Rezension zu Unpolitische Wissenschaft?
Einsicht 12 – Bulletin des Fritz Bauer Instituts Herbst 2014
Rezension von Jerome Seeburger
Der Stachel Reich
Andreas Peglau
Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im
Nationalsozialismus
Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich war lange Zeit durch
Ressentiments auf der Seite seiner Gegner und ergebener Bewunderung
auf der Seite seiner Verehrer bestimmt. Der Psychoanalytiker
Andreas Peglau möchte mit der vorliegenden Dissertation sowohl den
Verzerrungen wie den Verklärungen entgegenwirken und einen Beitrag
zur sachlichen Diskussion des Reich’schen Werkes, besonders dessen
antifaschistischen Engagements, leisten. Dies gelingt Peglau gerade
deshalb, weil er nicht versucht, Unvoreingenommenheit
vorzutäuschen. Er benennt, was er an Reich schätzt und
kritisiert, und legt sein Forschungsinteresse offen, wodurch seine
Urteile nachvollziehbar werden. Peglaus Interesse besteht
insbesondere in der Würdigung Reichs als einzigen
Psychoanalytiker, der öffentlich gegen den Nationalsozialismus
auftrat und der als Mitglied der KPD 1933 mit seiner
Massenpsychologie des Faschismus den Versuch unternahm, den
massenhaften Erfolg der faschistischen Bewegungen
sozialpsychologisch zu erklären. Reichs Hoffnung, mit diesem Werk
die antifaschistische Theoriebildung und Politik insbesondere der
kommunistischen Arbeiterbewegung zu beeinflussen, wurde
enttäuscht: Die KPD schloss ihn 1933 als Dissidenten aus, kurz
nachdem er wegen seiner sozialistischen Parteiarbeit und seiner
Kritik an der Lehre Sigmund Freuds die Mitgliedschaft in allen
psychoanalytischen Organisationen eingebüßt hatte. Es handelt sich
bei Peglaus Studie um wesentlich mehr als eine weitere politische
Biografie Wilhelm Reichs, auch wenn sie die Struktur einer solchen
aufweist. Durch das Prisma Reich erhellt Peglau die Geschichte der
psychoanalytischen und der sozialistischen Bewegung, indem er deren
Auseinandersetzung mit und über Reich rekonstruiert. Dafür greift
der Autor auf umfangreiches Quellenmaterial zurück, worin der seit
2007 zugängliche und bisher wenig erforschte Nachlass Reichs eine
besondere Stellung einnimmt. Im Anhang des Buches sind einige
anschauliche Dokumente zusammengestellt.
So streitbar Reich auch ist, so fällt durch das Prisma auf beide
Bewegungen, deren Theorien er zu amalgamieren suchte, kein gutes
Licht. Der Konservativismus, der Autoritarismus und das
Unverständnis des Nationalsozialismus aufseiten der KPD wurden von
kommunistischen Dissidenten schon früh kritisiert und inzwischen
auch wissenschaftlich erhellt. Dieser Forschung bietet Peglau mit
der Untersuchung des besonderen Falls Reich weiteres
aussagekräftiges Material. Noch ertragreicher ist Peglaus
Untersuchung der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung: Hier
bringt er, getreu seinem Anspruch, nicht nur Vergessenes, sondern
auch Verdrängtes ans Licht, das sich mit der immer noch
verbreiteten Auffassung, die Psychoanalyse sei im
Nationalsozialismus verfolgt worden, nicht verträgt. Dies ist
Peglau nur möglich, weil er einen Wesenszug der
nationalsozialistischen Herrschaft erkannt hat, nämlich den
polykratischen einer Bande, deren Mitglieder beständig um Macht
konkurrierten. Dieser anarchische Bandenkampf brachte systematisch
Widersprüche zwischen öffentlichen Inszenierungen und der
tatsächlichen Politik hervor.
So entdeckt Peglau im Schatten der spektakulären
Bücherverbrennung, deren vierter Feuerspruch ursprünglich nicht
nur Sigmund Freud, sondern dessen ganzer Schule gelten sollte, eine
vom Nationalsozialismus geduldete, angepasste Psychoanalyse, die
sich ohne Nachteil auch auf Freud und dessen Begriffe beziehen
konnte. Dies ist das Ergebnis einer von Peglau durchgeführten
quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse psychologischer
Zeitschriften, darunter das Zentralblatt für Psychotherapie, und
seiner Analyse der Richtlinien und Praxis der
nationalsozialistischen Zensur. Peglaus Forderung der gründlichen
und differenzierten Untersuchung der psychoanalytischen Schriften,
die im Nationalsozialismus veröffentlicht worden sind, verdient
Unterstützung. In seinen Porträts einiger Autoren werden die
Konturen der Indienstnahme der aufklärerischen Lehre Freuds für
die Gegenaufklärung und den Irrationalismus sichtbar. Zu
kritisieren ist hier allerdings Peglaus Würdigung der Abweichung
einiger der von ihm untersuchten geduldeten psychoanalytischen
Autoren vom »im Psychoanalysehauptstrom vorherrschenden
pessimistischen Menschenbild« (S. 360). Eine Würdigung, die wohl
in Peglaus Adaption des Reich’schen positiven Menschenbilds, samt
der problematischen Vorstellung eines »guten Kerns«(S. 475),
gründet. Anstatt die Abweichung der geduldeten Analytiker zum
Anlass zu nehmen, den guten Kern Reichs zu hinterfragen, bleibt
dieser unhinterfragt Maßstab des Urteils. Die Abweichung vom
Psychoanalysehauptstrom wird als »wissenschaftlich produktiv«
(ebd.) gewürdigt, ohne in Erwägung zu ziehen, dass sie wohl zum
nationalsozialistischen Hauptstrom drängte, der darauf hintrieb,
den eigentlichen, »arischen« Menschen von allem Uneigentlichen,
Jüdischen zu befreien. In jedem positiven Menschenbild verbirgt
sich das Schreckbild der Verfolgung dessen, was von jenem
abweicht.
Jérôme Seeburger
Leipzig
www.fritz-bauer-institut.de