Rezension zu Lehrerbildung auf dem Prüfstand
Erziehungswissenschaftliche Revue – EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Rezension von Marc Willmann
Erziehungswissenschaftliche Revue – EWR 13 (2014), Nr. 6
(November/Dezember)
Georg Feuser / Thomas Maschke (Hrsg.)
Lehrerbildung auf dem Prüfstand
Welche Qualifikationen braucht die inklusive Schule?
Die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft stellt eines der
größten gesamtgesellschaftlichen Reformprojekte der Gegenwart dar.
Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten
Nationen wird mit Blick auf die Herausforderungen, die sich an ein
inklusives Erziehungs- und Bildungssystem stellen, in den
pädagogischen Fachwissenschaften seit einigen Jahren intensiv
diskutiert. Während der Fachdiskurs in erster Linie durch Beiträge
zu didaktischen und förderpädagogischen Aspekten geprägt ist, sind
Überlegungen zu den ausbildungsarchitektonischen Voraussetzungen in
der Lehrerbildung bisher nicht systematisch zusammengetragen
worden. Mit dem vorliegenden Sammelband unternehmen Georg Feuser
und Thomas Maschke den schwierigen Versuch, die unterschiedlichen
Aspekte einer anstehenden Lehrerbildungsreform zu bündeln.
Grundlage ist das Verständnis von Inklusion als allgemeines und
nicht spezielles Thema der Pädagogik. Das Werk versteht sich daher
als ein Beitrag zur Entwicklung einer »Allgemeine Pädagogik« im
Rahmen einer »Allgemeinen Lehrerbildung«, die von den Herausgebern
verstanden wird als »eine unabdingbare Notwendigkeit zur
Humanisierung und Demokratisierung von Bildung und Gesellschaft«
(8). Das Werk vereint vierzehn Beiträge, denen auf knapp 350 Seiten
reichlich Platz zugesprochen wird, um die unterschiedlichen
Perspektiven detailliert zu entfalten. Die einzelnen Beiträge sind
drei Themenbereichen zugeordnet: A) Grundsatzbeiträge, B) Aspekte
zum Thema und C) Persönliche Dimensionen, erfahrungsbezogene
Beiträge. Der Umstand, dass zehn der insgesamt vierzehn Beiträge
dem inhaltlich unspezifischen Themenkapitel B) zugeordnet wurden,
zeugt von einer Unterstrukturierung des Sammelbandes, verweist
zugleich aber auch darauf, wie vielschichtig das Thema einer
inklusiven Lehrerbildungsreform betrachtet werden kann.
Zu den einzelnen Beiträgen:
Die ersten einführenden Beiträge zum Sammelband verstehen sich als
grundlegender Problemaufriss. Dabei formuliert Georg Feuser auf 66
Druckseiten – vom Umfang her in keinem Verhältnis zu den weiteren
dreizehn Beiträgen des Sammelbandes stehend – eine umfassende
Blaupause für eine inklusive Lehrerbildungsreform, die sich ganz
wesentlich auf die vom Autor selbst vertretene »Allgemeine
Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik« gründet. Die ersten
rund dreißig Seiten widmet der Autor einer kritischen, teilweise
vernichtenden Kritik zur gegenwärtigen Lage der
Lehrer/-innen-Bildung. Dabei wird insbesondere der Pädagogik »ein
hochgradiges fachwissenschaftliches Versagen« vorgeworfen (16), da
einerseits eine hinreichende wissenschaftliche Bestimmung von
Inklusion und den hierfür notwenigen pädagogischen Qualifikationen
und Kompetenzen versäumt worden sei (17) und sie sich andererseits
willfährig den »restriktiven staatlichen Vorgaben und Kontrollen
seitens der Bildungspolitik und [den] Mechanismen einer willkürlich
agierenden Bildungsadministration« unterwerfe. Eine der zentralen
Thesen des Autors liegt in der Kritik der Entpolitisierung der
Integrationsbewegung, der vorgeworfen wird, »sich selbst nur noch
von der Segregation her und in diesem System agierend zu denken.
