Rezension zu Ödipus und der Ödipuskomplex (PDF-E-Book)
Forum des Psychotherapeutenkammer des Saarlandes Nr. 55 Oktober 2014
Rezension von Dr. Petra Schuhler
Zepf, S., Zepf, F.D., Ullrich, B. & D. Seel (2014) Ödipus und der
Ödipuskomplex. Eine Revision.
Dr. Petra Schuhler
Das Konzept des Ödipus-Komplex wurde 1910 von Freud entwickelt mit
Rekurs auf einen literarischen Höhepunkt früher europäischer
Kultur, dem Drama »König Ödipus« von Sophokles. Der bis heute
verstörende Blick auf das Inszestthema wurde durch diese Bezugnahme
klarer und leichter zugänglich. Auch in der Gegenwart beeinflusst
der Ödipus-Komplex, dessen klassische Auffassung wesentliche
Modifikationen und Differenzierungen erfahren hat,
psychoanalytische Verstehensweise und klinisches Arbeiten.
Ödipus ist neben Narziss die zweite Gestalt der griechischen
Mythologie, die basal die psychoanalytische Methode kennzeichnet.
Freud nannte den Ödipus-Komplex den »Schiboleth« der
psychoanalytischen Gemeinde, dessen Gebrauch erkennen lasse, ob
psychoanalytisch gedacht werde oder nicht. Um so erstaunlicher ist
es, dass Freuds Schülern eher an der Suche nach Validierung der
psychoanalytischen Theorie durch den Ödipus-Mythos gelegen war als
an einer gründlichen Untersuchung und Interpretation des Mythos
selbst, die womöglich ein anderes Licht auf die so zentrale
klinische Annahme vom Ödipus-Komplex geworfen hätte. Genau diese
Lücke in der psychoanalytischen Konzeptentwicklung hilft das Buch
»Ödipus und der Ödipuskomplex – eine Revision« zu schließen, das
von Siegfried und Florian Zepf, Burkhard Ullrich und Dietmar Seel
geschrieben wurde.
Mythen als Quelle der Aufklärung. Mythologisches Material als
Erkenntnisbasis menschlicher Konflikte, in diesem Fall über die,
die sich in der Triade Vater-Mutter-Kind abspielen, heranzuziehen,
ist dann berechtigt, wenn koinzidiert wird, dass Mythen, ähnlich
wie Träume, sich in symbolhafter Sprache und Bildern vollziehen, in
der sich kollektiv geteilte Hermeneutik, Einsichten und Ideen
mitteilen (Fromm, 1990; Vogt, 1989). In diesem Sinn ist »schon der
Mythos Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«
(Horkheimer & Adorno, 1944, S. 21). Freud schreibt: »Die
griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil
er dessen Existenz verspürt hat. Jeder Hörer war einmal im Keim und
in der Phantasie ein solcher Ödipus.« (Freud, 1986, S. 293). Die
psychoanalytische Forschung und Theoriebildung ist geprägt davon,
dass der Mythos eher als Bestätigung der klinischen Ansätze diente
als dass der Mythos als Inspiration für klinisches Verständnis und
analytische Vorgehensweise eingehender und über die Freud’sche
Explikation hinaus, untersucht worden wäre. Diese andere
Suchrichtung schlagen die Autoren ein: Sie gehen von dem Ansatz
aus, dass Freud atente unbewusste Inhalte des Ödipusmythos nicht
ergründet hat und verfolgen die Frage, welche Schlussfolgerungen
sich ziehen lassen, wenn dieser Versuch unternommen wird.
Erstmals arbeitete Rank eine literaturwissenschaftliche Arbeit aus
psychoanalytischer Sicht über das Inzestmotiv (2010; 1912) aus. Die
umfangreiche Arbeit wurde von Freud als Anwendung der Psychoanalyse
sehr gelobt. Dieses Werk kann als ein Prototyp des Versuchs
angesehen werden, mit Hilfe der damals gültigen Auffassung des
Ödipus-Komplexes über die latenten Inhalte der Ödipusmythen
aufzuklären. Die Autoren rücken von solchen Versuchen ab und
empfehlen mit dem Ödipus-Mythos über die latente Inhalte der
Freud’schen Definition aufzuklären.
