Rezension zu Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps
Feministische Studien 2/2014
Rezension von Gabriele Kämper
Sebastian Winter: Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der
SS-Zeitung ›Das Schwarze Korps‹
Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie
Die Frage, aus welchen Quellen der Antisemitismus sich speist und
auf welchen Wegen er stets von neuem Attraktivität und
Überzeugungskraft entfaltet, bleibt eine konstante Herausforderung
an die Wissenschaft. Die psychische Ebene von Ablehnung, Wut und
Hass, die sich als kollektives und individuelles Phänomen zugleich
zeigt, befragt der Sozialpsychologe und Historiker Sebastian Winter
in seiner Dissertation hinsichtlich des Zusammenwirkens von
Geschlechtsentwürfen und der Genese geschlechtlicher Identität
mit der Inkorporation antisemitischen Denkens und Empfindens. Mit
der These, die Intensität der antisemi- tischen Affekte könne
nicht allein auf der diskursiven Ebene verortet werden, folgt
Winter einem frühen Aperçu von Jean Paul Sartre über den
Antisemitismus: Ȇberdies ist er ganz etwas anderes als ein
Gedanke. Er ist vor allem eine Leidenschaft« (15).
Doch wie funktioniert die Verknüpfung von Ideologie und Affekt,
von Sprache und Instinkt? Auf welchen Wegen öffnet sich das
Individuum dem Angebot der antisemitischen Propaganda? Was macht
diese letztlich so attraktiv und welche affektive Befriedigung
gewährt sie dem Adepten? Diese Fragen führen Winter im ersten
Teil des Buches zur Genese der modernen Subjektstruktur, in deren
Brüchen und Bewältigungsdynamiken Geschlecht und Antisemitismus
als organisierende Prinzipien eingelagert seien (29). Ein Durchgang
durch die psychoanalytische Sozialpsychologie mit Augenmerk für
die theoretischen Bestimmungen von Geschlecht und Antisemitismus in
der Individuation des Subjektes bestimmt diesen Teil. Das Diktum
aus der Dialektik der Aufklärung: »Die Geschichte der Zivilisation
ist die Geschichte der Introversion des Opfers« kann dort als
leitmotivisch für die dicht präsentierte Auseinandersetzung mit
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Zygmunt Bauman, Klaus
Theweleit, Margarete Mitscherlich und Béla Grunberger gesehen
werden. Ausgerichtet wird diese Lektüre auf frühe Fragestellungen
Freuds, der Juden- wie Frauenhass im ödipalen Geschehen des
Kastrationskomplexes verortet (75 ff.).
Mit diesen sozialpsychologischen Überlegungen wendet sich Winter
in einem zweiten Teil seinem Material zu, der Zeitschrift »Das
Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der
Reichsführung SS«. Die 1935 gegründete Zeitschrift erschien bis
zur Kapitulation in wöchentlichem Rhythmus. Die Auflage von
zunächst 70.000 Exemplaren konnte auf über eine Million im Jahr
1939 gesteigert werden und betrug noch im März 1944 750.000. Damit
war das Schwarze Korps die zweitgrößte Wochenzeitschrift des NS.
Sie verstand sich als Leitorgan der nationalsozialistischen
Weltanschauung und dokumentierte dies mit programmatischen
Abhandlungen (26), wozu auch die Diskussion innerparteilicher
Differenzen und deren ideologische Bewertung und Einordnung
gehört. Auf Basis dieser Charakteristika bewertet Winter das
Schwarze Korps zu Recht als eine »ausgezeichnete Quelle für den
offiziellen Diskurs der NS-Weltanschauung« (27), wobei er sich auf
die dort ausgebreiteten Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe
beschränkt.
Der dritte Teil gilt zunächst der Relektüre der
nationalsozialistischen Angebote für eine gelingende Synthese der
geschlechtlichen »Dilemmata« (Rolf Pohl), die in der Fragilität
und dem notwendigen Abwehrgeschehen moderner Subjektbildung
begründet sind. Diese Synthese, so die Schlussfolgerung Winters,
bestehe in einem als »Heil« versprochenen Ganzen. Die Psychodynamik
beider Geschlechter münde bei aller Unterschiedlichkeit in dieses
Heil ein und verspreche eine Lösung der Männlichkeits- und
Weiblichkeitsdilemmata. Verschmelzungswünsche und die Sehnsucht
nach Ungeschiedenheit bestimmen diese »Lösung« ebenso wie die
vehemente Abwehr des beständig aus dem Inneren und Äußeren
einbrechenden Abgespaltenen und der damit einhergehenden Drohung
unabweisbarer Differenz. Aus den im Durchgang der analysierten
Texte gewonnenen Erkenntnissen soll in der theoretisch
reflektierten Neuerzählung mithilfe »psychoanalytisch
unterfütterter emotionsgeschichtlicher Analyse« ein »Modell der
Psychodynamik völkisch-antisemitischer Geschlechter- und
Sexualitätsentwürfe« erwachsen, das geeignet ist, dem Desiderat
der historischen Geschlechterforschung nach Erklärungen für die
»zu oft bloß konstatierte affektive Attraktivität«
nationalsozialistischer Diskurse nachzukommen (28). Ausgehend von
aktuellen diskursanalytischen Forschungen und quer zu den
beschriebenen Schritten der Analyse verfolgt Winter drei
Fragen:
– Handelt es sich bei den Geschlechterentwürfen der völkischen
Bewegung und des Nationalsozialismus um eine Verminderung oder um
eine Verschärfung der Polarisierung der Geschlechter? (10)
– Handelt es sich bei den geschlechtlichen Konnotationen der
antisemitischen Feindbilder um solche der »Verweiblichung« oder der
»Patriarchalität«? (12)
– Handelt es sich bei den Sexualitätsentwürfen der völkischen
Bewegung und des Nationalsozialismus um repressive oder permissive
Vorstellungen? ( 13)
Die Analyse der Quellen erfolgt vermittels der engen Lektüre
ausgewählter Texte des Schwarzen Korps, die thematisch von
programmatischen Entwürfen zur Ausgestaltung des Volksbegriffs
über das Ich in der Gemeinschaft, Eheentwürfe, Homosexualität
und Nacktkultur bis zu Prüderie versus Begehrlichkeit reichen. Die
dichte Lektüre der vollständig dokumentierten und auf die
befragten Thesen hin nacherzählten Texte bietet ein
beeindruckendes Panorama nationalsozialistischer Rhetorik. Nicht
das Weh, sondern das Wohl der Volksgemeinschaft wird hier
ausgebreitet und angeboten, ein Wohlfühlraum für das Subjekt, das
seiner Zerrissenheit in einem klaren, entspannten und reinen Ganzen
des Volkskörpers zu entkommen sucht. »Das Streben danach, dem
›Typus‹ zu entsprechen, d. h. unzerrissen identisch mit sich und
der Gemeinschaft zu sein, ist ein Motiv, dass sich fundamentierend
und allgegenwärtig durch die völkischen Diskurse zieht«
(145).
