Rezension zu Analytische Sozialpsychologie
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Rezension von Thomas Damberger
Helmut Dahmer (Hrsg.): Analytische Sozialpsychologie. Texte aus den
Jahren 1910-1980
Thema
Die Textsammlung spannt thematisch einen weiten Bogen. Sie befasst
sich mit der Freud’schen Kultur- und Massentheorie, mit
psychoanalytischen Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen
in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, mit Überlegungen zur
Massenbewegung des Nationalsozialismus und mit
sozialpsychologischen Beiträgen aus der Nachkriegszeit.
Herausgeber
Helmut Dahmer, Prof. Dr., Jahrgang 1937, lehrte von 1974 bis 2002
Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. In den Jahren
1968–1992 war er zuerst leitender Redakteur, später dann
Mitherausgeber der psychoanalytischen Monatszeitschrift »Psyche«.
Mitte der 1980er Jahre gehörte Dahmer dem Wissenschaftlichen Beirat
des Hamburger Instituts für Sozialforschung an. 2012
veröffentlichte der Verlag Westfälisches Dampfboot Dahmers aktuelle
Monografien »Die unnatürliche Wissenschaft« und »Interventionen«.
Dahmer lebt gegenwärtig als freier Publizist in Wien.
Entstehungshintergrund
»Analytische Sozialpsychologie« ist die Wiederauflage einer lange
vergriffenen Sammlung von Grundlagentexten aus sieben Jahrzehnten.
Die Textsammlung erschien erstmals 1980 im Suhrkamp Verlag.
Aufbau und ausgewählte Inhalte
Die Publikation besteht aus vier Teilen mit insgesamt 35 Texten und
einem Nachwort des Herausgebers. Teil 1–3 befindet sich in Band 1,
der umfangreiche 4. Teil ist in einem separaten Band 2 gedruckt.
Die Texte sind chronologisch angeordnet. Im Folgenden werden
exemplarisch einzelne Texte vorgestellt.
Im ersten Teil wird anhand der Texte von Sigmund Freud, Sándor
Ferenczis und des Herausgebers die Freudsche Kultur- und
Massentheorie vorgestellt. In »Die Zukunft einer Illusion« zeigt
Freud auf, dass jede Kultur auf zwei Momenten beruht: das eine
Moment ist der Arbeitszwang, das andere der Triebverzicht. Die
große Mehrheit der Mitglieder einer Kultur sind nicht privilegiert,
arbeiten hart und in erster Linie zum Wohle der wenigen
Privilegierten und leiden unter dem Triebverzicht in besonderer
Weise. Eine Kultur ist daher stets durch »Auflehnung und
Zerstörungssucht der Kulturteilnehmer« (Bd. 1., 56) bedroht.
Auflehnung- und Zerstörungstendenzen begegnet eine Kultur durch
Verbote, von denen die ältesten sich auf das Verbot des Inzest-,
Kannibalismus- und Mordtriebs beziehen.
Die Weiterentwicklung der menschlichen Seele zeigt sich, so Freud,
in dem Maße, wie diese äußeren Zwänge verinnerlicht wurden. Die
Instanz der Seele, die für diese Verinnerlichung Pate steht, ist
das Über-Ich (vgl. Bd.1, 57). Jenseits der genannten Urtriebe
existiert eine Tendenz, anderen Menschen durch Lüge, Habgier,
Aggression, Betrug etc. zu schaden, und jene Tendenz würde, so
Freud, sichtbar werden, wäre nicht die ebenfalls kulturell erzeugte
Angst vor der Strafe vorhanden (vgl. Bd.1, 58). Wird nun die
Unzufriedenheit insbesondere der Unterprivilegierten, also jener,
die für den Wohnstand der Privilegierten sorgen, ohne von den
Früchten ihrer Arbeit hinreichend zu profitieren, zu groß, so
besteht die Gefahr, dass die Zerstörungstendenzen innerhalb einer
Kultur durchbrechen und die Kultur selbst zerstören (vgl.
ebd.).
Die Vorsichtsmaßnahmen, welche die Kultur entwickelt, um es nicht
zu einer derartigen Entladung zerstörerischer Kräfte kommen zu
lassen, sieht Freud zum einen in der narzisstischen Befriedigung,
die sich aus dem Kulturideal ableitet, an dem nicht nur die
Bevorzugten, sondern auch die Unterdrückten Anteil haben. Das Ideal
der eigenen Kultur wird hochgehalten und gegen die Ideale anderer
Kulturen als wertvoller abgegrenzt: »Man ist zwar ein elender, von
Schulden und Kriegsdiensten geplagter Plebejer, aber dafür ist man
Römer, hat seinen Anteil an der Aufgabe, andere Nationen zu
beherrschen und ihnen Gesetze vorzuschreiben.« (Bd. 1, 59). Eine
zweite von der Kultur hervorgebrachte Erscheinung, um ihren
sicheren Fortbestand zu gewährleisten, ist die Kunst, die als
Ersatzbefriedigung fungiert und durch die gemeinsam erlebte, hoch
eingeschätzte Empfindung Identifizierungsgefühle der Angehörige des
Kulturkreises evoziert (vgl. Bd. 1., 60).