Der Ödipus-Mythos und der Ödipuskomplex. Typischerweise beziehen
sich psychoanalytische Ansätze, die auf den Ödipus-Komplex
rekurrieren, auf Teilaspekte des Mythos, besonders auf das
Sophokles’ Drama. Eine umfassendes Verständnis sollte aber alle
Versionen des mythologischen Materials, insbesondere die
ursprünglichen einbeziehen, nicht nur das künstlerisch gestaltete
Werk eines Dramatikers, der mit großer Dialogkunst
selbstverständlich dramaturgische Ziele verfolgt und dem es nicht
um eine möglichst präzise Verwendung mythologischer Inhalte gehen
kann. Dieses grundlegende Problem der Erkenntnisgrundlage, auf die
man sich stützt und die über die Aussagekraft der Mythos-Analyse
entscheidet, sehen die Autoren: Sie nähern sich der Problemlösung
so, dass sie sich auf die Aspekte beschränken, die Freud in
Sophokles’ Drama nicht berücksichtigt hat und auf solche der
griechischen Mythologie, die von Devereux (1953), einem Ethnologen,
Gräzisten und Psychoanalytiker beschrieben werden. Ferner nehmen
die Autoren Bezug auf das Standwerk von Ranke-Graves (2001) und die
Arbeit des Religionswissenschaftlers Kerényi (2003).
Freud bezog sich in seiner Ausarbeitung des Ödipuskomplexes auf die
Ödipus-Sage der griechischen Mythologie, wie sie von Sophokles in
seiner Tragödie »König Ödipus« dargestellt wird: Ödipus’ Eltern,
Laios und Jokaste, das Königspaar von Theben, setzen Ihren Sohn,
Ödipus, Im Gebirge mit durchbohrten und zusammengebundenen
Achillessehnen aus, weil sie vom Orakel von Delphi gewarnt worden
sind, dass ihr Sohn den Vater töten würde. Ein Hirte des Königs
Polybos von Korinth findet den Säugling, nimmt ihn mit und dieser
wird vom König an Sohnes statt aufgenommen. Das Orakel von Delphi
weissagt Ödipus, er werde seinen Vater töten und seine Mutter
heiraten. Um das nicht geschehen zu lassen, verlässt er Korinth und
macht sich auf die Wanderschaft. Unterwegs trifft er auf Laios,
tötet diesen im Streit, ohne zu wissen, wen er erschlagen hat.
Ödipus löst das Rätsel der Sphinx, wird in der Folge König von
Theben und erhält in diesem Zusammenhang, seine Mutter, Jokaste,
zur Frau, ohne zu wissen, wen er heiratet. Er hat mit ihr vier
Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Ödipus wird nach 20 Jahren die
schreckliche Wahrheit, Inzest und Vatermord, enthüllt. Jokaste
erhängt sich, Ödipus sticht sich die Augen aus und wandert als
blinder Bettler, begleitet von seinen beiden Töchtern Antigone und
Ismene fort von Theben. Sein Schwager Kreon wird statt seiner dort
König.
Im hohen Alter nimmt Sophokles das Schicksal des Ödipus wieder auf,
in seinem Theaterstück »Ödipus auf Kolonos«: Ödipus stirbt im Hain
der Eumeniden, der Rachegöttinen auf dem Hügel Kolonos. Dort
streiten sich auch seine beiden Söhne, Polyneikes und Eteokles um
die Krone Thebens. Ödipus wird von Antigone begleitet, die eine
besondere Rolle unter seinen Kindern für ihn einnahm. Sophokles hat
dies als zweites Drama der Ödipus-Triologie geschrieben, das weit
weniger bekannt ist als Ödipus Rex. Auf Kolonos wird Ödipus von den
Göttern gerufen und steigt im Tod zum Helden auf.
Im dritten Stück »Antigone«, wird das Schicksal von Ödipus’ Tochter
beschrieben, die sich dem Befehl Kreons widersetzt und ihren Bruder
Polyneikes begräbt, der im Streit mit seinem Bruder erschlagen
worden ist. Zur Strafe wird sie, die Kreons Sohn liebt, lebendig
begraben.
