zerbeißen)
über die analen Lüste (Reizung der Analschleimhaut, Maximierung des
Gewinns aus Zurückhalten und Loslassen) bis zu den phallischen
Lüsten genitaler Stimulation.« (S. 61f) Schmidt schließt sich der
von Sigmund Freud begründeten heterologen Sicht an. Er betont:
»Kinder [haben] noch nicht die sexuellen Skripte und
Bedeutungszuschreibungen der Erwachsenen […]. Das Manipulieren der
Genitalien, selbst wenn es zu Erregung und Orgasmus führt, ist beim
Kind immer etwas anderes als die Masturbation des Erwachsenen mit
erotischen Fantasien, Szenen und Geschichten. Die heterologe
Position hingegen kann man, Volkmar Sigusch paraphrasierend, so
kennzeichnen: Das Kind begehrt, aber nicht wie der Erwachsene – und
nicht den Erwachsenen« (S. 65).
»Abschied vom Trieb«: Vom Trieb-Modell zur
Ressourcenorientierung
Neben dem Kapitel zur (frühen) sexuellen Entwicklung hat Schmidt
den Abschnitt »Abschied vom Trieb« neu hinzugefügt. Darin führt er
aus, dass sich mit der Liberalisierung auch das Verständnis der
›Ursache‹ von Sexualität gewandelt habe. »Heute verstehen und
erleben wir Sexualität nicht mehr als Trieb, der wie ein Kessel auf
dem Feuer funktioniert, sondern als Ressource, als eine (biologisch
vorgegebene) Möglichkeit für Lust-, Erlebnis- und Intimitätssuche.
Uns spätmoderne Menschen treibt nicht so sehr die Frage um, wie man
sexuelle Spannungen und Druck loswerden kann, um Ruhe zu finden,
sondern was man alles mit der Sexualität anstellen kann. […] Das
Ressourcenmodell bringt uns in einen suchenden, experimentierenden
und erfinderischen Modus gegenüber der Sexualität.« (S.37) Es geht
damit um »das elaborierte Spiel mit Erregung, Reizen und Lust, das
Genießen der Erregung.« (S.39) Eine ähnliche Feststellung macht
Jürgen Dannecker in einer Untersuchung zu Cybersex in schwulen
Chat-Räumen: Für diese stellt er eine »Entkopplung der sexuellen
Erregung von der sexuellen Befriedigung« (Dannecker im Buch
»Cybersex: Psychoanalytische Perspektiven«, hg. von Agatha Merk,
2014: S. 168) fest, »die sexuelle Erregung beim Chatten [ist]
offenbar bedeutsamer als die in den Orgasmus mündende Masturbation«
(ebd.). Diese Sicht ist interessant und wäre genauer zu
untersuchen, insbesondere darauf, ob es sich hierbei um ein neues
Phänomen handelt oder ob sexualwissenschaftliche Theoriebildung
bisher Fantasie und Suche nach Erregung zu Gunsten
funktionalistischer Konzepte der Genitalien vernachlässigt hat. So
wird auch in historischen, literarischen und weiteren
künstlerischen Stücken vielfach der lustvolle Charakter
geschlechtlichen und sexuellen Tuns hervorgehoben.