Damit betreibt und stärkt sie aber unvermittelt die Sache, gegen
die sie angetreten ist und für die die großen Elternbewegungen auf
die Straße gegangen waren ...« (23). Auf den anschließenden dreißig
Seiten konkretisiert Feuser seine Vorstellungen zur inklusiven
Lehrerbildungsreform. Kerngedanke ist, dass Inklusion als
»Allgemeine Pädagogik« im Rahmen einer »Allgemeinen Lehrerbildung«
zu denken sei und somit nicht als Spezialisierung innerhalb der
Lehrerbildung missverstanden werden sollte (42). Der Autor stellt
fünf Thesen zur inklusiven Lehrerbildungsreform auf, die den
Hochschulen und Universitäten bei der Umsetzung der
Behindertenrechtskonvention eine besondere Verantwortung
zuschreiben und schließlich in den Empfehlungen für ein inklusives
Projektstudium münden.
Reinald Eichholz diskutiert in seinem ebenfalls umfangreichen
Beitrag die »Streitsache Inklusion« aus rechtlicher Sicht. Zentrale
Begriffskonzepte wie Menschenwürde, Diskriminierungsverbot,
inklusives Bildungssystem sowie Partizipation und Vorrang des
Kindeswohls werden phänomenologisch interpretiert. Die Ausführungen
zielen darauf, zu einer Verständigung zwischen der auf
Menschenrechte begründeten Argumentation und einer inklusiven
Pädagogik beizutragen (67). Die Analyse führt unter anderem zu der
Klarstellung, dass die aktuell diskutierten menschenrechtlichen
Prinzipien kein erzieherisches Konzept implizierten und die Frage
der pädagogischen Umsetzung von der Pädagogik in Wissenschaft und
Praxis definiert werden müsse (91); ein Aspekt, dem in der
inklusionspädagogischen Diskussion bisher wenig Beachtung geschenkt
worden sei. »Grundsätzliche Kritik ist deshalb angebracht, wenn
rechtlich vorgegeben wird, was und wie gelernt werden soll, solange
nicht Inhalte vermittelt werden oder Strukturen herrschen, die als
solche ein Verstoß gegen die Menschenwürde und unveräußerliche
Menschenrechte sind« (91). Die differenzierten Ausführungen führen
zu einer ausgewogenen Einschätzung: »Wie Kindern – unabhängig von
der Frage einer Behinderung – individuell gerecht zu werden ist,
kann pädagogische Binnendifferenzierung in der Lerngruppe ebenso
erfordern wie äußere Differenzierung z. B. durch die Bildung von
›Lerninseln‹ (...) So bedarf es pädagogischer Fantasie, die weder
an zwanghafter Gemeinsamkeit klebt, noch außer Acht lässt, dass
alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, durch die Gemeinsamkeit
gefördert werden« (92).
Christiane Drechsler erweitert den Blick auf die schulische
Inklusion um den Aspekt der Sozialraumorientierung. Ausgehend von
der grundsätzlichen Fragestellung (19): »Ist Inklusion nicht ein
Konzept für alle Lebensräume? Und: Was trägt ein inklusiver
Sozialraum zum Gelingen inklusiver Schulen bei?«) plädiert die
Autorin für ein umfassendes Begriffskonzept von
Gemeinwesenorientierung, vor dessen Hintergrund sie die
Zusammenhänge zwischen Sozialraumorientierung und inklusiver
Schulentwicklung herausarbeitet.
Fragen der Fort- und Weiterbildung für schulische Inklusion werden
von Ulrike Barth behandelt. Die Ausführungen nehmen ihren
Ausgangspunkt in der Kritik der gegenwärtig zunehmenden Praxis an
den Lehrerbildungsstätten, inklusive Lehrerbildung durch das
additive Zusammenführen der bisher nach Schularten getrennten
Lehramtsstudiengänge mit den Studiengängen der sonderpädagogischen
Lehrerbildung betreiben zu wollen. Aus Sicht der Autorin liegt
diesem Trend ein Missverständnis zugrunde. Inklusive Lehrerbildung
sei hingegen als ein »Paradigmenwechsel« zu verstehen, der auf
einer grundsätzlichen Zuständigkeit aller Lehrer für alle Schüler
basiere (134). Vorgestellt wird ein Curriculum für die inklusive
Lehrerbildung, das sechs Studienmodule mit folgenden Inhalten
umfasst: 1. Philosophisches Grundwissen; 2. Grundlagenwissen über
kindliche Entwicklung; 3. Prozessdiagnostik; 4. Didaktische
Konzepte und methodische Umsetzung; 5. Kooperation in
multiprofessionellen Teams und Zusammenarbeit mit den Eltern; 6.