Die Revision des Ödipusmythos. Das, in 12 Kapitel gegliederte Buch
geht von zwei grundlegenden Fragen aus: Warum hat es Freud, der
Mythen als kollektive Ausformungen latenter Inhalte verstand,
unterlassen, das Sophokles Drama und die Ödipus-Mythen (die er
kannte) auf latente Aspekte zu untersuchen? Und zweitens: Welche
Antworten ergeben sich, wenn der Ödipus-Komplex im Licht der Mythen
neu beleuchtet wird? Dabei wird als Ausgangspunkt gewählt, dass
Freud die ursprüngliche »Verführungstheorie«, also die Annahme,
dass jeder Neurose immer eine sexuelle Verführung zugrunde liege,
als ätiologischen Entstehungskern von Neurosen zugunsten des
Ödipuskomplexes aufgab, den er als ein »phylogenetisches« und
universales Erbe der Menschheit ansah. Die Autoren führen eine
stichhaltige Argumentation, die mit guten Gründen vermuten lässt,
dass primär den Eltern eine unbewusste eigene ödipale Problematik
zu unterstellen ist, aus der mit Hilfe
projektiv-identifikatorischer Inszenierung dann sekundär der
Ödipuskomplex der Kinder erwächst. Dies steht in deutlichem
Widerspruch zur Freud’schen Auffassung, die das elterliche
Unbewusste weitgehend ausblendet.
Der Auseinandersetzung mit dem Freud’schen Postulat der
phylogenetischen Verankerung und Universalität des Ödipuskomplexes
widmen die Autoren große Aufmerksamkeit mit dem Ergebnis, dass eine
solche Annahme nicht aufrechterhalten werden kann. Dies steht im
Zusammenhang mit dem »Untergang des Ödipuskomplex«, der von Freud
so begriffen wird, dass ein angeborenes Programm vergehen muss,
wenn die nächsthöhere Entwicklungsphase beginnt. Der Ödipuskomplex
müsse dann fallen, »wie die Milchzähne ausfallen, wenn die
definitiven nachrücken«, so Freud nach Zepf und Mitautoren (2014,
S. 35): Sie halten vor Augen, dass sich eine ödipale Problematik
nicht aus sich heraus auflöst, sondern dass die der Eltern im
Beziehungskontext mit den Kindern weiter wirkt: Werden die Mythen
zu Rate gezogen, zeigt sich vor allem, dass die Konkurrenz zwischen
Vater und Sohn in der psychodynamischen Entwicklungsgeschichte des
Vaters wurzelt und nicht im Rivalisieren des Sohnes mit dem Vater
um die Mutter. Aus dieser Sicht ist die Gewalt der Söhne eine
Reaktion auf die Gewalt der Väter.
Wie die Mythen, die von der Gewalt der Väter gegen ihre Söhne
handeln, finde sich Ähnliches auch hinsichtlich des
Vater-Tochter-Inzests. Viele Beispiele im mythologischen Material
wiesen auf den Vater als initialen Verführer und stellten die
Tochter als Erdulderin sexueller Gewalt dar. In der Freud’schen
Theorie stand der phallische Monismus Pate bei der
Kastrationskomplex-Penisneid-Hypothese, die davon ausgeht, dass das
ödipale Begehren der Tochter, die sich penislos in ihrer genitalen
Anatomie vernachlässigt wähne, sich auf den Vater richte und das
Rivalisieren mit der Mutter um den Vater auslöse. Zwar koinzidiert
auch Freud die sexuelle Attraktion, die für den Vater von der viel
jüngeren Tochter ausgehe und den damit verbundenen leicht
aktivierbaren Neid der Mütter, arbeitet die elterliche Aktivität am
ödipalen Drama der Tochter ab dennoch nicht aus. Diese väterliche,
individuell durch die eigene ödipale Problematik bestimmte
Beziehung zu der Tochter rücken die Autoren in den Fokus der
Betrachtung, die auch auf die Ausbildung einer heterosexuellen oder
homosexuellen Orientierung ausgedehnt wird.
In der Diskussion des Stücks »Ödipus auf Kolonos« begründen die
Autoren ihre Sichtweise, die darauf hinausläuft, dass sich Ödipus
dort auf die Wahrheit zubewegt, nicht von ihr weg (wie viele
Interpreten aus psychoanalytischer Sicht behaupten): Ödipus gewinne
nämlich sein Augenlicht zurück und erkenne, was die Ödipusmythen
offenbaren. Im Streit mit Kreon führt Ödipus aus, dass er Vatermord
und Inzest unbeabsichtigt erlitt und Jokaste ihm »sich zur Schande
Kinder schenkte« (Zepf et al., S. 111). Pointiert wird formuliert,
dass dies die Interpreten hätten bemerken können, wäre das »Joch
des Freud’schen Ödipuskomplexes« abgeschüttelt worden und hätte man
sich dem Text unvoreingenommen zugewandt.
