Rezension zu Unpolitische Wissenschaft? (PDF-E-Book)
Junge Welt Nr. 24 am 29. Januar 2015
Rezension von Helge Buttkereit
Sex und Befreiung
Andreas Peglau hat eine spannende Studie über Wilhelm Reich
geschrieben
Von Helge Buttkereit
Die Buchfassung von Andreas Peglaus lesenswerter Doktorarbeit über
»Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus« heißt:
»Unpolitische Wissenschaft?« Bitter ironisch hatte Wilhelm Reich
1934 in seiner Exilzeitschrift unter gleichem Titel, aber ohne
Fragezeichen einen zeitgenössischen Artikel des heute zu Recht
vergessenen Carl Müller Braunschweig abgedruckt. Der Artikel ist
ein schockierendes Dokument für die maßlose Anbiederung der
offiziellen Psychoanalyse an die Weltanschauung des
»Nationalsozialismus«.
In vorauseilendem Gehorsam hatte sich die Deutsche
Psychoanalytische Vereinigung da bereits selbst »arisiert«. Zuletzt
war auch der jüdische Vorsitzende Max Eitingon durch den Nichtjuden
Felix Boehm ersetzt worden. Die später dem sogenannten
Göring-Institut angehörenden Analytiker »waren integriert in
Forschungen zur psychologischen Kriegsführung, behandelten
Soldaten, die an Massenexekutionen teilgenommen hatten, traten als
Gutachter in Wehrmachtsprozessen auf und arbeiteten der Aburteilung
homosexueller Soldaten als angeblicher Wehrkraftzersetzer zu«,
summiert Peglau.
»Befreien Sie mich von Reich«, hatte Freud 1934 Boehm ersucht.
»Wenn die Psychoanalyse verboten wird, soll sie als Psychoanalyse
verboten werden, aber nicht als Gemisch von Analyse und Politik,
das Reich vertritt.« Während Reich eine unzulässige Vermischung von
Politik und Wissenschaft vorgeworfen wurde, akzeptierte man die
Anpassungspolitik der Boehms und Braunschweigs. Die vermeintliche
Neutralität enthüllte sich als politischer Opportunismus.
Peglaus These ist nun, dass die herausragenden Bedeutung Reichs das
Schicksal der Psychoanalyse im NS erklärt. Reich scheute sich
nicht, aus der Psychoanalyse politische Konsequenzen zu ziehen. Die
anfängliche Aggressivität des NS-Regimes gegenüber der gesamten
Freudschen Schule galt eigentlich Reich und seiner
»Sexualökonomie«. Sein Ausschluss aus der deutschen und der
internationalen psychoanalytischen Vereinigung 1933/34 erklärt dann
die nachfolgende Toleranz der Nazis gegenüber einer Psychoanalyse,
die Reich verleugnete.
Für jedes Element dieser These bringt Peglau nach siebenjährigem
Quellenstudium stichhaltige Belege bei. Reichs eigene Angaben über
die Zeit der sexualpolitischen Bewegung (Sexpol) mussten immer
wieder für die Verleumdung herhalten, Reich sei im dänischen Exil
dem Größenwahn verfallen. Die Fakten aber, die Peglau aus den
Archiven holt, bestätigen Reich und widerlegen seine Verleumder.
Angaben zu Personen, Zahlen und Aussprüchen seiner damaligen
Widersacher beweisen: Reich hatte sogar noch untertrieben.
Die klinische Arbeit führte ihn zu einem Kriterium für Gesundung,
das die gesamte psychoanalytische Erfahrung zusammenfasste und sie
zugleich über sich hinausführte. Mit der Entdeckung der »Funktion
des Orgasmus« (1927) setzte Reich der Therapie ein klares Ziel und
machte so auch der »endlosen Analyse« Freuds ein Ende. Mit dieser
Entdeckung verbunden war die Einsicht in die letztlich
gesellschaftlich bedingte Störung dieser Funktion. Das politische
Engagement des Arztes war die logische Konsequenz daraus. Sexpol
war radikale, an die Wurzel gehende Neurosenprophylaxe.
Gleichzeitig verstand Reich nun, warum sich die psychoanalytische
Bewegung von der Lehre über die sexuelle Ätiologie der Neurosen
abkehrte. Es war ein Prozess der gesellschaftlichen Anpassung. Die
Neurotisierung der Massen ist ein Hemmnis für ihre politische
Befreiung, sie verhindert oder erschwert die Bildung eines
kämpferischen Klassenbewusstseins.
Die Sexpol wurde in der KPD geduldet, solange sie ihr große Teile
der unpolitischen Massen zuführte. Die Politisierung der Massen
durch das Bewusstmachen ihre Bedürfnisse stand jedoch in schroffem
Widerspruch zur machtpolitischen Instrumentalisierung dieser
Bedürfnisse seitens der KPD, die zunehmend im Sinne sowjetischer
Außenpolitik agierte.
Der Anlass für Reichs Parteiausschluss war die nüchterne
Feststellung in seiner »Massenpsychologie des Faschismus« (1933),
dass die deutsche Arbeiterklasse mit der Machtübernahme der Nazis
eine schwere Niederlage erlitten habe. Das galt, als die Komintern
noch die Illusion nährte, eine »große Umwälzung« stünde kurz bevor,
als »defätistisch« und »konterrevolutionär«. Zwei Jahre später
wählte die Komintern die gleichen Worte wie Reich. Er selbst aber
wurde nie rehabilitiert.
Und heute? Andreas Peglau ist der Überzeugung, dass die
Psychoanalyse an Reich anknüpfen muss, wenn sie ihre
gesellschaftliche Bedeutung zurückgewinnen will. Befremdlich ist
jedoch, dass auch Peglau Reich eine »Überbetonung des Sexuellen«
bescheinigt. Gibt es neuen Anlass zum Opportunismus? Die
spätbürgerliche Liberalisierung und Kommodifizierung der Sexualität
hat einen rein formalistischen Begriff von »Sexualbefreiung«
hervorgebracht.
»Sexualbefreiung« im Verständnis Reichs setzt personale Bindung,
die Aufhebung der »Trennung von zärtlichen und sinnlichen
Strebungen« (Freud) voraus. Unter der Voraussetzung dieser Trennung
hingegen tritt Genitalität zwangsläufig in den Dienst prägenitaler
Konflikte, die sexuelle Hingabe verunmöglichen. Die resultierende
Unfähigkeit zur Befriedigung gibt dem Verhalten dann das Gepräge
maßloser Sexualisierung. Die spätkapitalistische Sexualisierung und
Reichs »sexuelle Revolution« sind Antagonisten. Ein Antagonismus,
dem sich durch Relativierung des Sexuellen nicht ausweichen lässt.
Peglaus großes Verdienst um die historische Wahrheit über die Zeit
der Sexpol wartet also noch auf ihre Ergänzung durch eine
aktualisierende Anwendung der Sexualökonomie auf den
Spätkapitalismus.
Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die
Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Psychosozial-Verlag, Gießen
2014, 635 Seiten, 44,90 Euro.
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