Der zweite Teil behandelt psychoanalytische Reaktionen auf die
gesellschaftlichen Entwicklungen in der Zeit zwischen der
Novemberrevolution und der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Erich Fromm zeigt in »Politik und Psychoanalyse« auf, warum es ein
Fehlschluss ist, anzunehmen, gesellschaftliche Missstände könnten
auf analytischem Wege beseitigt und somit weganalysiert werden
(vgl. Bd. 1, 150). Während beim einzelnen Menschen das individuelle
Schicksal für die Lebensweise und Sichtweise auf das Leben prägend
ist, gilt für die Gesellschaft, »daß die Ökonomie ihr Schicksal
ist« (Bd. 1, 151; im Original kursiv). Hier verweist Fromm auf den
historischen Materialismus, der das gesellschaftliche Geschehen aus
den ökonomischen Bedingungen heraus versteht (vgl. ebd.).
Der Gegensatz zwischen der Psychoanalyse einerseits und dem
historischen Materialismus andererseits bestehe darin, so Fromm,
dass im Falle der Psychoanalyse dem Sexuellen eine führende Rolle
zukomme, wohingegen im Falle des historischen Materialismus die
ökonomischen Interessen die gesellschaftlichen Bedingungen bestimme
(vgl. ebd., 152). Diesen Gegensatz interpretiert Fromm als
Missverständnis. Einer von mehreren Gründen für dieses
Missverständnis besteht darin, dass es sich beim historischen
Materialismus nicht um eine psychologische Kategorie, sondern um
eine »rein sozialökonomische (...) Erscheinung (...) (handelt), die
die Bedingung aller menschlichen Aktionen darstellt« (ebd., 153).
Wenn daher Massen sich quasi-neurotisch verhalten, ist dies nicht
durch Analysieren zu beseitigen (wohl aber besser zu verstehen),
sondern allein durch die »Veränderung und Beseitigung eben jener
Lebensbedingungen« (Bd. 1, 156; im Original kursiv) zu beheben.
Das Hauptthema des dritten Teils ist das Verständnis der
massenfeindlichen NS-Massenbewegung. Als ein Spezifikum kann hier
das Thema Macht bestimmt werden. Dass Macht sehr eng mit Geld und
dem damit einhergehenden Bereicherungstrieb verwoben ist, macht
Otto Fenichel in seinem Text mit der Überschrift »Der
Bereicherungs-Trieb« deutlich. Auf die Frage, warum Menschen sich
überhaupt bereichern wollen, antwortet Fenichel mit Verweis auf
mehrere Motive, die er im Einzelnen durchdekliniert. Dass ein
Mensch mehr Bedürfnisse befriedigen kann, je mehr Geld er besitzt,
erweist sich nur scheinbar als ein rationales Motiv. Fenichel
arbeitet das schnell heraus, wenn er betont: »Bei einem Menschen,
der tatsächlich rational orientiert wäre, fände sich kein
Bereicherungstrieb, sondern nur ein verständiges Ich, das [sich]
seiner Bedürfnisse bewußt wäre und selbst in einer Phase, wo sie
latent wären, dafür Vorsorge trüge, daß im Bedarfsfall eine
optimale Befriedigungsmöglichkeit gegeben wäre.« (Bd. 1, 200).
In Anlehnung an Nietzsche wird der Wille zur Macht als ein
besonderes Motiv des Triebs nach Bereicherung extrahiert.
Symptomatisch für den Machtwillen ist im Kontext des
Sich-Bereichern-Wollens der Wunsch nach dem Gefühl, von anderen
respektiert und geachtet zu werden, eben weil man über die Mittel
verfügt, (in besonderer Weise) am gesellschaftlichen Leben und der
Gestaltung der Gesellschaft partizipieren zu können: »Das
ursprüngliche Triebziel sind nicht die Reichtümer, sondern der
Wunsch, Macht und Achtung anderer Menschen um seiner selbst zu
genießen.« (ebd., 204). Dabei wird deutlich, dass »erst eine
Gesellschaft, in der Macht und Achtung auf Geldbesitz beruhen, […]
aus diesem Bedürfnis nach Macht und Achtung ein Bedürfnis nach
Reichtum« (ebd.) macht.
Das Besitzstreben als zusätzliches Motiv wird von Fenichel als ein
besonders irrationaler Sammeltrieb und als narzisstischer Wunsch,
den eigenen Ich-Bereich größtmöglich auszudehnen, interpretiert.
