Rezension zu Verantwortung der Psychotherapie in der Gesellschaft
Imagination 2014, Heft 3
Rezension von Mag.a Traude Ebermann
Jürgen Hardt, Uta Cramer-Düncher, Jörg Hein, Cornelia Krause-Girth,
Thomas Merz, Reinhard Otte, Wilfried Schaeben, Marion Schwarz
(Hg.Innen) (2011):
Verantwortung der Psychotherapie in der Gesellschaft.
Bei dem Buch handelt es sich um den überarbeiteten Tagungsband
(2011) anlässlich des Dritten Hessischen PsychotherapeutInnentages
zum Thema »Gesundheitspolitische Verantwortung und Psychotherapie«
am 23. und 24. September 2005.
Beim Lesen zeigt sich, dass das Thema inzwischen keineswegs
verjährt ist, sondern verstärkt durch Globalisierung, die gesamte
Welt umfassende internationale Krisenherde und Migrationswellen,
Platzen der Immobilienblase von 2008 – sowie auf persönlicher Ebene
verschärft durch Geschlechtsrollen im Umbruch die Frage nach
gesellschaftspolitischer Verantwortung der Psychotherapie noch
brisanter geworden ist.
Wie in der Einleitung Jürgen Hardt und Cornelia Krause-Girth als
Vertreter und Vertreterin der Gruppe der ärztlichen und
psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
feststellen, ist ein wesentliches Anliegen der Tagung gewesen, dass
PsychotherapeutInnen als Berufsgruppe miteinander ins Gespräch
kommen, in ihrer eigenständigen Identität gestärkt werden und im
Gesundheitswesen ihre gesellschafts- und gesundheits-politische
Verantwortung erkennen und selbstverständlicher übernehmen »nicht
nur für ihre Patientinnen und Patienten, sondern auch für die
gesellschaftlichen Umstände, unter denen psychische Erkrankung
auftritt und unter denen sie behandelt wird« (S.9). Das bedeutet,
Erkenntnisse aus der Psychotherapie als Beitrag eines politischen
Diskurses zu nützen, weil, wie Hardt später anführt:
»PsychotherapeutInnen in einer säkularisierten Welt die
Berufsgruppe mit dem größten, aber diskreten Wissen ist, wie die
Menschen wirklich leben, denken und fühlen« (S.284).
Im Fokus des Tagungsbandes steht daher eine Analyse der
strukturellen Rahmenbedingung der neuen Profession
»psychologische/r oder ärztliche/r Psychotherapeut/in« in
Abgrenzung bzw. Erweiterung einer traditionellerweise rein an der
Naturwissenschaft orientierten Medizin und Gesundheitsversorgung.
Eine Standortbestimmung der Psychotherapie wird vorgenommen, die
aber leider – wie die Medizin und andere Leistungen des
Sozialstaates – zunehmend von ökonomischem Denken »beherrscht«
wird. Jürgen Hardt kritisiert dies in seinem späteren Beitrag und
an der öffentlichen Debatte über Psychotherapie scharf, dass vor
allem die Ökonomie, sprich deren Kosten, Verwaltung und
Administration zum Thema gemacht wird, wogegen deren
gesundheitspolitische Notwendigkeit und Beitrag auf der Strecke
bleibt.
Die Beiträge des Buches beziehen sich zur Gänze auf die Situation
in Hessen/Deutschland. Trotz großer struktureller Differenzen (in
Deutschland gibt es z.B. im Unterschied zu Österreich eine
PsychotherapeutInnenkammer etc.) erscheint mir ein Großteil der
Reflexionen auch für die österreichischen Verhältnisse
zutreffend.
Es geht also um ein neues Selbstverständnis und die Identität von
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten innerhalb des
Gesundheitswesens. Was ist der gesellschaftspolitische Auftrag in
Verbindung mit ihrer Professionalität?
Die vorliegende Rezension folgt der Reihenfolge der
Tagungsstruktur. Die Tagung beginnt mit der Podiumsdiskussion am
ersten Abend, wogegen diese im Buch erst im Anhang (S.297-329),
aber erfreulicherweise im Wortlaut, abgedruckt wird. Vermutlich hat
die Stimmung durch die Podiumsdiskussion auch auf die Atmosphäre
der darauf folgenden Tagung abgefärbt, gleichsam einem ersten
Eindruck in einem psychotherapeutischen Erstkontakt.