Die Schlussfolgerungen für das Verständnis der ödipalen Situation.
Die Autoren argumentieren, dass im Licht der Mythen betrachtet,
Sophokles’ König Ödipus nicht »als eine Geschichte über die
Enthüllung, sondern als eine Geschichte über das Verhüllen von
Wahrheit, als eine ›cover story‹, welche die Unschuld der Kinder an
der ihnen eigenen ödipale Problematik verdeckt…Die Verantwortung
für den Ödipuskomplex war auf das Kind verlagert ...[aber] Er
[Ödipus] hatte keinen Ödipuskomplex« (S. 101, 112). Eine neuere
psychoanalytische Literaturbetrachtung (Rand, 2001), die sich eng
am sophokleischen Text orientiert, kommt zu vergleichbaren
Schlussfolgerungen, die darauf hinauslaufen, dass der Komplex des
Ödipus der Komplex seiner Eltern sei, da er Inzest und Vatermord
hätte entgehen können, wäre sein Leben nicht von einer Kette strikt
gehüteter Geheimnisse überschattet gewesen, um deren Enthüllung er
sich bei anderen (nicht bei sich selbst durch Überwindung seiner
Verleugnung und Verdrängung von Offensichtlichem) wiederholt
vergeblich bemühte. Vor diesem Hintergrund ist Ödipus’ Unglück
nicht mehr seiner schicksalhaften Verstrickung in Schuld
zuzuschreiben, sondern wurzelt in den inneren Konflikten des Vaters
und der Mutter. Diese setzen das Unglück in Gang.
Die Autoren eröffnen einen bislang so nicht ausgearbeiteten, weiten
Blickwinkel, der über den klassischen psychoanalytischen Begriff
des Ödipus-Komplexes hinausgeht. Sie erschließen neue Dimensionen
im Verständnis der ödipalen Situation, der weichenstellenden
psychischen Dynamik zwischen Eltern und Kindern: Die Vorstellung,
dass die Kinder mit Vater bzw. Mutter in Konkurrenz um den anderen
Elternteil treten, wie es der klassischen Auffassung entspricht,
wird in Frage gestellt zugunsten einer Auffassung, dass es doch
auch Vater und Mutter sein könnten, die mit dem Kind um die Frau
bzw. den Mann kämpfen. Wichtig ist festzuhalten, dass vor diesem
Hintergrund das Elternverhalten nicht auf das
reiz-reaktionsbedingte In-Gang-Setzen einer biologischen
Programmierung zurückzuführen ist, für die niemand etwas kann,
sondern dass die Sichtweise der Autoren der ödipalen Situation die
Subjektivität (zurück-)gibt. Die bedeutsamen klinischen
Implikationen, vor allem für das Verständnis des
Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen und des transgenerationalen
Erbes, liegen auf der Hand.
Als Fazit führen die Autoren aus, dass das Kind im Spannungsfeld
der Ödipalität beider Eltern »im Zentrum widersprüchlicher
Interessen steht«: Die ödipale Problematik der Mutter, die durch
ihren Mann, den Vater der Tochter aktualisiert wird, löst das
Rivalisieren mit der Tochter aus. Und das väterliche Rivalisieren
mit dem Sohn beruht auf der ödipalen Problematik des Vaters.
Vor diesem Hintergrund beantworten die Autoren die eingangs
gestellte Frage, warum Freud die Anteile der Eltern aus der
Erörterung der Neurosenätiologie ausblendete so, dass damit die
Eltern exkulpiert waren: Sie traf keine Schuld. Auf mögliche Bezüge
zu Freuds Mutter- und Vaterbild als Sohn, soweit es aus den
Dokumenten seiner Selbstanalyse (Bohleber, 2006) bekannt ist, gehen
die Autoren ein. In seiner Selbstanalyse gibt Freud der Mutter
wenig Bedeutung für die eigene Entwicklung. Stattdessen fokussiert
Freud die ödipale Situation mit dem Vater. Darin lag vermutlich ein
wesentlicher Grund dafür, dass in der psychoanalytischen
Theorienbildung der doch prägende Einfluss der Mutter lange keine
adäquate Beachtung gefunden hat.