Praxisorientierung. Für die Weiterbildung von Lehrkräften zum Thema
inklusive Schulentwicklung werden äquivalente Bausteine
vorgestellt.
In einem der kürzesten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes
stellt Götz Kaschubowski einige Überlegungen zum
Praxis-Theorie-Verhältnis in der Ausbildung vor. Die Bedeutung der
Praxisforschung im Kontext der Lehrerbildung wird anhand der
praktischen Erfahrungen in der Ausbildung von Lehrkräften für
Waldorfschulen und anthroposophisch-heilpädagogische sowie
integrative Waldorfschulen erörtert.
Eine soziologische und ökonomische Perspektive auf den inklusiven
Unterricht nimmt Heinrich Greving ein. Er betrachtet Schule und
Unterricht als Abbild der Gesellschaft und diskutiert die Ökonomie
des Wissens und der Bildung aus wissenssoziologischem Blickwinkel.
Die Überlegungen werden abschließend in ihren pädagogischen
Implikationen zusammengefasst. Der Auftrag lautet demnach »Bildung
als Weg und Ziel der Inklusion zu spezifizieren und zu fokussieren«
(176), wobei der Autor die Notwendigkeit eines umfassenden
Bildungsbegriffs unterstreicht (ebd.).
Die vielfältigen Herausforderungen, die sich vor dem Hintergrund
der aktuellen Reform der Lehrerbildungsgänge in Österreich stellen,
werden von Ewald Feyerer dargelegt. Ein besonderer Schwerpunkt wird
hierbei auf inhaltlich-curriculare sowie
studiengangsarchitektonische Fragen gelegt. Inklusion ist demnach
zukünftig als ein zentraler Bestandteil aller Lehramtsstudiengänge
zu verankern; eine Spezialisierung auf sonderpädagogische
Fragestellungen wird nicht mehr in einem eigenständigen Studiengang
abgebildet, sondern ist als ein Vertiefungsschwerpunkt in den
Lehrämtern, zunächst kreuzkategorial im Bachelorstudium mit
anschließender kategorialer Vertiefung im Masterstudium.
Wie ambitioniert und inklusiv ausgerichtet die österreichischen
Zielsetzungen sind, wird deutlich im direkten Vergleich zur
aktuellen Situation im Land Baden-Württemberg. Wie Theo Klauß in
seinem Beitrag nüchtern feststellt, wurde mit der Einführung der
neuen Prüfungsordnungen nicht nur versäumt, inklusionspädagogische
Inhalte in alle Lehrämter verpflichtend einzubringen, sondern
gleichzeitig ist Sonderpädagogik als grundständiger Studiengang neu
eingeführt worden. Die gegenwärtige Lehrerbildungsreform in
Baden-Württemberg zeigt demnach in eine diametral gegensätzliche
Richtung zu den von Feyerer exemplifizierten österreichischen
Reformplänen.
Ebenfalls aus Österreich stammt der Bericht von Marianne Wilhelm
über die Implementation und Evaluation eines innovativen
Ausbildungslehrgangs »Empowermentberater/in für inklusive
Schulentwicklung« an der Pädagogischen Hochschule in Wien. Das
Projekt zielt durch den Einbezug »Betroffener« darauf, bereits in
der ersten Ausbildungsphase Begegnungen zwischen erwachsenen
Menschen mit Beeinträchtigung und Studierenden zu ermöglichen.
Auch der Beitrag von Carmen Dorrance fordert den Einbezug der
Perspektive von Betroffenen – hier die Elternperspektive – in die
Lehreraus- und -fortbildung. Die Autorin hält es für »politisch
unverantwortlich und pädagogisch fragwürdig«, Inklusion zu
verordnen, ohne die Akteure hierauf vorzubereiten, wobei
entsprechende Weiterbildungskonzepte nicht primär die Vermittlung
sonderpädagogischer Fachkompetenzen zum Ziel haben sollten, sondern
grundlegende Aspekte beinhalten müssten wie »Wertschätzung von
Vielfalt, Erkennen individueller Lernfortschritte, Prinzipien
individueller Förderung durch Binnendifferenzierung des
Unterrichts, Identifikation von Lern- und Teilhabebarrieren,
Ausbildung von selbstreflexiven Kompetenzen, Identifikation von
Differenzsetzungen, Umgang mit Diversität etc.« (262f).