Zum Thema »Entmenschlichtes Gesundheitssystem? – Menschenbilder im
Veränderungsprozess« diskutierten am Podium ranghöchste
gesundheitspolitische VertreterInnen (LandesärztInnenkammer Hessen,
Krankenkassen, Universität, Landeskammer der psychologischen
PsychotherapeutInnen sowie der EU-Politiker Daniel Cohn-Bendit).
Aus Platzgründen lasse ich im Folgenden die Namen vieler einzelner
Personen weg, weil sich die Rezension an Lesende in Österreich
richtet. Jürgen Hardt thematisierte in seiner Einleitung dazu (als
Präsident der Hess. Landeskammer für psychologische
PsychotherapeutInnen und Kinder- und JugendlichentherapeutInnen)
seine Sorge um die Menschenbilder, die der kulturellen Veränderung
zugrunde liegen und die auch bei der »Vermarktung von Gesundheit«
(nach Klaus Dörner) zum Tragen kommen. Eine spannende, für die
OrganisatorInnen offensichtlich überraschend kontroversiell und
hitzig geführte Diskussion zeigte auf, wie schwierig es ist,
Wirksamkeit und Effizienz von Psychotherapie für Laien wie
Cohn-Bendit, aber auch für Entscheidungstragende für die
Kostenübernahme verstehbar zu machen, die Effizienz vor allem in
Zahlen messbar denken. Dieser Artikel ist vor allem durch die
wörtliche Wiedergabe der Argumente sehr aufschlussreich (und
hilfreich für den eigenen Erklärungsbedarf).
Im Folgenden finden sich die zwei sehr interessanten Hauptvorträge,
für die zum vertiefenden Verständnis des Tagungsthemas
treffenderweise ein Volkswirt und ein Philosoph gewählt wurden.
Karl-Georg Zinn, Univ. Professor für Volkswirtschaftslehre aus
Aachen, referierte über: »Das Leiden an der Ökonomie ohne
Menschlichkeit – Mythos und Krise. Warum die reiche Gesellschaft
Armut und Arbeitslosigkeit produziert und was dagegen zu tun wäre«.
Zinn gibt einen kurzen Einblick in die Wirtschaftstheorie nach
Keynes. Er weist u.a. auf die Illusion des endlosen Wachstumswahns
hin, von der unser Zeitgeist so stark erfasst ist. Dabei wird
hartnäckig ignoriert, dass Keynes immer von einer Wellenbewegung
zwischen Wachstumsphase und einer nachfolgenden Stagnation ausging.
Offensichtlich gibt es ein starkes wirtschaftliches Interesse,
medial nur die halbe Wahrheit des Keynesianismus zu vermitteln
(S.40). Wie unterschiedlich hoch entwickelte kapitalistische Länder
mit der wirtschaftlichen Krise seit 1970 umgehen, führt Zinn am
Beispiel der Skandinavier an. Vorbildhaft zeigen sie, wie sie trotz
der durch die Globalisierung erzwungenen Abstriche den Sozialstaat
weitgehend erhalten und die Beschäftigung auf relativ hohem Niveau
halten konnten. Zinn entlarvt den marktradikalen Neoliberalismus
als ideologisch motivierten Mythos im Interesse der ökonomischen
Machtelite. Dem Autor gelingt es auf vortreffliche Weise Interesse
für die Ökonomie zu erwecken, auch indem er aufzeigt, wie sie
inzwischen unsere Sicht auf die Welt und unser Mensch-Sein
dominiert.
Willem van Reijen, Univ. Prof für Sozialphilosophie und politische
Philosophie der Universität Utrecht (NL) sprach als zweiter
Referent zum Thema: »Herr im eigenen Hause? Menschenbilder zwischen
Moderne und Metaphysik«. Van Reijen reflektiert in einem sehr
aufschlussreichen historischen Exkurs die Menschenbilder von Kant,
Heidegger, Horkheimer, Adorno bis Habermas und führt detailliert
aus – wie davon abgeleitet - die Gegenwart von zwei
widerstreitenden Menschenbildern geprägt wird. Einerseits geht die
Moderne von einer mechanistisch-deterministischen Vorstellung eines
von Funktionalität geprägten Menschen aus, der scheinbar konkret,
objektiv und materialistisch ist. Dabei wird der Mensch als
Maschine gedacht, der sich vollständig an den Regeln der Logik und
der Diskursivität orientiert. Bekanntlich bestimmt dieser rein
quantitativ messbare Zugang auch die empirische
Wissenschaftlichkeit in Psychologie und Soziologie (S.51).