Als eine besondere Form des körperlichen Narzissmus ist das
Besitzen-wollen zugleich Ausdruck einer tiefsitzenden Angst vor der
Verletzung des eigenen Körpers, in seiner schärfsten Ausprägung
also eine Kastrationsangst (vgl. ebd., 205). Übersetzt könnte man
sagen: Erkenne mich an und achte mich und meinen Körper, ferner
meine Integrität und Unverletzlichkeit. Auf diese Weise würde man
der von Fenichel bedeuteten Verbindung vom Wille zur Macht und dem
Besitzstreben gerecht werden. Zuletzt verweist Fenichel auf die
gesellschaftliche Matrix des Bereicherungstriebs und arbeitet
durchaus pointiert die Wechselwirkung zwischen der äußeren Realität
(bestimmte ökonomische und damit produktionstechnische Bedingungen)
und einer durch diese modifizierte Triebstruktur heraus (vgl. ebd.,
215ff.)
Im vierten Teil rücken sozialpsychologische Beiträge aus der
Nachkriegszeit ins Zentrum. Hier geht es vorwiegend darum, die
Verfassung von Individuen zu charakterisieren, die sich im Rahmen
einer aufblühenden Wirtschaft, die sich zugleich gegen einen
qualitativen sozialen Wandel absichert, bewegt. So unternimmt
Herbert Marcuse in »Aggressivität in der gegenwärtigen
Industriegesellschaft« den Versuch, die »Spannungen und Belastungen
in der sogenannten ›Gesellschaft im Überfluß‹« (Bd. 2, 452)
darzustellen. Eine derartige Gesellschaft zeichnet sich aus durch
hochentwickelte industrielle und technische Kapazitäten, durch
einen steigenden Lebensstandard, an dem alle Schichten teilhaben,
eine starke Konzentration ökonomischer und politischer Macht und
durch die Erforschung des Verhaltens von Einzelnen und Gruppen in
Arbeit und Freizeit (vgl. ebd.). Ausgehend von einer Darlegung
dessen, was als »Normalität« gelten kann, definiert Marcuse das,
was er als »kranke Gesellschaft« postuliert (ebd., 455). Die für
die Überflussgesellschaft symptomatische systematische Kontrolle
und Steuerung der Psyche fasst nicht nur die Psyche der
Gesellschaft, sondern über die Gesellschaft den Einzelnen. Bis ins
Individuum vorgedrungen ist der »Grad [der] psychischen Gesundheit
und Normalität nicht mehr Sache des Einzelnen, sondern der
Gesellschaft« (ebd., 457). Damit überträgt sich, laut Marcuse, auch
der Widerspruch der sozialen Struktur(en) auf die psychische
Struktur des Einzelnen. Aus einem derartigen fundamentalen
Widerspruch entspringt Aggressivität, die sich einerseits in einer
»Enthumanisierung des Produktions- und Konsumprozesses« (ebd., 460)
zeigt, andererseits aber auch in einem »Zustand der Überfüllung,
des Lärms und des unfreiwilligen Zusammenseins« (ebd., 461) und
zuletzt in der Sprache, derer sich Mensch und Gesellschaft
bedienen.
Die andere Seite, und dies ist (nicht nur) gewissermaßen der Motor
der Überflussgesellschaft, besteht darin, dass die Aggressivität,
ökonomisch nutzbar gemacht, zu einer fortreichenden und
fortschreitenden Produktivitätssteigerung führt, was aber – und
hier rekurriert Marcuse eindeutig auf Freud – um den Preis der
totalen Zerstörung des Einzelnen (und damit auch der Gesellschaft
insgesamt) geschieht (vgl. ebd., 469).
Fazit
Die vorliegende Textsammlung ist freilich nichts Neues, neu ist
lediglich die Tatsache ihrer Wiederauflage. Gelungen ist das
Arrangement, sprich: die Auswahl und chronologische Anordnung der
Texte. Damit wird nicht nur ein Einblick oder besser: eine
Interpretation der Entwicklung der analytischen Sozialpsychologie
ersichtlich, sondern auch – und darin liegt die besondere Stärke
der beiden Bände – die Aktualität erkennbar. So lassen Otto
Fenichels Ausführungen zum Bereicherungstrieb offenkundig
Parallelen zur derzeitigen Finanzkrise erkennen und Freuds Analyse
der Massenpsychologie lässt besonders angesichts der
PEGIDA-Bewegung aufhorchen. Auch die in dieser Rezension aus
Platzgründen nicht eigens erwähnten Texte – beispielsweise Silvia
Amatis »Reflexionen über die Folter« – bieten äußerst hilfreiche
Erklärungsansätze für derzeitige (nicht neue, aber immer noch und
immer wieder) aufscheinende gesellschaftliche, ökonomische und
politische Phänomene. Die zweibändige Textsammlung richtet sich in
ersten Linie an Studierende und Wissenschaftler/innen der
Sozialwissenschaften.
Rezensent
Dr. Thomas Damberger
Zitiervorschlag
Thomas Damberger. Rezension vom 16.01.2015 zu: Helmut Dahmer
(Hrsg.): Analytische Sozialpsychologie. Texte aus den Jahren
1910-1980. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 732 Seiten. ISBN
978-3-8379-2237-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/18276.php, Datum des Zugriffs
28.01.2015.
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