Rezension zu Unpolitische Wissenschaft? (PDF-E-Book)
DAS ARGUMENT 310/2014
Rezension von Fritz Reheis
Peglau, Andreas, Unpolitische Wissenschaft?
Wissenschaft soll neutral, also unpolitisch sein, heißt es oft.
Andererseits soll sie dem Menschen nützen, für seine Würde
Partei ergreifen. Wie sind beide Forderungen in Einklang zu bringen
– vor allem in den Humanwissenschaften, die in einem besonders
engen Verhältnis zu einer an der Menschenwürde ausgerichteten
Praxis stehen? Ist eine ›neutrale‹ Humanwissenschaft überhaupt
möglich oder eher eine Quadratur des Kreises? Diese
grundsätzliche Frage stellt sich verschärft unter den Bedingungen
offensichtlich inhumaner Verhältnisse. Am Beispiel der
Psychoanalyse zur Zeit des Nationalsozialismus hat Verf.,
Psychotherapeut und Psychoanalytiker in Berlin, in seiner
medizinhistorischen Dissertation rekonstruiert, was passiert, wenn
sich eine humanwissenschaftliche Disziplin in inhumanen Zeiten
durch das Bekenntnis zur Neutralität zu retten versucht. Am Fall
Wilhelm Reich zeigt er, was mit jenen Wissenschaftlern geschieht,
die sich einem solchen Rettungsversuch verweigern. Durch das
intensive Studium nicht nur der Sekundärliteratur, sondern auch
von bisher unveröffentlichtem Archivmaterial gelingt ein
eindrucksvolles Kapitel Zeitgeschichtsschreibung, das die
Problematik des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik
exemplarisch erhellt und zudem Fragen in Bezug auf unsere Gegenwart
aufwirft.
Eines der zentralen Dokumente dieses Aspekts der deutschen
Medizingeschichte ist das von zwei Vorstandsmitgliedern der
Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) im Sommer 1933
ausgearbeitete Memorandum, das im Oktober 1933 überarbeitet in der
NS-Zeitschrift Der Reichswart erschien. Nachdem auch Freuds
Schriften Opfer der Bücherverbrennungen geworden waren, habe sich
die DPG gezwungen gesehen, sich in den Dienst der neuen Machthaber
zu stellen und so nicht nur die eigene Organisation, sondern auch
die therapeutische Arbeit zu retten. In diesem Memorandum heißt es:
»Die Psychoanalyse bemüht sich nicht allein – auf körperlichem
Gebiete – sexuell unfähige Menschen zu sexuell fähigen zu machen,
sondern überhaupt auf allen Gebieten des Menschen unfähige
Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu
Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den
Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen
Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen,
liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes- und
opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am
Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende
Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten
Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden
Lebensauffassung neu zu dienen.« (427) Verf. sieht in diesem
Memorandum die Grundlagen jener »Neuen Deutschen Seelenheilkunde«
formuliert, die sich nicht nur der Stärkung der »arischen Seele«,
sondern nach 1939 auch konsequenterweise der »tiefenpsychologischen
Kriegsführung« verschrieb. Bezeichnend für das Selbstverständnis
der Psychoanalyse, wie sie in diesem Dokument zum Ausdruck kommt,
ist für Verf. die Tatsache, dass es auch im Präsidium der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) offenbar große
Zustimmung zu dieser Standortbestimmung gab. Und bezeichnend sei
zudem, dass einer der Autoren des Memorandums, Carl
Müller-Braunschweig, offenbar auch unter den Mitgliedern der IPV
auf keinerlei Kritik gestoßen sei und 1950 sogar zum Vorsitzenden
der neugegründeten Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung
gewählt wurde, die von der IPV als Mitgliedsorganisation anerkannt
war. Zu dieser vermeintlich unpolitischen Grundhaltung passt, so
Verf., dass Psychoanalytiker sich in den Jahrzehnten nach
Kriegsende in Lateinamerika diktatorischen Regimen als Berater und
Ausbilder zur Verfügung stellten und in den USA in
Geheimdienstprogrammen an inhumanen Menschenversuchen beteiligt
waren. Und so kann es auch nicht verwundern, dass die
psychoanalytischen Organisationen zu den Verbrechen des
Vietnam-Kriegs, zur Unterdrückung von Minderheiten, zur Gewalt
gegen Kinder und zur Massenarbeitslosigkeit von Jugendlichen bis
heute geschwiegen haben. Verf. führt diese Haltung auf ein
Verständnis von Psychoanalyse zurück, das in ihr letztlich eine
rein naturwissenschaftlich fundierte Technik der Behandlung
psychischer Krankheiten sieht und die in ihren Anfängen noch
geübte Gesellschaftskritik längst entsorgt habe.
Genau hier ging Wilhelm Reich einen anderen Weg, weswegen er 1933
aus der DPG und damit auch aus der IPV ausgeschlossen worden sei.
Reich habe sich früh in der Sozialdemokratie, dann in der
Kommunistischen Partei engagiert, für die er aber aufgrund seiner
stark psychoanalytisch ausgerichteten Faschismustheorie – die er
bald auch auf den Stalinismus übertrug – ebenfalls untragbar
geworden sei, ehe er zunächst nach Skandinavien, dann in die USA
emigrierte. Für Reich sei die patriarchalische Familie als
Keimzelle des Staates der Nährboden, auf dem sich die
Massenpsychologie von Faschismus und Stalinismus herausbilden
konnte. Nicht ein angeborener Todestrieb, wie er von Freud
unterstellt wurde, sondern die autoritäre Unterdrückung der
Lebens- und Liebesenergie und die dadurch erzwungene
Unterwerfungsbereitschaft des Menschen seien für die Barbareien in
Deutschland verantwortlich. Vor 1933 habe Reich jahrelang versucht,
motiviert einerseits durch sein positives Bild vom Menschen,
andererseits durch seine Kritik der gesellschaftlichen Strukturen,
durch sein sexualpolitisches Engagement für bessere Aufklärung
und lustförderliche Lebens- und Wohnbedingungen zu sorgen.