Didaktische Fragen der Inklusion werden von Kerstin Ziemen
behandelt. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht – wie im Titel
des Beitrags angekündigt – die Notwendigkeit der »Reflexion
komplexer Unterrichtsprozesse« als Voraussetzung für inklusiven
Unterricht.
Die Reflexion stellt auch für Marion Baldus das Kernelement
pädagogischer Professionalität dar. Dabei wird der pädagogischen
Beziehungsarbeit ein großer Stellenwert für die Schaffung
inklusiver Lernumgebungen eingeräumt. Im Mittelpunkt des Beitrags
steht eine Fallvignette aus einem Studienprojekt zur individuellen
Sprachförderung an der Hochschule Mannheim, das eindrucksvoll die
Bedeutung einer »wertschätzende(n) pädagogische(n) Beziehung für
die Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung für Kinder im
Vorschulbereich« (294) belegt. Die von Baldus geforderte
professionelle Reflexion gründet sich auf einen verstehenden Zugang
zur pädagogischen Beziehungsgestaltung, der sich aus
psychoanalytischen und systemisch-konstruktivistischen
Referenztheorien ableitet.
Der Beitrag von Eva Prammer-Semmler und Wilfried Prammer diskutiert
die gesetzlichen Grundlagen und die gegenwärtige Praxis im
Arbeitsfeld der pädagogischen Schulassistenz in Oberösterreich.
Herausgearbeitet werden die zahlreichen Widersprüche und
Spannungen, die dem Assistenzkonzept in seiner gegenwärtigen
Ausgestaltung zugrunde liegen. Der Beitrag schließt mit einigen
Lösungsvorschlägen für die Weiterentwicklung des Konzepts.
Im abschließenden Beitrag berichtet Thomas Maschke über die
Bedeutung kommunikativer Strategien in der Bearbeitung und
Reflexion von Rollenkonflikten im Lehrerberuf im Kontext der
sonderpädagogischen Beratungsarbeit und Lehrerfortbildung. Der
Autor sieht die Kompetenzen zur Reflexion der eigenen Beziehungs-
und Kommunikationsstrukturen als eine der zentralen Fähigkeiten von
»(heil)pädagogisch kompetenten« Lehrkräften (338). In den weiteren
Ausführungen wird der »Dialog als Mittel der Entgrenzung« (340ff)
mit Blick auf die verschiedenen »Beziehungspartner« von Lehrkräften
diskutiert. Die »Innen- und Außenbeziehungen von Lehrern« (340)
werden hierbei als innerer Dialog, als Dialog zwischen Lehrern und
Schülern, als kollegialer Dialog sowie als Dialog zwischen Lehrern
und Eltern betrachtet.
Zusammenfassung:
Die inklusive Lehrerbildungsreform erweist sich als eine
gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Der vorliegende Sammelband
vereint theorie- und praxisbezogene Beiträge aus der pädagogischen
Fachdiskussion im deutschsprachigen Raum. Dabei werden gezielt auch
pädagogische Handlungsfelder jenseits der Schule einbezogen und
interdisziplinäre Fragestellungen (etwa soziologische und
rechtsphilosophische Perspektiven sowie bildungspolitische und
-administrative Problemstellungen) diskutiert. In der Gesamtschau
vermitteln die vorliegenden Beiträge den dringenden Appell, die
fachwissenschaftlich fundierten Analysen zur Lehrerbildungsreform
in die bildungspolitische Realität umzusetzen und die gegenwärtig
hektisch einsetzenden Reformen in den einzelnen Ländern nicht zu
einem Etikettenschwindel werden zu lassen. Bei der Komplexität des
Reformprojekts mag es verzeihlich erscheinen, wenn der Sammelband
etwas unterstrukturiert erscheint und eine klarere thematische
Zuordnung der einzelnen Beiträge vermissen lässt. Die
Zusammenstellung der ausgewählten Texte des vorliegenden
Sammelbandes verdeutlicht eindringlich und facettenreich die
unterschiedlichen Dimensionen und Aspekte, insbesondere aber auch
die innere Widersprüchlichkeit auf dem Weg zu einer inklusiven
Reform der Lehrerbildung.
Marc Willmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marc Willmann: Rezension von: Feuser, / Maschke, Thomas Georg
(Hg.): Lehrerbildung auf dem Prüfstand, Welche Qualifikationen
braucht die inklusive Schule?Gießen: Psychosozial-Verlag 2013. In:
EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL:
http://www.klinkhardt.de/ewr/978383792300.html
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