Im dritten Kapitel, das einen besonderen Stellenwert hat, folgt die
Auseinandersetzung mit den Mythen um Laios und Jokaste, die
Aufschluss geben können darüber, warum Freud wohl die Bedeutung der
Neurosen der Eltern bei der Entstehung des Ödipuskomplexes
vernachlässigt hat. Aus der sich daran anschließenden
Gegenüberstellung der Freudschen Auffassung und der
vernachlässigten Aspekte in der Ödipus-Mythologie im vierten
Kapitel entsteht die Basis für ein neues Verständnis der so
grundlegenden Dynamik zwischen Eltern und Kind, die reiche
klinische Räume eröffnet, insbesondere auch hinsichtlich des
vernachlässigten Verständnis für die weibliche Entwicklung aus
psychoanalytischer Sicht.
Es ist aber genau dieser Blick auf die ödipale Situation, der nicht
nur die psychoanalytische Theorienbildung bereichert, sondern in
seiner klinischen Umsetzung reiche Früchte tragen dürfte. Ein
wesentlicher Orientierungspunkt ergibt sich vor allem dadurch, dass
als Lösung des ödipalen Konflikts die Selbstfindung der Väter und
Mütter erscheint, vornehmlich die Findung der unbewussten Anteile,
wofür die Psychoanalyse wieder der Ort der Wahl wäre.
Die klinische Relevanz. Der Stellenwert der ödipalen Frage für die
klinische Arbeit ist kaum hoch genug einzuschätzen, sind damit doch
solch grundlegende psychische Dimensionen berührt wie die Fähigkeit
zur Dezentrierung, der Affektregulation, insbesondere der von
Wut-Hass-, Neid- und Grollgefühlen, der Entwicklung der
Geschlechtsidentität, der Fähigkeit mit Autorität adäquat umgehen
zu können, sowie Fähigkeit zur Autonomie und Selbstverantwortung zu
entwickeln. Die Autoren geben dem Ödipuskomplex aber darüber hinaus
die psychosexuelle Dimension zurück, die dieser insbesondere im
neo-kleinianischen Konzept der Triangulierung verloren hat (Britton
et al., 2013). Die psychischen Aspekte des Ödipus-Komplex, die aus
dem Blickwinkel des Buchs nahe liegen, stehen in direktem
Zusammenhang mit drängenden Problemen unserer Zeit, wie der
Tatsache, dass in Europa jedes fünfte Kind sexuelle Gewalt erlebt
(zumeist im familiären Kontext) oder der extremen Gewalt in
gesellschaftlichen Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund eröffnet
das Buch weite Horizonte für behandlungstechnische Konsequenzen,
wie das Verständnis des zentralen
Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen. Auch nicht
psychoanalytisch arbeitende KollegInnen dürften von der Lektüre
profitieren, werden doch grundlegende Dimensionen psychischer
Entwicklung diskutiert, die Gegenstand aller psychotherapeutischen
Verfahren sind. Warum die Autoren keine eigene klinische Erfahrung
als dem zentralen Erkenntnisort der Psychoanalyse, mit dem
revidierten Ödipuskonzept in die Diskussion einbringen, bleibt eine
offene Frage, wäre aber eine wünschenswerte Perspektive.
Literatur
Bohleber, W. (2006) Zur Aktualität von Sigmund Freud – wider das
Veralten der Psychoanalyse. Psyche, 60, 783-797
Britton, R., Feldman, M. & Steiner, J. (2013) Groll und Rache in
der ödipalen Situation. Frankfurt: Brandes & Apsel
Devereux, G. (1953) Why Oedipus killed Laius- A note on the
complementary Oedipus complex in Greek drama. International Journal
of Psychoanalysis, 34, p. 132-141
Freud, S. (1986) Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Frankfurt:
Fischer
Freud, S. (2010) Über Psychoanalyse. Gesammelte Werke. Bd. 8, Werke
aus den Jahren 1909-1913. Frankfurt: Fischer
Fromm, E. (1990) Märchen, Mythen, Träume. Hamburg: rororo
Horkheimer, M. & Adorno, T. (1944; 1987) Max Horkheimer, Gesammelte
Schriften, Band 5, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt: Fischer, S.
13-290
Kerényi, K. (2003) Die Mythologie der Griechen. München: dtv
Rank, O. (2010; 1912) Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage:
Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens. Classic
Edition
Ranke-Graves, R.v. (2001) Griechische Mythologie. Hamburg:
rororo
Vogt, R. (1989) Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung.
Frankfurt: Fischer
Zepf, S.; Zepf, F.D., Ullrich, B. & Seel, D. (2014) Ödipus und der
Ödipuskomplex. Gießen: Psychosozial-Verlag