›Sexualität‹ seit der europäischen Moderne
Hieran schließt eine weitere Neuerung – in dieser Deutlichkeit – im
neu aufgelegten Buch von Schmidt an. So erläutert er, im dem
Resümee vorangehenden zehnten Kapitel, die zunehmend sich
verbreitende und in immer größerem Maße fundierte Erkenntnis, dass
die Etablierung von ›Sexualität‹ seit der europäischen Moderne eine
definitorische und kategorische Einengung der geschlechtlichen und
sexuellen Handlungsmöglichkeiten der Menschen darstellt. Wie stets
eng an empirischem Material, zeigt Schmidt, dass und wie Menschen
aktuell genötigt sind, sich entweder als heterosexuell oder als
homosexuell zu bekennen. »Das Gebot der Monosexualität ist die
Megaregel unserer sexuellen Ordnung […]. Wenn ein Schwuler seinen
Freunden erzählt, er habe lustvoll mit einer Frau geschlafen, oder
ein Heteromann berichtet, er habe eine tolle Nacht mit einem Mann
verbracht, dann herrscht im jeweiligen Umfeld dieser Männer
Aufregung und Bestürzung. Man versichert ihnen zwar, dass man alles
toleriere, aber sie müssten klarstellen, was sie sind, und wenn sie
das nicht könnten, sollten sie besser einen Therapeuten
konsultieren.« (S.122f) Das und wie dieses klar kategorisierende
Konzept aufkam, zeigte Michel Foucault – und formulierten zuletzt
und weiterentwickelt Georg Klauda in »Die Vertreibung aus dem
Serail« (Hamburg 2008) und Thomas Bauer in »Die Kultur der
Ambiguität« (Berlin 2011). Schmidt greift auf empirisches Material
zurück und verweist darauf, dass insbesondere ablesbar seit den
1990er Jahren Jugendliche durch die starren Kategorisierungen
Möglichkeiten des sexuellen Ausprobierens beraubt sind. So sind
gleichzeitig zur stärkeren Sichtbarkeit von Schwulen und Lesben in
der Gesellschaft die gleichgeschlechtlichen sexuellen Erfahrungen
von Jugendlichen (zum Beispiel gemeinsames Onanieren) deutlich
zurückgegangen (S.124); hingegen können sich sowohl Jugendliche
(vgl. die Merseburger Studie »Partner 4 – Jugendsexualität in
Ostdeutschland«, von Konrad Weller 2013) als auch junge Erwachsene
– auf letztere verweist Schmidt – lustvolle gleichgeschlechtliche
sexuelle Erlebnisse vorstellen. Während Frauen dabei
probierfreudiger seien und »weniger Aufhebens um die Etiketten
›homosexuell – heterosexuell‹« (S.132) machten, zeigten Männer mehr
»monosexuelle Verbissenheit« (ebd.).
Auch den historischen Ausgangspunkten des Wandels der Konzepte kann
man nachgehen. Für das Aufkommen von ›Sexualität‹ (und ihrer
binären Ausrichtung als andersgeschlechtlich oder
gleichgeschlechtlich) im ›modernen‹ Verständnis setzt Schmidt Karl
Heinrich Ulrichs im 19. Jahrhundert zentral. Das ist berechtigt,
aber im Buch überzeichnet. Bei Schmidts Fokussierung auf Ulrichs
geht unter, dass Ulrichs seine Ausführungen einer ›bisexuellen‹
(also ›weiblich-männlichen‹) Konstitution des Embryos bzgl. der
psychischen Eigenschaften (wie insbesondere dem sexuellen Begehren)
auf der Basis allgemeiner und weithin geteilter Erkenntnisse der
Biologie und Medizin der Zeit entwickelte, die eine ›bisexuelle
Konstitution‹ in der Entwicklung der physischen Geschlechtsmerkmale
beschrieben. Konkret mit Ulrichs: »In jedem Embryo schlummert bis
etwa zur zwölften Woche seines Daseins ein doppelter
geschlechtlicher Keim, ein männlicher und zugleich ein weiblicher.
Der Keim der Geschlechtstheile ist bis dahin bei ihm fähig, zu
männlichen Geschlechtstheilen entwickelt zu werden, zu Testikeln
ec., und zugleich fähig, zu weiblichen Geschlechtstheilen
entwickelt zu werden, zu Eierstöcken ec. […] Gleichwie nun aber in
jedem Embryo ein weiblicher Keim der Geschlechtstheile vorhanden
ist, […] ist in jedem Embryo […] auch ein Keim weiblicher
Geschlechtsliebe vorhanden […] Im nachmaligen Urning [analog zu
Homosexueller verwendet, Anm. HV] also entwickelt sich der im
Embryo schlummernde Keim der Geschlechtsliebe in weiblicher
Richtung, nicht correspondirend mit der Entwicklung, die der Keim
der Geschlechtstheile nimmt.« (Ulrichs, nach: Voß, »Biologie &
Homosexualität«, Münster 2013: S. 13)
Fazit
Das Buch »Das neue Der Die Das« ist auch in der neuen Auflage –
2014 – ein Muss. Es ist flüssig lesbar, gibt einen fundierten,
empirisch und theoretisch unterlegten, Überblick und es regt zum
Nachdenken und zu Diskussionen an. Das ist das Beste, was ein Buch
machen kann.
Rezensent
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Forschungsprofessur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
(gefördert im Rahmen der BMBF-Förderlinie Sexualisierte Gewalt in
pädagogischen Einrichtungen) Hochschule Merseburg FB Soziale
Arbeit. Medien. Kultur
Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 09.01.2015 zu: Gunter Schmidt: Das
neue Der Die Das. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 153 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2325-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/18197.php, Datum des Zugriffs
27.01.2015.
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