In seinem abschließenden dritten Teil gelingt es Winter
überzeugend, im Kontext klassischer und aktueller
sozialpsychologischer und genderorientierter Theoriebildung die
enorme Affektaufladung von Antisemitismus und Misogynie als Produkt
einer im Wesentlichen durch Prozesse der
Geschlechtsidentitätsfindung geprägten Subjektstruktur zu
beschreiben. Dabei weiß er die vorherrschende Androzentrik in der
Forschung produktiv zu reflektieren, indem er weder einem
schlichten Schuldverteilungsmodell (hie die Frauen, da die Männer)
das Wort redet, noch die − bisher kaum untersuchte – weibliche
Psychodynamik des Antisemitismus in einer vorgeblichen
Geschlechtergleichheit (wenn Frauen auch antisemitisch sind, gibt
es eben keinen Unterschied und darum auch keine Notwendigkeit zu
geschlechtsbezogener Analyse) aufgehen lässt. Er eröffnet sowohl
die Perspektive auf unterschiedliche Psychodynamiken der beiden
Geschlechter hinsichtlich der Entwicklung antisemitischer
Dispositionen, wie auch seine Konklusion einer im Heil des Ganzen
einmündenden parallelen Dynamik nicht geschlechternivellierend
ist.
»In der kulturellen Symbolschablone für diesen psychischen Vorgang
– geliefert von der politischen Religion des Nationalsozialismus,
die in ihrer einzigartigen ›fanatischen‹, ›totalen‹ und ›heilen‹
Sprache mit wahnhaft-eidetischem Blick die Wahrheit zu schauen
vermeinte – war jede dialektische Beweglichkeit eliminiert. Die
›vorbildliche deutsche Frau‹ und der ›echte deutsche Mann‹ fühlten
sich durch Zersetzungsabsichten von außen (und durch die ›dunklen
Triebe‹ auch von innen) bedroht und legitimiert zum
›Zurückschlagen‹« (398f.).
Dass eine androzentrische Analyse antisemitischer Psychodynamik
ihrerseits Raum für unreflektierte misogyne Phantasien eröffnet
(oder wiederbelebt), ist kein nebensächlicher Befund, vielmehr ein
ernsthafter Hinweis an jede die Geschlechterreflektion
vernachlässigende Forschung zum Thema. Die Deutlichkeit, mit der
Winter die Prägungen einer in patriarchalen, androzentrischen und
geschlechtshierarchischen Strukturen − mit der ihr innewohnenden
Verabsolutierung und Verherrlichung von Männern sowie Verachtung
und Abwertung von Frauen − verankerten Psychodynamik von Männern
und Frauen nachzuzeichnen versucht, verdient Respekt und
Nachfolge.
Kritisch anzumerken ist, dass Winter wenig unterscheidet zwischen
völkisch-antisemitischen und nationalsozialistischen Diskursen.
Aus dem Fortgang seiner Analyse des Wechselspiels zwischen der
innerpsychischen Genese ganzheitssuchender Subjekte und den
sprachlichaffektiven Angeboten der untersuchten Diskurse ist diese
mangelnde Trennschärfe plausibel. Aus der Perspektive des
Umschlags antisemitischer Befindlichkeiten in einen
politisch-administrativen Vernichtungsprozess macht es dennoch
Sinn, die Spezifika des nationalsozialistischen Diskurses
hinsichtlich von Zuspitzungen, Radikalisierungen und
Alternativlosigkeiten zu reflektieren.
Für die wissenschaftliche wie für die politische
Auseinandersetzung mit der komplexen Genese von Antisemitismus ist
mit diesem Buch eine ernsthafte und ausführliche Aktualisierung
und Weiterführung bisheriger Ansätze geschaffen. Ein Blick in
aktuelle Publikationen wie das von Wolfgang Benz herausgegebene,
inzwischen auf sieben Bände angewachsene Handbuch des
Antisemitismus zeigt, wie wenig die Geschlechterdimension
reflektierten Eingang in den Forschungs- wie den politischen
Diskurs gefunden hat. Eine Integration des analytischen Potentials
von geschlechts-, sexualitäts- und herrschaftsreflektierenden
Ansätzen scheint hier dringend geboten – auch mit Blick auf die
Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Faschismen radikalisierter
Männlichkeit politischer und religiöser Provenienz.
Gabriele Kämper