Innerhalb dieses Denksystems können gut Handlungsursachen und
-abfolgen erklärt werden, wogegen nie die Frage nach dem Sinn
gestellt wird, dies scheint irrelevant.
Das steht andererseits in großem Kontrast zum metaphysische
Menschenbild, demzufolge der Mensch die Welt eher verstehen als
erklären will. Im Mittelpunkt steht der Mensch mit seinem
subjektiven Empfinden. Seine Selbsterfahrungen in der Beziehung zu
anderen und der Umwelt werden als von Ambivalenzen, Ambiguität und
Unsicherheit geprägt und reflektiert. Insofern spielen dem Gefühl
nahe Eigenschaften wie Vertrauen, Zuversicht, Hoffnung und
Sinngebung eine bedeutsamere Rolle als die Vernunft. Dieser Mensch
in seinem Freiheitsdrang wehrt sich gegen Starrheit und
Formalisierung und ist bestrebt, Gegensätze, die sich
traditionellerweise ausschließen, denkmöglich zu machen. Der Autor
zeigt auf (S.52), wie in der Geschichte ein Zusammendenken beider
Seiten – Funktionalität und Ambiguität – durchaus akzeptiert war.
Wogegen die »Moderne«, wenn sie versucht, eines der beiden
Menschenbilder über das andere zu stellen, die ursprüngliche
Vielfalt reduziert und neue Probleme schafft. »Die Moderne
versucht, das Nicht-Fassbare zu verdrängen und zu eliminieren«, ist
die Kernaussage Van Rijens und er plädiert für eine neue Balance
zwischen Moderne und Metaphysik (S.63).
Im zweiten Teil befindet sich das Kernstück des Buches mit einer
ausführlichen Dokumentation der 4 parallel abgelaufenen Foren.
Zahlreiche engagierte Beiträge von Expertinnen und Experten
unterschiedlicher Psychotherapieschulen geben in Form von
moderierten Vorträgen, Statements gut die Atmosphäre einer
lebendigen, oft sehr hitzig und kontroversiell geführten Debatte
wieder. Aus Platzgründen kann ich diese hier nur knapp
zusammenfassen, umso mehr zum Nachlesen im Original einladen:
Forum 1 : Psychotherapie in Institutionen.
Thema ist einerseits die Zusammenarbeit von psychologischen und
ärztlichen PsychotherapeutInnen und MedizinerInnen im Klinischen
Bereich, als auch das Dilemma eines immer größer werdenden Bedarfes
an Psychotherapie aufgrund zunehmender psychischer und
psychiatrischer Erkrankungen bei gleichzeitiger Einsparung.
Forum 2 : Zukünftige Entwicklungen der Psychotherapie.
Schulenbezogen oder integrativ? Störungsspezifisch oder
ganzheitlich.
»Die heißen Eisen« der komplexen Debatte kommen in
unterschiedlichen Statements zur Sprache. Ein allgemeines Bemühen
wird deutlich, im Spannungsfeld zwischen den Schulen, zwischen
Abgrenzung und Annäherung, die Wichtigkeit der gegenseitigen
Anerkennung herauszuarbeiten, um damit die eigene Identität als
Psychotherapeut/in zu stärken, aber auch um sich als Berufsgruppe
gegenüber der Medizin bei der Behandlung von spezifischen
psychischen Störungsbildern besser zu behaupten.
Forum 3 : Wissenschaftliche und ökonomische Gesichtspunkte und
Neuordnung der Psychotherapie. Eine anspruchsvoll geführte
Auseinandersetzung bewegt sich zwischen »Leitlinien im
Spannungsfeld von Wissenschaft, Ökonomie und therapeutischer
Praxis« und »Das therapeutische Handeln zwischen Wissen und
Nichtwissen«.
