Rezension zu Die Schutzbefohlenen
HEP-Informationen 3/2014 (Berufsverband Heilerziehungspflege in Deutschland)
Rezension von Dr. Ulf-Henning Janssen
Die Schutzbefohlenen
Das Thema beschäftigt uns seit Jahren – und ein Ende scheint nicht
absehbar. Immer wieder neue Enthüllungen über Misshandlungen und
Missbräuche in staatlichen, kirchlichen und privaten Einrichtungen
sind Ausdruck des immer möglichen Machtmissbrauchs in der
Pädagogik. Hochkarätig besetzte »Runde Tische« diskutieren die
Thematik und mögliche Reformen. Abschlussberichte werden feierlich
überreicht und Politiker erklären, derartiges dürfe sich nie mehr
wiederholen. Wen wundert es da, wenn mancher Zeitgenosse meint, nun
müsse doch mal Schluss sein, es wäre genug geredet und
Entschädigungen seien ja auch gezahlt worden.
Auf den ersten Blick vielleicht eine verständliche Reaktion –
spätestens aber, wenn man genauer hinschaut und die
Einzelschicksale betrachtet, wird klar: Es gibt keinen
Schlusspunkt. Die Betroffenen leiden ein Leben lang unter dem
Erlittenen und ein Schweigen jetzt wäre nichts anderes als eine
Wiederholung der Tortur. Damals hatte bekanntlich eine ganze
Gesellschaft geschwiegen und weggesehen. Wie aber kann man sich
jenseits aller reißerischen Berichte in manchen Medien ein Bild vom
Innenleben der Opfer verschaffen, wie verstehen, was ihnen geschah
und was es aus ihnen machte? Bruno Preisendörfer, selbst Zögling
eines Benediktiner-Internats und Betroffener, hat dieses Wagnis
versucht – und es ist ihm großartig gelungen. Herausgekommen ist
sein Roman »Die Schutzbefohlenen«, der am Beispiel einiger Schüler
und Lehrer eines Internats zeigt, wie seelische Demütigungen,
sexuelle Übergriffe und rituelle Bestrafungen innerhalb eines
undurchschaubaren Beziehungsgeflechts zwischen Lehrern und Schülern
sowie Lehrern aber auch Schülern untereinander an der Tagesordnung
sind. Erving Goffman, der amerikanische Soziologe, drängt sich auf
mit seinem Begriff der »totalen Institution«. In diesem Roman wird
dieser alte, längst überwunden geglaubte Terminus mit neuem Leben
gefüllt.
Und dem Fachmann unter den Lesern wird durchaus bewusst, dass all
das gar nicht so weit weg ist, dass – mag das Buch Geschehnisse
behandeln die vor fünf Jahrzehnten passierten – die Thematik heute
ebenso brisant ist. Nur allzu lieblich schmeckt das süße Gift der
Macht, das der Pädagogik innewohnt. Mag der Autor auch selbst Opfer
sein, schafft die von ihm gewählte Romanform die notwendige
Distanz, die verhindert, dass aus einem solchen Buch eine reine
Anklage oder pures Selbstmitleid wird. Allerdings erklärt
Preisendörfer auch, die Personen seien frei erfunden, die
Handlungen jedoch nicht ganz. In brutaler Klarheit zeigt dieser
Roman, zu welchen Exzessen Menschen fähig sind – selbst dann, wenn
es Schutzbefohlene sind. Er belegt aber auch, welche Grausamkeiten
unter dem Deckmantel der Fürsorge und Erziehung gedeihen können.
Und nicht zuletzt zeigt der Autor, dass die Betroffenen niemals
frei werden von dem Erlebten; das »danach« keine Normalität mehr
möglich ist.
Es ist ein sehr lesenswertes Buch, das den Betroffenen eine Stimme
gibt, den Professionellen in Erziehung und Betreuung eine stete
Mahnung sei und allen übrigen Lesern vermitteln möge, dass wir –
auch wenn wir Aufgaben an Institutionen abtreten – doch ganz genau
hinschauen sollten, was da passiert. Wir alle tragen immer
Mitverantwortung, auch wenn wir meinen, es seien ja Fachleute, die
schon wüssten, was gut und richtig ist.
Dr. Ulf-Henning Janssen
www.berufsverband-hep.de