Dass auch die KPD mit Reich brach, ist sowohl aus
zeitgeschichtlicher wie auch aus psychoanalytischer Perspektive von
besonderem Interesse. Immerhin, so Verf., sei Reich längere Zeit
als beliebter Dozent an der von der KPD betriebenen Arbeiterschule
in Berlin tätig gewesen und habe besonders im Kommunistischen
Jugendverband eine hohe Wertschätzung erfahren. Die Dokumente zum
Verhalten des Parteivorstands im Vorfeld des Parteiausschlusses
offenbaren ein Gemisch aus parteitaktischen Argumenten und
schlichter Borniertheit. Man habe in der Führung der KPD offenbar
befürchtet, dass der sexualpolitische Kampf vom Klassenkampf als
dem einzig bedeutsamen Kampf ablenken, dass Reichs Vorstellungen
die Generationen und Familien spalten und dem Ansehen der Partei
vor allem im Zusammenhang mit dem Ziel der Gewinnung von Christen
schaden könnten. Und überhaupt: Orgasmusstörungen seien eine
»bourgeoise Sache« (Martha Ruben Wolf), Reich wolle »unsere
Organisationen zu Vögel-Organisationen« (Leo Friedländer) machen,
die »Turnhallen zu Bordellen« (Ernst Grube) (153ff). Auch wenn dies
vereinzelte Entgleisungen von Gesundheitsexperten und Funktionären
der KPD gewesen sein mögen, dokumentiert die Studie, dass –
allerdings unter dem Eindruck höchster Gefahr kurz vor und
unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 – in der KPD kaum ein
Bewusstsein von der inhaltlichen Bedeutung der Psychoanalyse für
die Kapitalismuskritik vorhanden war. Reich war zu dieser Zeit, das
hebt Verf. anerkennend hervor, neben Erich Fromm der einzige
Psychoanalytiker, der dem Wechselverhältnis von Individuum und
Gesellschaft angemessene Bedeutung zugestand und beharrlich an der
politischen Parteilichkeit und Verantwortlichkeit der Psychoanalyse
festhielt. »Versucht man die Struktur der Menschen allein zu
ändern«, so Reich 1934 in seinem Aufsatz »Was ist
Klassenbewusstsein?«, »wider- strebt die Gesellschaft. Versucht man
die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen.
Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann«
(516). Für die Entwicklung der Psychoanalyse, so urteilt
Horst-Eberhard Richter 2003 in Psychoanalyse und Politik, markiert
der »Präzedenzfall Reich« einen Wendepunkt: »Aus der
Selbstschutzmaßnahme in der Verfolgungssituation wurde eine
grundsätzliche Marginalisierung der gesellschaftskritischen
Psychoanalyse.« (40, z.n. 508) Und Peglau ergänzt: Die Erinnerung
an Wilhelm Reichs Beispiel könnte heute Anlass für einen
»Neustart der Psychoanalyse auf dem, wie es Freud formuliert, ›Weg
ins Weite, zum Weltinteresse‹« sein (515). Dieser Neustart »dürfte
umso leichter fallen, je mehr frühere Fehler wie das Gleichsetzen
individueller und gesellschaftlicher Verhältnisse vermieden werden
und je mehr die Psychoanalyse in sinnvollen Austausch mit anderen
Wissenschaften tritt [...] – ohne allerdings ihre Spezifik als
›unnatürliche‹, Natur- und Geisteswissenschaften zu etwas Neuem
kombinierende Wissenschaft [...] zu verleugnen« (ebd.).
Diese medizinhistorische Studie zur Rettungsstrategie der
Psychoanalyse im Angesicht der faschistischen Gefahr ist ein
Fallbeispiel für die enthumanisierende Tendenz, die mit der
Ideologie einer angeblich unpolitischen Humanwissenschaft
zwangsläufig verbunden ist. Auch heute engagieren sich
Humanwissenschaftler vordringlich für die ›Ertüchtigung‹ des
Menschen, berufen sich auf Realitätssinn, unterwerfen sich allen
möglichen Optimierungsprogrammen: Pädagogen lassen sich für die
frühzeitige Produktion von ›Humankapital‹ instrumentalisieren und
folgen einem Kompetenzansatz, der auf jegliche
gesellschaftskritische Reflexion verzichtet. Mediziner orientieren
sich in ihrer therapeutischen Arbeit an Kosten- und Nutzenkalkülen
und leisten wenig Widerstand gegen die angeblich alternativlose
Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Sind wir nicht längst
Zeugen und Mittäter einer unmerklichen Erosion unserer
zivilisatorischen Standards geworden (Harald Welzer)? Der Blick in
die Alltagsgeschichte von Anpassung und Widerstand am Beispiel der
Psychoanalyse im Dritten Reich könnte unsere Aufmerksamkeit vor
allem dafür schärfen, wie unspektakulär und unmerklich die
Barbarei Einzug in den Alltag halten kann. Dazu hat Verf.
wertvolles Material bereitgestellt.
Fritz Reheis (Bamberg)