Forum 4: Prävention – Gesundheitserzieherische Aufgaben und
Psychotherapie:
Interessante Beiträge über Prävention, die Hardt (S.237) als genuin
psychotherapeutische Angelegenheit betrachtet, werden
veranschaulicht in Zusammenhang mit der nachhaltigen Arbeit mit
Kindern und Jugendlichen, Elternarbeit sowie Essgestörten.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Psychotherapie ist
politisch! Gegenwärtig geraten Menschen aufgrund rasanter
gesellschaftspolitischer Veränderungen und Krisen, Einfluss von
Informationstechnologien auf unser Leben, strukturell zunehmende
Arbeitslosigkeit und Kampf um Arbeitsplätze, Armutsgefährdung,
Einsamkeit, verunsichernde Lebensbedingungen, Existenz- und
Zukunftsängste etc. zunehmend in persönliche Krisen, die sich auch
im Anstieg der Suizidraten, wie im verstärkten Auftreten von
psychischen und psychiatrischen Erkrankungen und
Erschöpfungszuständen (siehe Burn-out als moderne Diagnose der
Leistungsgesellschaft) zeigen.
Wie Hardt in seinen Schlussbemerkungen (S. 272) anführt, ist es
einerseits als Erfolg zu verzeichnen, dass mittlerweile im Rahmen
der Gesundenversorgung auch Psychotherapie angeboten wird.
»Psychotherapie läuft aber Gefahr, sich unkritisch in die
Gesellschaft einzufügen und zu einem effektiven Reparaturbetrieb
gesellschaftlicher Schädigungen zu werden« (S.273), wenn sie ihre
gesellschaftskritische Kompetenz – und das ist zugleich ihre
Relevanz – aufgibt. Hardt plädiert dafür, viel mehr am öffentlichen
politischen Diskurs von Lebensfragen teilzunehmen und Stellung zu
beziehen. Gleichsam ermuntert er, die Anliegen, Ansprüche und
Sinnhaftigkeit unseres Berufstandes ebenso vermehrt öffentlich zu
artikulieren und zu behaupten, – und damit ein verkürzt technisch
funktionierendes Menschenbild in der Gesundheitsversorgung
definitiv und bewusst aufzukündigen.
Als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erfahren wir
alltäglich in unserer Arbeit mit den einzelnen Menschen von den
Auswirkungen der Leistungsgesellschaft, der verführerischen
Manipulation durch geschickte Werbestrategie zum Konsum von
Produkten und Lebensweisen, die letztlich krank machen. Dieses Buch
macht ein weiteres Mal bewusst, dass wir als Psychotherapeuten und
Psychotherapeutinnen sogar eine Verantwortung haben, was zu uns von
der Patientin/dem Patienten in Form des Symptoms spricht nicht nur
im individuellen Zusammenhang zu verstehen, sondern ebenso das
gesellschaftspolitisch Unerhörte daran zu sehen und zu benennen.
Die Dokumentation der Tagung beschreibt den breiten Bogen zwischen
diesen Polen. In Erinnerung an Freuds Aussage: »Die Stimme des
Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör
verschafft hat …« Dem ist nichts hinzuzufügen.
Fazit: Ich komme zu meinem wesentlichen Kritikpunkt: das
Geschlechterverhältnis und vor allem das Krankmachende an
einseitigen Geschlechtsrollenstereotypien für Frauen wie für
Männer, wie es in der Gender-Medizin inzwischen
selbstverständlichen Eingang in den akademischen Diskurs findet,
fehlt zur Gänze. Ebenso fehlt die Thematisierung der psychosozialen
Auswirkung von struktureller Gewalt an Frauen, wie dies u.a. in der
Feministischen Psychotherapie seit den 70er Jahren des vorigen
Jahrhunderts abgehandelt wird. Weder ein Hauptvortrag noch ein
Forum beschäftigte sich mit einem Genderthema. Bei einem Fachbuch
mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch ist dies nicht mehr
zeitgemäß und enttäuschend. Ebenso vermisse ich ein Bemühen um eine
gendersensible Sprache, beispielsweise sind alle
Berufsbezeichnungen unhinterfragt im generischen Maskulinum
abgefasst, was ich mir erlaubt habe, zu korrigieren.
Dennoch: ich halte das Buch für sehr anregend und lesenswert für
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aller Schulen, vor allem
als (Pflicht?-)Lektüre für AusbildungskandidatInnen. Aber auch
speziell sinnvoll wäre es für Entscheidungstragende von
Krankenkassen, Politikerinnen und Politiker sowie anderen
Geldgebenden für ein besseres Verstehen der Sinnhaftigkeit von
Psychotherapie, – die einem ganzheitlichen Menschenbild Raum und
Zeit gibt.
Mag.a Traude Ebermann
www.traude-ebermann.at