Rezension zu Die Bedeutung des Vaters in der weiblichen Adoleszenz (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Alba Polo: Die Bedeutung des Vaters in der weiblichen
Adoleszenz
Thema
Im Jahr 2008 hat Heinz Walter in dem von ihm herausgegebenen
Sammelband »Vater, wer bist du? Auf der Suche nach dem ›hinreichend
guten‹ Vater« (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart) erklärt, dass die
Vaterentbehrung dramatische Probleme und Schädigungen verursachen
kann, und dass sich die Erkenntnis dessen in der Wissenschaft erst
langsam durchsetzt. In den Kontext der Vaterforschung will sich
aber die Verfasserin des hier rezensierten Buches, Alba Polo,
(leider?) nicht stellen. Es geht ihr auch nur am Rande um
»Vaterentbehrung«. Vielmehr ordnet sie ihre Dissertation (denn
darum handelt es sich hier) ein als »narrative
Entwicklungspsychologie« und als ein Projekt mit dem Ziel
»subjektive und unbewusste Prozesse durch die Erforschung der
Sprache zu erschließen« (496).
Thematisch sieht sie ihr umfangreiches Buch in der Tradition von
Charlotte Bühler und ähnlichen »Meilensteinen der psychologischen
Juventologie« und beklagt zugleich (wie Günter Mey), dass die
qualitative Forschung, die bei eben diesen Meilensteinen im
Mittelpunkt stand, »zunehmend… vom Zentrum in die Peripherie
verbannt« wurde (11). Was Polo vorlegt sind die Ergebnisse von 10
offenen Interviews, die sie mit jugendlichen Frauen und Mädchen
über die Erfahrungen der weiblichen Adoleszenten mit deren eigenen
Vätern geführt hat. Polos Resultate zeichnen sich dadurch aus, dass
sie 1) Ertrag qualitativer Forschung auf höchst anspruchsvollem
Niveau sind, und dass sie 2) an Jugendlichen gewonnen wurden, die
in einer überwiegend guten, unauffälligen Vater-Tochter-Beziehung
leben, also nirgendwo in therapeutischer Behandlung sind oder
waren.
Aufbau und Inhalt
Die 498 Seiten Text lassen sich zweiteilen in den Literaturteil
(11-208) und den Datenteil (209-498). Zum ersten gehören die
Kapitel I Theorie und II Der Zugang. Sie bieten einen
eindrucksvollen Überblick über die vorliegenden Publikationen zur
Thematik »weibliche Adoleszenz und Vater« (29-84). Außerdem wendet
die Verfasserin sich den Forschungslücken zu, die bei diesem Thema
zu beklagen sind (84-90). Jugendforschung neigt dazu, die
Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu bagatellisieren. Jedoch:
»Identität kann immer nur eine geschlechtsspezifische sein, darum
muss Identität geschlechtsspezifisch untersucht werden« (89).
Sodann erläutert Frau Polo »die theoretische Grundlage für das
empirische Vorgehen der Studie« (90), und entwickelt einen Ansatz,
den sie »Psychoanalyse als qualitative Sozialforschung« (91-95)
nennt. Dabei werden Probleme des Verstehens und der »Subjektivität
des Forschenden« (91) besprochen, die in der Tradition von Georg
Simmel und Max Weber stehen. »Ziel exakter Wissenschaft ist es,
jeden subjektiven Faktor loszuwerden« (91), schreibt sie kritisch.
Sie zeigt dagegen in ihrer ganzen Arbeit, wie man in der
Kontinuität des verstehenden Ansatzes gerade die »Subjektivität des
Forschenden« fruchtbar machen und in die Interpretation der
Interviewdaten einbeziehen kann.
Der Datenteil ab S. 209 belohnt den Leser für den Aufwand, ein
500-Seiten-Buch durchzuarbeiten. Ganz unterschiedliche junge
Frauen, zum Teil mit Migrationshintergrund, geeint nur dadurch,
dass sie alle in der Schweiz wohnen, konstruieren zusammen mit der
Interviewerin (die zugleich die Verfasserin ist) ein je
spezifisches sprachliches Abbild ihrer Vater-Tochter-Beziehung. So
sieht man 10 Fallstudien von weiblichen Jugendlichen und ihren
Familien vor sich, die einen fast atemlos weiterlesen lassen. »Sie
alle wollen ihren Vater verstanden wissen als aufmerksam,
zugewandt, liebevoll und interessant« (355).
Bei der Deutung ihrer Ergebnisse – die z.B. Teile der etablierten
Ablösungstheorie zu Fall bringen – greift Frau Polo zurück auf ein
vermutetes »Masternarrativ« (nach Bamberg 2004), das ihr die
überraschenden Übereinstimmungen erklären helfen soll. Sie sieht es
evoziert von dem »gesellschaftlich dominanten Diskurs« (482) nach
dem die Beziehung eines jungen Mädchens zu ihrem Vater
typischerweise schlecht sei. In Abgrenzung gegen diesen Diskurs
werde dann – so meint Polo – in den Interviews die Vaterbeziehung
positiv konstruiert, und zwar selbst dann, wenn im Lebensalltag
erheblich Probleme aufgetreten sind. Hier könnten sich – jenseits
der vorliegenden Dissertation – Gelegenheiten zu einer
weitgreifenden interdisziplinären Debatte über Kulturvergleich und
Kulturwandel ergeben und über die Stellung von Vaterschaft im
jeweiligen Kulturkontext.
Fazit
Dieses Buch ist ein Kompliment sowohl an die Verfasserin als auch
an die beiden Professorinnen, die das Projekt an der Universität
Zürich betreut haben. In einer Zeit, in der das Lesen dicker Bücher
zunehmend als Zumutung empfunden wird, ist dies ein Beleg für die
Unentbehrlichkeit solcher Publikationen. Es präsentiert sich
bescheiden als Beitrag zur Psychoanalyse in der
Entwicklungspsychologie, jedoch geht seine potentielle Relevanz
weit darüber hinaus.
Inhaltlich betrifft es ganz offenkundig alle im Therapiebereich
tätigen Personen, weil hier einmal nicht der klinische Befund,
sondern der Normalfall dokumentiert wird. Ferner gehört die Arbeit
selbstverständlich in die Hände von Pädagogen und Soziologen.
Endlich demonstriert Frau Polo eine überzeugende Vorgehensweise bei
der Textinterpretation (bezogen auf die transkribierten
Interviews), die gewiss von Theologen, Historikern,
Literaturwissenschaftlern und eben von allen, die mit der Deutung
von Texten befasst sind, zur Kenntnis genommen werden sollte.
Rezensent
Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie
Zitiervorschlag
Horst Jürgen Helle. Rezension vom 17.12.2014 zu: Alba Polo: Die
Bedeutung des Vaters in der weiblichen Adoleszenz.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 519 Seiten. ISBN
978-3-8379-2326-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/16404.php, Datum des Zugriffs
18.12.2014.
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